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Proklamation des Deutschen Kaiserreiches in Versailles

von Hans-Christof Kraus
Die Proklamation des deutschen Kaiserreichs am 18. Januar 1871 begründete den damals kleindeutsch genannten deutschen Nationalstaat, der trotz aller zwischenzeitlichen Umbrüche im Kern noch immer existiert und als dessen heutiger Nachfolger die 1990 wiedervereinigte Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist. Deutschland gehörte, wie Italien auch, zu den „verspäteten Nationen“, die sich, im Gegensatz etwa zu Spanien, Frankreich und Großbritannien, erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts als einheitliches Staatswesen konstituieren konnten – und zwar erst nach Beseitigung mannigfacher Widerstände.

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Die Hindernisse, die einer früheren deutschen Nationalstaatsgründung entgegengestanden hatten, waren sehr vielfältig; drei seien hier besonders hervorgehoben: Erstens die geographische Lage des deutschen Siedlungsgebiets im Zentrum von Europa, mit weitgehend offenen Grenzen nach Westen, Norden und Osten – ein stets gefährdetes Durchgangsland, das nur schwer zusammenzuhalten war und seine Außengrenzen oft nur mangelhaft schützen konnte. Zweitens wurde Deutschland wie nur wenige andere Länder seit der Reformation durch die konfessionelle Spaltung geprägt; der Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten führte zu langen und schweren Konflikten und erwies sich über größere Zeiträume hinweg immer wieder als hemmender Faktor eines engeren politischen Zusammenschlusses. Und drittens schließlich scheiterten die am Ende des Mittelalters unternommen Versuche einer Reichsreform, die zu einer Stärkung der Reichsspitze, also des Kaisers und der obersten Reichsbehörden, hätten führen sollen. Deshalb blieb Deutschland zersplittert, politisch ein Flickenteppich, ohne starke Zentralmacht, dem Konkurrenzneid seiner regionalen Fürsten und Herrscherdynastien ausgeliefert.

Die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) verschlimmerte nur noch den Prozess einer sich fortsetzenden inneren Schwäche. Zwar gelang es im Westfälischen Frieden von 1648, die konfessionellen Gegensätze politisch zu entschärfen und Instrumente zur friedlichen Konfliktregelung zu etablieren, doch dies geschah auf Kosten einer Stärkung der zentrifugalen Kräfte im Alten Reich: Fürsten und Einzelstaaten erhielten nun sogar das Recht, eigenmächtig Bündnisse mit auswärtigen Ländern und Herrschern abzuschließen. Die Konkurrenz der beiden mächtigsten deutschen Dynastien, Habsburg und Hohenzollern, bestimmte seit dem 18. Jahrhundert die dauernden Konflikte innerhalb des Reichs, dessen zunehmende Schwäche am Ende dazu führte, dass Deutschland dem Ansturm der französischen Militärmacht unter Napoleon Bonaparte nicht mehr standhalten konnte: 1806 wurde das Reich aufgelöst, Deutschland zerbrach in seine Einzelteile.

 

1815: Gründung des Deutschen Bundes

Nach dem Ende der Fremdherrschaft über Deutschland wurde das Alte Reich nicht neu errichtet, sondern nur durch einen Staatenbund ersetzt, den Deutschen Bund, der allein durch eine Diplomatenversammlung in Frankfurt am Main repräsentiert wurde. Dem Bund gehörten anfangs 41 souveräne deutsche Staaten an, darunter Großmächte wie Preußen und Österreich, Mittelstaaten wie die Königreiche Bayern, Sachsen, Hannover und Württemberg, allerdings auch viele kleine und kleinste politische Gebilde wie etwa die Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck sowie mehrere Kleinstfürstentümer wie etwa Reuß ältere Linie mit der Hauptstadt Greiz und gerade einmal etwa 25.000 Einwohnern. Diese und andere deutsche Miniländchen (spöttisch auch als das „Liliput-Deutschland“ bezeichnet) galten tatsächlich als souveräne Staaten in Europa.

