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Essay

Zusammenarbeit im Geist der europäischen Integration

von Hélène Kohl

Die deutsch-französischen Beziehungen (2005-2021)

Während Ihrer 16-jährigen Amtszeit als Bundeskanzlerin hatte Angela Merkel Gelegenheit, mit der Hälfte der Präsidenten der Fünften Republik zusammenzuarbeiten. Trotz unterschiedlicher Politikstile und über manche Differenzen hinweg blieb das deutsch-französische Tandem dabei stets ein stabiles Arbeitsbündnis. Der "Vertrag über die deutsch-französische Zusammenarbeit und Integration", kurz Vertrag von Aachen, vom 22. Januar 2019 markierte schließlich einen neuen Höhepunkt der bilateralen Beziehungen.

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Wie gestaltet man die deutsch-französischen Beziehungen, wenn man nach einer Ära der großen Gesten antritt? Als Angela Merkel 2005 das Kanzleramt übernahm, waren alle symbolischen Schritte bereits getan: Freundschaftsvertrag, Umarmungen, gemeinsame Sitzungen der Parlamente und Ministerräte. „Franzosen und Deutsche hatten die grundlegenden Freundschaftsakte schon vollzogen und darüber hinaus hatte die deutsch-französische Versöhnung Merkels Jugend nicht geprägt, denn im Gegensatz zu den politischen Führungspersönlichkeiten aus dem Westen hatte sie ihre Jugend hinter der Mauer verbracht“, merkte einer ihrer früheren Berater an. Der ausgeprägte Pragmatismus der Kanzlerin verdichtete alles auf die Fakten. Als überzeugte Europäerin wusste sie um die Bedeutung des Einvernehmens und der engen Zusammenarbeit mit Paris. Folglich pflegte und vertiefte sie – getreu ihrem Stil – die deutsch-französischen Beziehungen durch Arbeit.

Selbst bei gründlicher Suche findet man keine großen Erklärungen, die in die Geschichte eingingen, keine Bilder für die Nachwelt, wie das von Helmut Kohl und François Mitterrand bei ihrer Begegnung in Verdun 1984. In Erinnerung bleiben Eindrücke wie das gemeinsame Ankommen bei Gipfeltreffen, informelle Augenblicke am Rande bilateraler Zusammenkünfte, ein Händedruck nach einer Pressekonferenz vor den Fahnen – ganz so, als ob das Bild, das Angela Merkel hinterlassen wollte, das einer Arbeitspartnerschaft wäre. In Deutschland ist übrigens der Ausdruck „deutsch-französischer Motor“, der auf die Welt der Industrie und der Effizienz Bezug nimmt, gebräuchlich, während die Franzosen gern von einem „Paar“ träumen – mit allen dazu gehörenden Emotionen.

Und doch gibt es eine Ausnahme: Nach den Attentaten auf die Zeitschrift Charlie Hebdo und den Supermarkt Hypercasher im Januar 2015 kommt Angela Merkel zum großen Trauer- und Solidaritätsmarsch durch die Straßen von Paris. Kurz davor hält ein Fotograf sie auf der Treppe des Elysée-Palastes mit François Hollande im Bild fest, beide dunkel gekleidet und mit ernsten Gesichtern. Für einen kurzen Moment neigt die Deutsche mit geschlossenen Augen in einer spontanen und weichen Geste der Besinnung und des Trostes dem Franzosen die Stirn zu. Frankreich ist erschüttert und sieht: Deutschland ist an seiner Seite. Der Rest der Welt natürlich auch, aber, wie die französische Journalistin Marion Van Renterghem in ihrer viel beachteten Biographie C’était Merkel (Verlag Les Arènes, 2021) enthüllt, Angela Merkel brauchte keine Einladung, um als Erste ihre Teilnahme am Marsch in Paris anzukündigen. Sie sprach mit François Hollande sehr schnell darüber, und er antwortete ihr nach kurzem Zögern: „Angela, du weißt, wenn du kommst, kommen alle anderen auch“. Letztlich sollten sechzig Länder vertreten sein.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass diese Momentaufnahme, die die Einzigartigkeit der deutsch-französischen Beziehungen perfekt veranschaulicht, Angela Merkel ausgerechnet mit dem von ihr sicher am wenigsten geschätzten französischen Präsidenten zeigt. Sie hat mit der Hälfte der Präsidenten der Fünften Republik zusammengearbeitet. Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy, François Hollande und Emmanuel Macron: vier politische Richtungen, vor allem aber vier unterschiedliche Persönlichkeiten, mit denen sie sich zusammenfinden musste, um den Herausforderungen der Zeit zu begegnen. Die sechzehn Jahre der Kanzlerschaft Merkels sind sechzehn Krisenjahre. Zur Lösung der Krisen jedoch muss man zuallererst mit dem Chef im Elysée-Palast gut auskommen.

