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Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention

von Jürgen Nielsen-Sikora
Am Samstag, dem 4. November 1950, unterzeichneten in Rom politische Vertreter aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Norwegen, der Niederlande, der Türkei und dem Vereinigten Königreich die „Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“. Wenige Wochen später folgten diesem Beispiel auch Griechenland und Schweden, die die Konvention Ende November 1950 in Paris mitzeichneten. Für die Bundesrepublik Deutschland setzte der damals frisch ernannte Staatssekretär im Bundeskanzleramt, der CDU-Politiker Walter Hallstein, seinen Namen unter die Urkunde; für Frankreich war Robert Schuman in Rom, einer der Gründervater der Europäischen Union. Heute bekennen sich 47 Staaten zum Inhalt der Konvention.

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Charakter der Europäischen Menschenrechtskonvention

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) formuliert Prinzipien des bonum humanum, Normen und Werte, garantiert den Bürgerinnen und Bürgern der Unterzeichnerstaaten aber auch bestimmte Grundfreiheiten und spricht, gerichtet an die Unterzeichnerstaaten, bestimmte Verbote aus. Zu den wichtigsten Punkten zählen das Verbot der Folter, der Sklaverei und der Zwangsarbeit sowie das Diskriminierungsverbot. Demgegenüber werden die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit betont. Auch das Recht auf  freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit haben Eingang in die EMRK gefunden.

Walter Hallstein verband mit der Unterzeichnung in Rom damals die Hoffnung, die Menschenrechtskonvention könne die Grundlage für eine Europäische Verfassung bilden. Im Verfassungsentwurf der EU wird in Art. I-9 Abs. 3 die EMRK ausdrücklich als zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehörend bezeichnet. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) scheiterte zwar letzten Endes an den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ratifizierung der EMRK (2005), doch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die in den 2007 von den europäischen Staats- und Regierungschefs unter portugiesischer Ratspräsidentschaft ratifizierten Vertrag von Lissabon eingegangen ist, orientiert sich zumindest an der EMRK. Sowohl die Vertreter des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) begrüßten damals als mitberatende Beobachter ausdrücklich die Aufnahme der Charta in den Vertrag.

Die EMRK gilt als Meilenstein des internationalen Rechts und als Herzstück des am 5. Mai 1949 gegründeten Europarates, der sich von Beginn an als Hüter der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie verstand.

Die Konvention war von Beginn an entschieden als Schutz gegen das Abgleiten in eine neue Barbarei und als moralische Grundlage Europas konzipiert worden. Sie sollte ein Bollwerk gegen jede Art der Diktatur, der Unterdrückung und Willkür sein.

Garantiert und überwacht wird die EMRK bis heute durch den 1959 ins Leben gerufenen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Der EGMR überprüft die Einhaltung der EMRK in den Unterzeichnerstaaten im Hinblick auf Gesetzgebung und Rechtsprechung. Anfangs besaß der EGMR lediglich eingeschränkte Befugnisse, weshalb seine Bedeutung innerhalb des europäischen Rechtssystems eher gering blieb. Durch eine grundlegende Reform 1998 hat der EGMR jedoch stark an Einfluss gewonnen und zahlreiche Urteile erlassen, die massiv in die Rechtsordnung einzelner Staaten, die sich der EMRK unterworfen haben, eingegriffen.

Die Bundesrepublik Deutschland ratifizierte die EMRK am 5. Dezember 1952. Sie trat sodann am 3. September 1953 allgemein und völkerrechtlich verbindlich in Kraft.

 

Entstehung und Grundlagen der Europäischen Menschenrechtskonvention

Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschten große Flucht- und Wanderbewegungen in Europa. Zahlreiche Staatenlose, Überlebende der Konzentrations- und Vernichtungslager, so genannte „Displaced persons“ und ehemalige osteuropäische Zwangsarbeiter waren auf der Suche nach einer neuen Heimat. Begleitet wurde diese Suche durch politische Pläne der Rückführung dieser Personen im Nachgang zur Konferenz von Jalta (4.–11. Februar 1945). Zum Teil sahen die Pläne allerdings eine zwangsweise Umsiedlung, bzw. Rückführung vor. Vielen drohte jedoch auch nach 1945 in den Heimatländern Folter, Verfolgung oder gar der Tod.