Der Bund schaffte es trotz vielerlei Bemühungen nicht, sich von einem deutschen Staatenbund zu einem Bundesstaat weiterzuentwickeln; fast alle der angedachten und geplanten Bundesreformen scheiterten: Es gab keine Bundesregierung, kein Bundesparlament, keine einheitliche, alle Rechtsbereiche umfassende Bundesgesetzgebung, kein oberstes Bundesgericht und auch kein einheitliches Wirtschaftsgebiet. Der 1834 unter Führung Preußens gegründete Deutsche Zollverein, dem nicht alle Mitglieder des Bundes angehörten, bildete zeitweilig einen nur sehr dürftigen Ersatz. Stattdessen dominierten die internen Konflikte – zuerst zwischen den führenden Bundesstaaten Österreich und Preußen, sodann zwischen den Groß- und den Mittelstaaten und schließlich auch innerhalb der Mittel- und Kleinstaaten. Als weiteres Problem kam hinzu, dass die östlichen Provinzen Preußens sowie einige der östlichen und südlichen Gebietsteile der Habsburgermonarchie dem Deutschen Bund nicht angehörten.

Während die Deutschen wieder einmal in den Problemen ihrer Kleinstaaterei versanken, war es den anderen, früher geeinten Nationen Europas seit der Wende zur Neuzeit gelungen, nicht nur nach innen und außen starke Nationalstaaten aufzubauen, sondern auch ihre kolonialen Ambitionen zu verwirklichen, preiswerte Rohstoffe zu importieren, im eigenen Land produzierte Waren abzusetzen und überall in der Welt Handelsstützpunkte zu errichten. Diese Länder waren inzwischen erfolgreiche „global player“ geworden, während es in Deutschland nicht einmal gelang, eine einheitliche Währung einzuführen: Nord- und süddeutsche Taler, Gulden, Kreuzer, Groschen und Pfennige mussten überall nach komplizierten Umrechnungstabellen getauscht oder verrechnet werden. Noch schlimmer sah es mit den Maßen und Gewichten aus, da fast jedes deutsche Ländchen über seine eigenen verfügte: Es gab etwa ein knappes Dutzend unterschiedlicher deutscher „Meilen“; und bei den Hohlmaßen sah es nicht sehr viel anders aus: So gab es etwa zwischen dem preußischen Scheffel (54,96 Liter) und dem bayerischen Scheffel (222,36 Liter) enorme Abweichungen.

 

Bürgertum und Nationalbewegung

Die politische und wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands wurde durch diese traditionelle, auch durch den Bund kaum gemilderte Zersplitterung jahrzehntelang enorm behindert, deshalb war es kaum verwunderlich, dass sich vor allem im liberalen Bürgertum eine Nationalbewegung zu bilden begann, die als ihr Hauptziel die Begründung eines deutschen Nationalstaats verfolgte. In den Jahren 1848/49 schien man diesem Ziel bereits sehr nahegekommen, doch die Konstituierung eines einheitlichen nationalen deutschen Staats mit einem frei gewählten Parlament und einer freiheitlich-liberalen Prinzipien verpflichteten gesamtdeutschen Verfassung scheiterte schließlich am Widerstand der Fürsten und der traditionellen Herrschaftsschichten. Auch eine „großdeutsche Lösung“ der Einheitsfrage, die ein künftiges Deutschland unter Einschluss Österreichs erstrebte, erwies sich – das hatte die Revolution ebenfalls gezeigt – letztlich als unpraktikabel. So bot sich am Ende nur noch die „kleindeutsche“ Lösung der deutschen Frage (mit Preußen, aber ohne Österreich) an.

Wie aber sollte Deutschland in dieser Form geeint werden können, da doch der preußische König Friedrich Wilhelm IV. im Jahr 1849 die ihm angebotene gesamtdeutsche Kaiserkrone strikt zurückgewiesen hatte und da auch die große Mehrheit der deutschen Fürsten nicht bereit war, auf ihre althergebrachten Herrschaftsrechte und den souveränen Status ihre Länder in Europa zu verzichten? Ging es also nur darum, auf eine neue Revolution und einen Umsturz aller bestehenden Verhältnisse zu warten? Oder schien letzten Endes nicht doch ein Weg zur Einheit möglich, der das Alte mit dem Neuen zu versöhnen versuchte, der also bestrebt war, ohne eine Revolution die Ziele der deutschen bürgerlichen Nationalbewegung zu erreichen, als Kompromiss mit den Ansprüchen und Rechten der seit Jahrhunderten in Deutschland regierenden Fürstenhäuser – und zwar in der Form eines starken deutschen Bundesstaats mit monarchischer Verfassung?