 

Beginn einer neuen Epoche

Der Luxemburger Jean-Claude Juncker zögert keinen Augenblick, wenn er nach dem prägenden Bild der sechzehn deutsch-französischen Jahre Angela Merkels gefragt wird. „Ein kleiner, fast sentimentaler Moment. Merkel hat auf eine sehr herzliche Art und Weise Chirac verabschiedet, als er aus der französischen Präsidentschaft ausschied. Das war sehr beeindruckend“, erinnert sich der Luxemburger. Der Unterschied im Alter und in der politischen Erfahrung kennzeichnet von Anfang an das Verhältnis zwischen ihr, die man noch allzu oft als das „Mädchen“ sieht, und dem alten Fuchs der französischen Politik. „Trotzdem gibt es kein Ungleichgewicht, denn nach dem Nein beim Referendum zur Europäischen Verfassung hat Frankreich auf europäischer Ebene nicht mehr viel anzubieten“, bemerkt ein früherer Berater von Nicolas Sarkozy. Nach der Verabschiedung Chiracs beginnt eine neue Epoche. „Deutsch-französische Beziehungen? Naja, wir haben das Ganze mal ein bisschen entkrampft“, schreibt dieser Mann in dem direkten und familiären Ton, den sein Chef im Elysée eingeführt hatte. Die Beziehungen waren leicht eingestaubt, eingezwängt zwischen der Notwendigkeit, den fast mythischen Gestalten der deutsch-französischen Aussöhnung Respekt zu zollen, und der Angst, die Erinnerungen und die Menschen zu brüskieren.

 

Das Aufkommen von Smartphones und SMS-Kommunikation stellt die Regeln der Beziehungen zwischen Paris und Berlin auf den Kopf. „Sarko und Merkel haben die ganze Zeit miteinander geredet, oft auch ohne Wissen ihrer Berater. Manchmal war das ein echter Alptraum für ihre Büros“. Vor allem, da die beiden Regierungschefs nicht unmittelbar eine Vertrauensbeziehung aufbauen. Während des Wahlkampfs hatte Nicolas Sarkozy durchaus einmal karikierende Worte für Deutschland und seine Vergangenheit gefunden. Er hat nicht viel übrig für den nüchternen und arbeitsamen Stil der Kanzlerin. Im Gegenteil, der „Duracell-Präsident“ macht Politik mit viel Gestikulieren und lauter Stimme. Angela Merkel ist genervt. „Zur Sache, Nicolas!“, weist sie ihn während einer Pressekonferenz in Meseberg im Herbst 2007 zurecht.

Die Anfänge des Duos gestalten sich schwierig und sind von echter „Rivalität“ geprägt. Dieser Begriff taucht immer wieder auf. „Es gab einen Kampf um die Führung in Europa“, berichtet einer der Schlüsselzeugen dieser Zeit, der den französischen Präsidenten auf allen seinen Reisen in Europa begleitete. Die Finanzkrise im Jahr 2008 verstärkt diese Rivalität, die Nicolas Sarkozy im November angriffslustig in der Bemerkung zusammenfasst „Frankreich handelt, Deutschland denkt nach“. Als die Fragilität der deutschen Banken offen zutage tritt, ergreift Berlin jedoch die ausgestreckte Hand der Franzosen und akzeptiert, sich fortan stärker um Resilienz für die Eurozone zu bemühen. „Die Verbindung Merkel-Sarkozy ist eine Zweckgemeinschaft, sie sind gezwungen, miteinander klarzukommen und Kompromisse zu finden. Sie sind wie zwei Schachspieler mitten in einer Höllenpartie, bei der alle Welt zuschaut“, schreibt Catherine Nay, Journalistin und Biographin Sarkozys.