Die EMRK sollte hier einen Schutz gegen die Auslieferung und Ausweisung bilden. Ein solcher Schutz war bereits in den Forderungen des Europa-Kongresses laut geworden, der vom 7. bis 10 Mai 1948 in Den Haag stattfand. Der Haager Kongress galt als treibende Kraft der europäischen Einigungsbewegung. Rund 700 Politiker – unter ihnen Konrad Adenauer – aus fast allen europäischen Ländern bekannten sich zur politischen Einheit Europas und forderten sowohl die Schaffung eines Europarates als auch eine europäische Menschenrechtskonvention. Es ging ihnen in erster Linie um die Grundlage einer künftigen Gemeinschaft.

Der Europakongress rief deshalb eine Kommission ins Leben, um einen Verhandlungstext zu erarbeiten. Bereits im Februar 1949 legte die Kommission dem Rat der Europäischen Bewegung in Brüssel einen Bericht vor, der alle wesentlichen Punkte einer Menschenrechtskonvention beinhaltete.

Ein internationaler Rechtsausschuss unter dem Vorsitz des ehemaligen französischen Justizministers Pierre-Henri Teitgen erarbeitete auf dieser Basis einen Entwurf inklusive einer Verfahrensordnung. Bis zur Unterzeichnung durch 14 europäische Staaten dauerte es nun keine anderthalb Jahre mehr.

Mit Blick auf die Menschenrechtsdokumente sagte am 27. September 1951 Bundeskanzler Adenauer in seiner Regierungserklärung während der 165. Sitzung des Deutschen Bundestages: „Das deutsche Volk bekennt sich (…) zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Diese Rechtsnormen sind unmittelbar geltendes Recht und verpflichten jeden deutschen Staatsbürger – und insbesondere jeden Staatsbeamten –, jede Form rassischer Diskriminierung von sich zu weisen. In demselben Geiste hat die Bundesregierung auch die vom Europarat entworfene Menschenrechtskonvention unterzeichnet und sich zur Verwirklichung der darin festgelegten Rechtsgedanken verpflichtet.“ (Stenographische Berichte 1. Deutscher Bundestag. Bd. 9, 165. Sitzung, S. 6697f.)

Die hier von Adenauer vorgebrachte Überzeugung stand ganz im Einklang mit seiner Politik der Westintegration. Allerdings war  der Beitritt der Bundesrepublik zum Europarat mit einigen Schwierigkeiten verbunden, denn im Raum stand damals – vor allem in Auseinandersetzung mit Frankreich – die noch offene Saarfrage. Aber auch im Bundesrat und im Bundestag war der Beitritt zum Europarat umstritten. Hier kam es nicht nur zu Kontroversen zwischen CDU und SPD, sondern auch innerhalb der CDU herrschte keine Einigkeit über den Beitritt. Nach einer Kampfabstimmung im Deutschen Bundestag am 15. Juni 1950 trat dann die Bundesrepublik schließlich am 13. Juli 1950 dem Europarat bei – dies war der erste Schritt der Westintegration, dem „Herzstück“ der Politik Adenauers. Allerdings erhielt die Bundesrepublik vorerst nur den Status eines assoziierten Mitgliedes, denn nach wir vor galt das alliierte Besatzungsstatut, insofern konnten Parlament und Regierung nicht souverän über äußeren Angelegenheiten entscheiden. Erst nach der ersten Revision des Besatzungsstatuts, die am 15. März 1951 in Kraft trat, erhielt die Bundesrepublik Deutschland am 2. Mai 1951 den Status eines Vollmitglieds des Europarats.