 

Politik Otto von Bismarcks

Tatsächlich war es ausgerechnet ein als streng konservativ geltender preußischer Junker, Otto von Bismarck, seit September 1862 preußischer Ministerpräsident, dem am Ende diese Quadratur des Kreises gelingen sollte. Die These, Bismarck habe von Anfang an die Errichtung des deutschen Kaiserreichs von 1871 geplant und betrieben, gehört in das Reich der historischen Legenden. Bismarck ging es nur darum, Preußens politische Stellung innerhalb Deutschlands und Europas so stark wie möglich zu machen, und zwar auf Kosten der österreichischen Konkurrenz. Bismarck verfügte als Politiker über die sehr seltene Fähigkeit, in Alternativen denken zu können, und so schwebten ihm mehrere Möglichkeiten vor Augen, um dieses Ziel zu erreichen – sei es als Reform oder gar Umbau des Deutschen Bundes, sei es aber auch als Gründung eines von Preußen geführten kleindeutschen Staatsgebildes.

Bismarck nutzte mit großem Erfolg die Möglichkeiten, die sich einer solchen Politik seit den frühen 1860er Jahren boten, wobei ihm die Tatsache sehr entgegenkam, dass sich zwei der europäischen Großmächte, Russland und Großbritannien, in dieser Zeit aus jeweils unterschiedlichen Gründen außenpolitisch zurückhielten und eine Einmischung in die deutschen Angelegenheiten weitgehend vermieden. Bei den beiden anderen großen Mächten jedoch, Frankreich und Österreich, waren starke Widerstände gegen das von Bismarck verfolgte Ziel zu erwarten – Widerstände, die im schlimmsten Fall nur durch eine militärische Auseinandersetzung aus dem Weg geräumt werden konnten.

Diesem Ziel dienten im Wesentlichen die drei nur sehr kurzen Einigungskriege der 1860er Jahre: Der erst wurde 1864 von Österreich und Preußen gemeinsam gegen Dänemark geführt, das sich widerrechtlich das norddeutsche Herzogtum Schleswig einverleiben wollte; dieser Krieg stärkte und befeuerte die deutsche Einheitsbewegung. Der zweite, der deutsche „Bruderkrieg“ von 1866, den Preußen und seine Verbündeten gegen Österreich und dessen Bundesgenossen führten, endete mit der Auflösung des Deutschen Bundes, mit dem Ausscheiden des Habsburgerreichs aus Deutschland und mit der Begründung des kleinen Norddeutschen Bundes unter preußischer Führung. Nun blockierte jedoch Frankreich den Eintritt der 1866 unterlegenen süddeutschen Staaten (Bayern, Württemberg, Baden) in den Norddeutschen Bund und deshalb blieb letzten Endes auch ein Krieg mit dem Französischen Kaiserreich unter Napoleon III. – den Frankreich im Juli 1870 übrigens mit einer Kriegserklärung gegen Preußen begann – unausweichlich. Erst der Sieg der unter Preußens Führung vereinten deutschen Heere machte die Gründung des Deutschen Kaiserreichs am 18. Januar 1871 möglich.

 

Traditionelle und moderne Elemente der Reichsverfassung          

Dieses neue Reich war vor allem deshalb ein merkwürdiges Gebilde, weil hier tatsächlich jene eben erwähnte Quadratur des Kreises, jene Kombination aus uralten und fast revolutionär neuen Elementen gelungen war, die lange Zeit unmöglich schien. Dem Gründungsakt, der Kaiserproklamation, entsprechend, war das neue Reich zum einen ein Fürstenbund, also ein Bündnis aller deutschen Fürsten (sowie der Regierungen der drei Stadtrepubliken Hamburg, Bremen und Lübeck), die das Reich in kollektiver Souveränität gemeinsam regierten. Der nun zum „Deutschen Kaiser“ proklamierte König von Preußen war nur Erster unter Gleichen, repräsentierte als Staatsoberhaupt das Reich und die anderen deutschen Fürsten nach außen, ernannte den Reichskanzler, war jedoch nicht alleiniger Träger der Souveränität. Aber zum anderen – und das zeigt den Kompromisscharakter dieser wesentlich von Bismarck bestimmten Verfassung – enthielt das Reich auch einige sehr moderne Elemente. Denn die Reichsgründung war mit der Kaiserproklamation noch keineswegs abgeschlossen, weil auch die Parlamente sämtlicher deutscher Staaten dieser Gründung mit Mehrheitsentscheidung zustimmen mussten, was sie am Ende auch taten. Und außerdem führte Bismarck für das deutsche Zentralparlament, den Reichstag, das revolutionäre Wahlsystem des Jahres 1848 ein, also das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht (damals, wie überall in Europa, noch ausschließlich den Männern vorbehalten).