 

„Merkozy“

Es ist die Geburtsstunde des Phänomens „Merkozy“. Ronan Le Gleut, Senator der Republikaner und Präsident der Freundschaftsgruppe Frankreich-Deutschland im Sénat  stellt fest: „Es ist der Höhepunkt der letzten sechzehn Jahre. Nie zuvor hat man eine Bezeichnung für das Verhältnis Merkels zu den anderen Präsidenten gefunden; dieses Wort konnte nur entstehen und existieren, weil es auf einer Realität beruhte. Die beiden hielten zusammen.“ Zum damaligen Zeitpunkt war das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen beiden Ländern viel weniger ausgeprägt als heute; die beiden Mächte ergänzten sich.

„Es war faszinierend, sie zusammen zu sehen. Man konnte zwei politische Raubtiere beobachten, zwei Killer. Wenn sie eine Einigung erzielten hatten, entspannten sie sich bei einem Glas Wein und der Präsident sagte zu Merkel: »Angela, eigentlich bist du noch böser als ich «, und sie lachte“, erinnert sich ein Zeuge in Brüssel. Das Prozedere war immer gleich: vor jedem Gipfeltreffen bereiteten Deutschland und Frankreich zusammen das Terrain vor. Wenn ein bilaterales Treffen im Vorfeld nicht möglich war, fanden die Gespräche in den Büros der Delegationen statt, „und zwar so, dass beide, der Präsident und die Bundeskanzlerin, zu spät in die Sitzung kamen, was sehr zur Verärgerung aller anderen beigetragen hat“, ärgerte sich Jean-Claude Juncker. Damals sprach er eine Warnung aus: das Bild, das dieses schrecklich effiziente Duo nach außen abgebe, sei verheerend. Er fasst es noch heute mit den Worten zusammen: „Wenn die anderen nicht mit an Bord sind, hat auch der deutsch-französische Motor Aussetzer.“

Als im Übrigen Sarkozy 2012 das „Modell Deutschland“ zu einem der Pfeiler seiner Wahlkampagne macht, fühlen sich die Franzosen von dieser Obsession abgeschreckt: seine Wiederwahl misslingt. Wohl hatte Angela Merkel zugestimmt, im französischen Fernsehen ein gemeinsames Interview mit dem Präsidenten zu geben, um ihn zu unterstützen. Es ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei der die Kanzlerin von ihren strengen Grundsätzen abweicht – und es erweist sich als Fehlkalkulation. Das Merkozy-Tandem, das doch entscheidend zur Lösung der globalen Krisen beigetragen hat, führt sie hier auf ein Terrain, das sie nicht gut beherrscht: zu viel Emotion, das ist nicht ihr Stil.

 

Enttäuschende Jahre

Bei ihrem ersten Gespräch am 15. Mai 2012 schlägt François Hollande ihr einen unerwarteten Deal vor. „Das Merkozy-Direktorium hat Europa fragmentiert, auch wenn ich verstehe, dass es gegenüber den Märkten notwendig war. Wir müssen weiterhin eng zusammenarbeiten, aber es muss diskreter geschehen, und die Ergebnisse müssen den europäischen Institutionen zugutekommen.“ Arbeit und mehr europäische Integration: die Kanzlerin ist sofort einverstanden. Dieses Treffen in Berlin steht allerdings unter einem schlechten Vorzeichen. Beim Start in Paris wird das Flugzeug des Präsidenten vom Blitz getroffen und muss umkehren. „Alle in der Maschine waren sehr angespannt. Es gab viel Besorgnis vor dieser Reise“, gesteht ein Mitglied der französischen Delegation. Vor der Wahl François Hollandes waren die beiden Regierungschefs nie miteinander in Kontakt. Alles muss neu aufgebaut werden.

In der Gesamtbilanz ist festzustellen, dass die fünf Amtsjahre Hollandes aus Berliner Sicht sehr enttäuschend waren. „Der Appetit auf Fortschritte in den deutsch-französischen Angelegenheiten war nicht sehr groß“, meint ein früheres deutsches Regierungsmitglied im Buch des Journalisten Nicolas Barotte François et Angela (Grasset, 2015). „Selbst Ayrault konnte nicht überzeugen“, sagt ein deutscher Diplomat über den deutschsprachigen und deutschfreundlichen Premierminister. „In Deutschland hatte man den Eindruck, dass die europäischen Anliegen François Hollandes stärker von den Interessen seiner politischen Familie bestimmt wurden als von den deutsch-französischen Beziehungen.“ Trotz des Schocks der Terrorismusjahre bringt Paris Jahr für Jahr einige strukturelle Reformen voran, aber das wirtschaftliche und haushaltspolitische Ungleichgewicht vergrößert sich. 2013 geht Angela Merkel in ihre dritte Amtszeit, gestärkt durch ein historisches Wahlergebnis zugunsten ihrer Partei. Ihre Position ist nun unanfechtbar, während Hollande ins Schleudern gerät. Als sie die Entscheidung trifft, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, folgt Frankreich ihr nicht. Aus Paris kommt nur halbherzige Unterstützung – eine Enttäuschung mehr.