In seiner Regierungserklärung von September 1951 rekurrierte Adenauer indirekt jedoch auch auf die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verkündete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR). Diese trug in enormem Maße zur Verbreitung des Menschenwürdegrundsatzes in Rechtstexten bei. Zwar wird in der EMRK die Menschenwürde nicht explizit erwähnt – gleichwohl setzt sie die Menschenwürde als universell gültiges Rechtsprinzip voraus. Denn unter Bezugnahme auf die AEMR in der Präambel der EMRK wird das an universellen Menschenrechten ausgerichtete Völkerrecht deutlich, das auf die Bewahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten abzielt, und die Ideen der Freiheit und der Rechtsstaatlichkeit hervorhebt.

Die Menschenrechtskonvention beruht wie andere europäische Initiativen – zum Beispiel das  Bestreben, eine politische Einheit des Kontinents zu verwirklichen – auf der Idee einer seit den philosophischen Entwürfen von Kant und Rousseau bekannten Friedenssicherung durch vertragliche Übereinkunft. Auch das Bekenntnis zu den  Grundsätzen der Demokratie und zum Leitmotiv politischer Verantwortung, das durch den substantiellen Ausbau des demokratischen Rechtsstaates gesichert werden soll, liegt der Konvention zugrunde.

 

Vorläufer und Erweiterungen

In der politischen Geschichte Europas und der Vereinigten Staaten von Amerika haben diese Ideen eine lange Tradition. Als einer der ersten Vorläufer gilt die 1215 ins Leben gerufene Magna Charta – eine aus einem Friedensvertrag hervorgegangene Sammlung von Verfassungsartikeln. Mit ihnen garantierte Johann Ohneland, König von England, auf Druck einiger revoltierender Barone eine Reihe von Freiheitsrechten. So inaugurierte Artikel 39 das Prozessrecht: „Kein freier Mann soll verhaftet, gefangen gesetzt, seiner Güter beraubt, geächtet, verbannt oder sonst angegriffen werden; noch werden wir ihm anders etwas zufügen, oder ihn ins Gefängnis werfen lassen, als durch das gesetzliche Urteil von Seinesgleichen oder durch das Landesgesetz“. In der endgültigen Fassung wird dieses Recht allen freien Bürgern zugestanden. Es wurde in der Folgezeit zu einem wichtigen Grundrecht, allerdings dauerte es noch Jahrhunderte, bevor sich diese Idee endgültig durchsetzen ließ.

1628 besann sich das englische Parlament wieder auf die Magna Charta und klagte den König an, die darin zum Ausdruck kommenden Verfassungsideen zu diskreditieren. Der König habe versucht, England am Parlament vorbei zu regieren, von seinem Volk habe er Kriegsanleihen erpresst, Menschen willkürlich inhaftiert oder hingerichtet. Deshalb forderte das Parlament, bei steuerlichen Abgaben ein Mitsprachrecht zu erhalten, das Kriegsrecht aufzuheben und – und das war entscheidend – keine Verhaftungen oder Hinrichtungen ohne Gerichtsverhandlung vorzunehmen. Auf eine richterlich legitimierte Haftprüfung insistierte nicht zuletzt auch die Habeas- Corpus-Akte aus dem Jahr 1679, die somit einen bedeutenden Schritt in Richtung der Entstehung eines modernen Rechtsstaates darstellte.

Den nächsten großen Schritt dazu markierte die Virginia Declaration of Rights von 1776, in der die wichtigsten Grund- und Menschenrechte bestimmt und Freiheiten wie Presse- und Religionsfreiheit garantiert wurden. Die Deklaration, die maßgeblichen Einfluss auf die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung ausübte, dachte zudem eine Gewaltenteilung, ein Wahlrecht und eine allgemein verbindliche Gesetzgebung an.

Einen vorläufigen Höhepunkt in dieser Entwicklung hin zur Rechtsstaatlichkeit bildeten die durch die französische Nationalversammlung 1789 formulierten Menschen- und Bürgerrechte, die, von aufklärerischen Idealen geprägt, auf natürliche und unveräußerliche Rechte wie Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung insistierten. Alle Menschen seien vor dem Gesetz und dem Recht als Gleiche zu betrachten. Die Idee der Gleichheit vor dem Gesetz spiegelte nicht zuletzt eine der wichtigsten Ideen der Aufklärung, die in Immanuel Kants wenige Jahre zuvor formulierten Selbstzweckformel zum Ausdruck kam: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (GMS, AA IV 6, 429).