Eben diese Kombination einerseits aus traditionellen, andererseits aber auch sehr modernen Verfassungselementen sollte sich wenigstens eine Zeitlang als außerordentlich erfolgreich erweisen. Ohne nochmals in den Untiefen und Gefahren einer Revolution zu versinken, war es gelungen, auf dem Weg der inneren Reform und der Erneuerung, unter Einbeziehung sämtlicher deutscher Fürsten und Regierungen, einen deutschen Nationalstaat zu schaffen, der sich mit den anderen großen Nationen Europas endlich auf derselben Augenhöhe befand und sich während der folgenden Jahrzehnte im zunehmend heftiger werdenden internationalen Konkurrenzkampf um Rohstoffe, Absatzmärkte, Kolonialgebiete, Handelsvorteile und geostrategische Positionen behaupten konnte. Die Ära der eineinhalb Jahrhunderte zwischen 1648 und 1815, in denen Deutschland und Mitteleuropa immer wieder in zahllosen Kriegen das Schlachtfeld der europäischen Großmächte gewesen waren, gehörte nun endgültig der Vergangenheit an.

 

Bildung eines einheitlichen Rechtsgebietes

Der äußeren Einigung folgte anschließend in den Jahrzehnten zwischen 1871 und 1900 die innere Einigung, die eine grundlegende Modernisierung und Vereinheitlichung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse zur Folge hatte. Vor allem ist hier die neue einheitliche deutsche Währung zu nennen, die bereits 1871 eingeführte „Mark“. Auch die nach und nach etablierten neuen Maße und Gewichte gemäß dem damals modernen Dezimalsystem, besonders die Längenmaße nach dem neuen, aus Frankreich kommenden Metersystem, brachten das neue Deutschland auch in dieser Hinsicht auf die Höhe der Zeit. Die Herstellung der vollen wirtschaftlichen Einheit dauerte noch etwas länger, da die Hansestädte Hamburg und Bremen ihre althergebrachten Handelsprivilegien lange verteidigten; sie traten erst 1888 dem deutschen Zollgebiet bei.

 Eine besonders herausragende Leistung, mit der die innere Einheit des neuen deutschen Nationalstates in besonderer Weise gefestigt wurde, stellte die jahrzehntelang geplante und präzise erarbeitete einheitliche deutsche Rechtsordnung dar: Am 1. Januar 1900 trat endlich mit dem „Bürgerlichen Gesetzbuch“ (BGB) zum ersten Mal in der deutschen Geschichte ein einheitliches Privatrecht in Kraft; es bildet bis heute die grundlegende privatrechtliche (also den Rechtsverkehr zwischen Privatpersonen regelnde) deutsche Rechtsordnung. Bis dahin hatte in Deutschland noch ein juristischer Flickenteppich aus sehr unterschiedlichen, in den verschiedenen Bundesstaaten jeweils gültigen alten und neuen, oft rückständigen und nicht selten unpraktikablen Einzelrechten das innere Zusammenwachsen des neuen Staates immer wieder erschwert. Nach 1900 jedoch konnte sich das neue Deutschland auch als einheitliches Rechtsgebiet weiterentwickeln.

 

Hypotheken der Bismarck'schen Ordnung

Über den bedeutenden Erfolgen der Einigung dürfen freilich auch einige Defizite nicht vergessen werden. Denn Bismarck bekämpfte in den beiden Jahrzehnten seiner Kanzlerschaft bis zu seinem Rücktritt im Jahr 1890 mit aller Härte diejenigen, die er als die Feinde der neu erlangten inneren Einheit Deutschlands und der bestehenden sozialen und gesellschaftlichen Ordnung empfand: zuerst die Katholische Kirche und die – den katholischen Bevölkerungsanteil vertretende – Zentrumspartei, später vor allem die frühe deutsche Arbeiterbewegung und die Sozialdemokratie. Deren Stigmatisierung als „Reichsfeinde“ sollte schon sehr bald eine dauerhafte Belastung für die innere Entwicklung des neuen Reiches darstellen.