In der Dringlichkeit der Krisen jedoch nähern sich Angela Merkel und François Hollande einander an. Pragmatismus ist angesagt. Der Journalist Nicolas Barotte beginnt sein Buch mit der Schilderung der Rettung Griechenlands, als im Sommer 2015 „alles auf europäischer Ebene Unausgesprochene zwischen Merkel und Hollande ans Tageslicht kommt.“ Die Spannung zwischen Paris und Berlin ist auf dem Höhepunkt, obwohl die Regierungschefs doch ständig Seite an Seite gearbeitet haben, sich ständig angerufen und sich zu jeder Tageszeit per SMS ausgetauscht haben. Zu diesem Zeitpunkt ist Jean-Claude Juncker Präsident der Europäischen Kommission: „Das hat große Mühe gekostet, die Deutschen davon zu überzeugen, dass man nicht vorübergehend Griechenland aus der Eurozone ausschließt. Frankreich hat diese Position nie geteilt. Es gibt, neben dieser fundamentalen Linie, Deutschland und Frankreich müssen zusammenarbeiten zugunsten der EU, schon erhebliche Divergenzen“. In den Sitzungen des Rates kann man bisweilen spüren, dass Angela Merkel kurz davor ist, aufzustehen und den Raum zu verlassen. François Hollande schafft es, den Dialog immer offen zu halten. Bei anderen Themen ist die Situation umgekehrt. Nach der russischen Invasion der Krim ist es die Kanzlerin, die die Diskussionen aus geographischen und historischen Gründen in die Hand nimmt. Zusammen fädeln sie letztendlich ihren besten Coup ein: die Organisation einer Zusammenkunft zwischen dem russischen und dem ukrainischen Staatschef am Rande der Feierlichkeiten anlässlich des Jahrestags der Landung der alliierten Truppen in der Normandie.

 

Wiederaufleben der deutsch-französischen Dynamik

2017 wird in Frankreich wieder ein neuer Präsident gewählt. Emmanuel Macron hat die Fehler seines Vorgängers nicht wiederholt: er hat gute Kontakte nach Deutschland, insbesondere dank seines neuen Wirtschafts- und Finanzministers Bruno Le Maire, der vor seiner Berufung in die Regierung noch von den Republikanern in die Partei des neuen Präsidenten gewechselt hatte. Le Maire ist in der CDU gut bekannt; er hat die Jahre in der Opposition genutzt, um sein Netz auszubauen. „Von Beginn der Amtszeit des Präsidenten an war eine deutsch-französische Dynamik zu spüren. Das war sehr wichtig für die allgemeine Arbeitsatmosphäre“ fasst Charles Sitzenstuhl, ein politischer Berater Le Maires bis 2021, zusammen.

„Die Deutschen waren von Anfang an fasziniert von der Person Emmanuel Macron“ sagt Eileen Keller, Forscherin am DFI (Deutsch-Französisches Institut in Ludwigsburg). Aber es gibt schon gleich ein Missverständnis, wie ein früherer Berater Angela Merkels aus der CDU anmerkt: „Die Rede an der Sorbonne ist schön, flammend, sehr französisch! Aber sie ist nicht deutsch-französisch!“ „Wenn Frankreich auf diese Art und Weise in die Offensive geht, fragt man sich immer, welche Gedanken eigentlich dahinterstecken. Auch heute noch ist das Misstrauen nicht vollständig verschwunden“, gibt man im Auswärtigen Amt unumwunden zu. Hinzu kommt, dass der Zeitplan für die Wahlen und die Verhandlungen der Großen Koalition einer schnellen Antwort aus Berlin entgegenstehen. „2018 – was für ein trauriges Jahr!“ fasst die Forscherin und Analytikerin Sophie Pornschlegel vom European Policy Centre in Brüssel zusammen, „entweder die Deutschen wussten nicht, was sie Paris antworten sollten, oder sie dachten, man könne noch abwarten.“ Charles Sitzenstuhl geht sogar noch weiter: „Beim Thema Besteuerung der Digitalkonzerne auf europäischer Ebene hat es gedauert, bis wir verstanden haben, dass die Deutschen das eigentlich nicht wollten. Sie haben nur der Form halber mitgemacht, und das ist noch milde ausgedrückt.“