Die EMRK nahm sich bei der Niederschrift der Rechtsideen insbesondere die letztgenannten Prinzipien, also die Ideen der  französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und die Prinzipien zum Vorbild, die Kant 1781 formuliert hatte. In ihrer Gestalt ist sie von der Erklärung der Menschenrechte abgeleitet und durchdrungen vom Prinzip der Unantastbarkeit und Unveräußerlichkeit der Menschenwürde sowie der Anerkennung des Einzelnen als Träger gleicher Freiheiten.

In den Folgejahrzehnten wurde die EMRK mehrfach erweitert und ergänzt. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Europäische Sozialcharta aus dem Jahre 1961, die Minderheiten-Konvention von 1995 und die Möglichkeit der Individualbeschwerde, wie sie seit 1998 möglich ist, zu nennen. Darüber hinaus gab es zahlreiche Zusatzprotokolle. So wurde mit dem 13. Zusatzprotokoll von 2002 die Todesstrafe ausnahmslos abgeschafft.

Mit der fortschreitenden Demokratisierung der europäischen Nationalstaaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stieg zugleich die Klagebereitschaft vor dem EGMR. Vor allem seit den 1980er Jahren muss der EGMR eine regelrechte Klageflut bearbeiten, so dass es immer wieder zu einem Rückstau bei der Bearbeitung der Beschwerden kommt. Vorrangig sind Klagen aus Russland, der Türkei, der Ukraine, Rumänien und Italien anhängig.

 

Erschienen am 16. Oktober 2020.

Prof. Dr. Jürgen Nielsen-Sikora ist Mitarbeiter am Lehrstuhl Bildungsphilosophie / Hans Jonas-Institut der Universität Siegen.

 

Literatur:

  • Bates, Ed, The evolution of the European Convention on Human Rights, From its inception to the creation of a permanent Court of Human Rights, Oxford 2010.
  • Bond, Martyn, The Council of Europe and human rights, An introduction to the European Convention on Human Rights, Strasbourg 2010.
  • Bührer, Torben, Das Menschenwürdekonzept der Europäischen Menschenrechtskonvention, Berlin 2020.
  • Bundeszentrale für politische Bildung, Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, abrufbar unter: www.bpb.de/nachschlagen/gesetze/menschenrechtskonvention (Aufruf 5.9.2020).
  • Dietrich, Armin, Die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg, Eine Bestandsaufnahme von vier Jahrzehnten Rechtsprechung, Berlin 2019.
  • Ehlers, Dirk (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, Berlin/Boston 2009.
  • Frowein, Jochen A. und Wolfgang Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl., Kehl am Rhein 2009.
  • Gehler, Michael, Dauerauftrag für Staat und Gesellschaft In:  Wiener Zeitung vom 1.9.2018, S. 33.
  • Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Textausgabe, Bd. 4, Berlin 1978 (1781).
  • Küsters, Hanns Jürgen, Der Deutsche Bundestag beschließt den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Europarat. In: https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/kalender/kalender-detail/-/content/der-deutsche-bundestag-beschliesst-den-beitritt-der-bundesrepublik-deutschland-zum-europarat (Aufruf 12.9.2020).
  • Meyer-Ladewig, Jens, Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, 2. Aufl., Baden-Baden 2006.
  • Nielsen-Sikora, Jürgen, Europa der Bürger? Anspruch und Wirklichkeit der europäischen Einigung, Stuttgart 2011.
  • Schwimmer, Walter, Der Traum Europa. Europa vom 19. Jahrhundert in das dritte Jahrtausend, Berlin und Heidelberg 2004.
  • Zimmerman, Andreas (Hrsg.), 60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention, Die Konvention als „living instrument“, Berlin 2014. 

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