Als problematisch erwiesen sich nach Bismarcks Abtreten auch bestimmte Elemente der deutschen Reichsverfassung von 1871, denn Bismarck hatte sich das Amt des Reichskanzlers (wie vorher schon das des Bundeskanzlers des Norddeutschen Bundes) gewissermaßen selbst auf den Leib geschneidert. Der Kanzler war nämlich in Personalunion zugleich preußischer Ministerpräsident, Vorsitzender im Bundesrat, alleiniger Leiter der Reichspolitik – da es auf Reichsebene keine Minister und Reichsministerien, sondern nur Staatssekretäre und Reichsämter gab – und schließlich fungierte er auch als einzige direkte Verbindung zwischen Reichsleitung und Deutschem Kaiser; dieser wiederum konnte allein den Kanzler sowohl ernennen als auch entlassen. Bismarck vermochte alle diese (bis auf das Ministerpräsidentenamt) ja von ihm selbst geschaffenen Ämter auszufüllen, seinen Nachfolgern jedoch waren die vom Reichsgründer hinterlassenen Schuhe viel zu groß, und vollends im Ersten Weltkrieg geriet das System, das nach altpreußischer Tradition auch noch dem Militär eine besonders starke Stellung einräumte, nach und nach in die Krise.

 

Wandlung des europäischen Staatensystems

Ein anderer Vorwurf, der gegen das 1871 neu gegründete Deutsche Reich und seine Stellung in Europa erhoben worden ist, trifft jedoch bei näherem Hinsehen nicht zu. Durch die Reichsgründung wurde keineswegs etwa das seit 1815 bestehende europäische Mächtegleichgewicht gestört – sondern das Gegenteil war der Fall: Die früher kleinste europäische Großmacht, das Königreich Preußen, nahm durch die Gründung des von ihm dominierten Kaiserreichs an Bedeutung zweifellos zu (dies war ja auch Bismarcks erste Absicht gewesen), gleichzeitig aber setzte ein langsamer, jedoch andauernder Machtverfall der bis dahin größten deutschen Großmacht ein, des seit 1867 als österreichisch-ungarische Doppelmonarchie konstituierten Habsburgerreichs. Um es mit einem Bild zu sagen: Während sich die eine Waagschale senkte, hob sich die andere, und deshalb wird niemand ernsthaft behaupten können, das europäische Gleichgewicht sei durch die kleindeutsche Reichsgründung fundamental verändert worden.

Und das neue Reich entwickelte sich auch nicht, wie ebenfalls gelegentlich behauptet worden ist, zu einer Art von europäischem „Halbhegemon“, der die anderen Mächte in ständiger Furcht gehalten habe. Im Gegenteil: allein der europäische Teil Russlands verfügte über eine Übermacht an Bevölkerung, Rohstoffen, Kriegsmaterial und Soldaten, mit der Deutschland niemals konkurrieren konnte. Und die riesigen Kolonialreiche Großbritanniens und Frankreichs mit ihren enormen Bevölkerungsreserven, Reichtümern und Massen an Rohstoffen übertrafen die vergleichsweise sehr bescheidenen deutschen „Schutzgebiete“ in Übersee in jeder Beziehung um ein Vielfaches.

 

Grundlegende Bedeutung der Reichsgründung für das heutige Deutschland

Die auch noch für die Gegenwart relevante Bedeutung der Reichsgründung wird man in der Bildung eines einheitlichen, modernen, wirtschaftlich starken, technisch produktiven, auch in den Bereichen von Bildung und Wissenschaft außerordentlich erfolgreichen deutschen Nationalstaats sehen können, der auf der einen Seite die bis heute prägende föderale deutsche Tradition bewahrte, auf der anderen Seite jedoch eine feste und einheitliche Zentralgewalt des Reiches schuf, damit sich Deutschland als politische Macht unter anderen Mächten behaupten konnte. Auch wenn nur noch der Kenner genau weiß, wie viel vom Bismarckreich selbst noch in der heutigen Bundesrepublik steckt – von der Bedeutung der Position des Kanzlers als höchstem politischem Amtsträger bis hin zur institutionellen Kontinuität des von Bismarck persönlich erfundenen Bundesrats –, so sollte man doch keineswegs vergessen, wie zukunftsfähig jenes 1871 gegründete Deutsche Reich trotz aller Fehler und Rückschläge gewesen ist. Um es auf die knappest möglich Formel zu bringen: Ohne das 1871 gegründete Deutsche Reich keine Bundesrepublik Deutschland.

 

Hans-Christof Kraus ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau.

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