 

Aber mit Emmanuel Macron bringt Angela Merkel wieder Glanz in die deutsch-französischen Beziehungen. Sie weiß, dass sie nicht mehr kandidieren wird, und gestattet sich ein sanfteres Image; sie zeigt sich in sehr persönlichen Momenten mit den Franzosen, wie anlässlich der Feierlichkeiten zum Hundertjährigen Jahrestag des Ersten Weltkrieges. Durch ihren Umgang mit der Flüchtlingskrise hat sie in Teilen der französischen Bevölkerung Respekt gewonnen. „Sechzehn Jahre lang war sie eine unveränderliche, beruhigende Konstante, während Frankreich in der Politik ständig Kurswechsel vollzog“, meint ein früherer enger Mitarbeiter Nicolas Sarkozys. Ausgerechnet sie, die die deutsch-französischen Beziehungen auf Arbeit und gemeinsames Wirken gegründet hatte, versteht nun, dass diese einzigartige Partnerschaft auch durch neue Symbole getragen werden muss. Es genügt nicht mehr, dass einer dem anderen ein zuverlässiger und korrekter Mitarbeiter ist. Was ist der Auslöser? Zweifellos der internationale Kontext. „Ich war bei der ersten Sitzung im Kanzleramt nach der Bekanntgabe der Ergebnisse des Brexit-Referendums dabei: es herrschte eine gespenstische Stimmung und ein Gefühl der Panik breitete sich aus“, erzählt einer der Schlüsselzeugen auf deutscher Seite. Für Angela Merkel stehen das europäische Erbe, das Versprechen der Einheit und der Integration auf dem Spiel.

 

„Kein Partner ist näher.“

„In diesem Moment haben wir alle den Vertrag von Aachen unterschätzt“, gesteht Sophie Pornschlegel, für die die Unterzeichnung des neuen Freundschaftsvertrages am 22. Januar 2019 den Höhepunkt dieser sechzehn Jahre darstellt. Die Initiative war von Frankreich ausgegangen, aber das Büro der Kanzlerin hatte die Organisation übernommen. „Die Wahl des Ortes ist kein Zufall, denn er steht für unsere gemeinsame Vergangenheit“, unterstreicht der konservative elsässische Abgeordnete Patrick Hetzel. Seiner Auffassung nach „hat der Text der deutsch-französischen Beziehung einen neuen Anstoß gegeben, er hat sie neu interpretiert.“ Der Elysée-Vertrag, der 1963 die Aussöhnung besiegelte, war sehr allgemein gehalten, wohingegen der in Aachen unterzeichnete Text sehr detailliert ist und weit über den bilateralen Rahmen hinausgeht. „Dieser Text soll ganz Europa voran bringen“, erklärt einer seiner Verfasser auf deutscher Seite. Er bedient sich der Metapher des Tandems: „Deutsche und Franzosen treten gemeinsam in die Pedale, in die gleiche Richtung, aber ein Land hat jeweils den Lenker in der Hand. Manchmal tritt einer schneller als der andere. In Paris hat man immer große Ideen, wohin der Weg führen soll. Berlin, unter Merkel, achtet hingegen immer darauf, dass die Maschine gut geölt ist und die Bremsen funktionieren, bevor man sich auf den Weg macht. Jedes kleine Rädchen zählt“. Natürlich streitet man sich in den beiden Hauptstädten darüber, wer den Lenker hält. Die Franzosen leiden unter der wirtschaftlichen Macht und der Regierungsstabilität in Berlin, die Deutschland beispiellose Macht auf dem Kontinent verleihen. Die Deutschen weigern sich, einzusehen, dass sie de facto seit 2005 eine unbestreitbare Führungsrolle einnehmen.

Der Vertrag von Aachen sieht für die Grenzregionen einen Integrationssprung vor und erweitert die Kooperationsbereiche der Zivilgesellschaften. „Die Annäherung der Völker hat sich während der Amtszeit Merkels ganz natürlich entwickelt“, sagt Senator Ronan Le Gleut. Die Gründung des deutsch-französischen Bürgerfonds sowie die deutsch-französische parlamentarische Versammlung bringen auf vielen Ebenen den Dialog wieder in Gang. „Wir geben keine großen Erklärungen ab, sondern machen Realpolitik, indem wir uns um konkrete Probleme kümmern“, bestätigt Patrick Hetzel. Eisenbahnstrecken, medizinischer Austausch… Zwar lernt man wieder weniger die Sprache des Partners, aber man spricht mehr miteinander. „Die deutschen Kollegen sind die einzigen, mit denen wir als erstes immer die Handy-Nummern austauschen“, bestätigt Charles Sitzenstuhl. „Ja, wir reden Klartext“, bekräftigt ein deutscher Berater und fügt hinzu: „eigentlich fetzen wir uns am meisten mit den Franzosen, weil wir ständig intensiv miteinander reden. Kein Partner ist näher.“

Durch die Covid-19-Pandemie werden kurz vor dem Ausscheiden der Kanzlerin die Karten neu gemischt. Zuerst werden die Grenzen geschlossen. „Ich höre heute noch die Stimme des Abgeordneten aus Baden-Württemberg, der mich anrief, um mich vorzuwarnen; er war sehr betroffen, mir das mitteilen zu müssen“, erzählt Patrick Hetzel. Letztendlich denkt er, dass Franzosen und Deutsche aus der Krise etwas Positives gelernt haben. Charles Sitzenstuhl und Bruno Le Maire sitzen bei den Verhandlungen über das Europäische Konjunkturprogramm in der ersten Reihe. „Im Grunde ihres Herzens waren sich die Deutschen bewusst, dass sie mit Frankreich zu hart umgegangen waren. Das hat man uns in Merkels Umfeld zu verstehen gegeben.“ Ronan Le Gleut, der zwar in Frankreich in der Opposition ist, verteidigt das Europäische Konjunkturprogramm im Senat: „Es gab einen Abgleich unserer Interessen“. Und, wie ein deutscher Diplomat anmerkt, das zeigt doch, dass Europa ein Erfolgsmodell ist. „Unsere Interessen sind so miteinander verwoben, dass wir uns nicht mehr den Rücken zukehren können.“ In Brüssel ist der Eindruck der gleiche: Während der Covid-Krise haben Deutsche und Franzosen öffentlich schlecht über einander geredet und trotzdem die ganze Zeit an einem historischen Integrationssprung gearbeitet.

Wie kann man also diese sechzehn Jahre resümieren? „Angela Merkel ist eine überzeugte und leidenschaftliche Europäerin mit festen Grundsätzen. Sie hat immer darauf geachtet, dass die Grundprinzipien Europas gewahrt wurden“, fasst Ronan Le Gleut zusammen. In diesem Geist hat sie an den deutsch-französischen Beziehungen gearbeitet. Wenn Frankreich gepusht hat, um die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union weiter zu entwickeln, hat sie dem Zusammenhalt in der Union den Vorzug gegeben. Handlungsfähigkeit vs. Zusammenhalt.

Die Flitterwochen sind lange vorbei, auch die Zeit der Schmetterlinge im Bauch zwischen Frankreich und Deutschland gehört der Vergangenheit an, aber jetzt sind Kinder da, die Familie, das gemeinsame Unternehmen – das heißt, Europa – also bleibt man zusammen. „Wir sind die beiden gegensätzlichen Pole in Europa, aufgrund unserer Strukturen, unserer Geschichte, unserer geistigen Bezüge. Frankreich und Deutschland haben in allen Punkten Differenzen. Wenn man aber den Affekt beiseitelegen kann, ist ein gut verhandelter deutsch-französischer Kompromiss schon sehr nahe am perfekten europäischen Gleichgewichtspunkt“, heißt es im Elysée. Clément Beaune, Minister für Europäische Angelegenheiten, fasst es auf Englisch zusammen: „We agree to disagree.“

 

Hélène Kohl ist seit 2003 Berlin-Korrespondentin, unter anderem für die Dernières Nouvelles d'Alsace. Sie betreibt den Podcast  L'Allemagne après Merkel.

 

Der französische Originaltext wurde übersetzt von Brigitte Graf-Bunz.

 

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