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Die Palästinenser und der Nahostkonflikt

Humanitäre Erfolge aber kaum Fortschritte im Friedensprozess

Bei der Mittelmeerkonferenz vom 13. Juli in Paris auf Einladung von Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy gelangen gleich mehrere viel versprechender Gespräche: Treffen zwischen Palästinenserpräsident Abbas und Israels Ministerpräsident Olmert, wie erneut in Paris, sind fast schon Routine. Doch daneben wurde in direkten Verhandlungen zwischen Syrien und dem Libanon die Aufnahme diplomatischer Beziehungen beschlossen. Die gleichzeitige Anwesenheit Olmerts und des syrischen Präsidenten Bashar Al-Assad war – auch ohne Händedruck der beiden – ein gutes Zeichen für die gerade begonnenen Kontakte zwischen den beiden Staaten. Syriens Bedeutung für eine friedliche Koexistenz Israels mit den arabischen Staaten kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Beim Treffen zwischen Abbas und Olmert gab es jedoch auch in Paris keinen Durchbruch.

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Doch mit jedem Tag ohne greifbare Verhandlungsergebnisse wird ein dauerhafter Frieden zwischen Israel und den Palästinensern weniger wahrscheinlich. Denn auf palästinensischer Seite werden Abbas und seine moderate Technokratenregierung unter Ministerpräsident Salam Fayyad die Menschen in der West Bank und mittelbar auch im Gaza-Streifen („West Bank-First-Strategy“) nur dann von den Vorteilen eines friedlichen Ausgleichs mit Israel überzeugen können, wenn sie Verbesserungen im Hinblick auf (1) die wirtschaftliche Situation, (2) die Bewegungsfreiheit und (3) einen politischen Horizont erreichen können. Im ersten Bereich gibt es vor allem in Ramallah Anzeichen für eine Verbesserung, nicht zuletzt durch die Wiederaufnahme der internationalen Unterstützung nach Bildung der Übergangsregierung vor einem Jahr. Für einen neuen politischen Horizont wurden in Annapolis mit dem Neubeginn von Endstatusverhandlungen die Voraussetzungen geschaffen. Der Besuch von Mahmoud Abbas in der Residenz des israelischen Präsidenten Peres auf dessen Einladung wird als ein besonderer Moment des Aufeinanderzugehens betrachtet.

Im Hinblick auf die für eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung der Palästinensischen Gebiete entscheidende Bewegungsfreiheit für Personen und Güter innerhalb der West Bank sind signifikante Fortschritte bislang ausgeblieben. Darüber hinaus dürfte die Frage wichtig sein, inwiefern es den Sicherheitskräften der Palästinensischen Autonomiebehörde künftig gelingt, sowohl für Israel (durch wirksame Terrorismusbekämpfung) als auch für die Palästinenser (durch Wiederherstellung eines Gewaltmonopols der PA gegenüber verschiedenen Milizen), Sicherheit zu gewährleisten. Wie die jüngste Sicherheitskonferenz in Berlin zeigt, fehlt es dafür nicht an internationaler Unterstützung. Die Glaubwürdigkeit dieses Unterfangens leidet aus palästinensischer Sicht jedoch an den andauernden israelischen Militäreinsätzen in der West Bank vor allem bei Nacht, während tagsüber die palästinensischen Kräfte die Kontrolle inne¬haben. Vor allem in Nablus fanden jüngst wieder vermehrt Eingriffe des israelischen Militärs statt. Gerade vor dem Hintergrund des kürzlich beschlossenen Waffenstillstandes mit der Hamas im Gaza-Streifen stellt dies eine weitere Schwächung der moderaten Regierung in der West Bank dar.

Waffenstillstand in Gaza brüchig: Der am Morgen des 19. Juni nach langen Verhandlungen eingetretene Waffenstillstand zwischen der Hamas und Israel beschränkt sich zunächst auf sechs Monate. Diese sogenannte „Tahadiye“ (arabisch: Ruhe) beendet vorerst die blutigen Auseinandersetzungen im Süden des Heiligen Landes. Hamas hat sich verpflichtet, jeglichen Beschuss der israelischen Stadt Sderot und umliegender Orte zu unterbinden. Im Gegenzug sieht Israel von militärischen Aktionen im Gaza-Streifen ab und sollte in einem zweiten Schritt einige Tage später die Blockade des südlichen Küstenstreifens beenden.

Die Situation im Gaza-Streifen hatte sich seit der Machtübernahme der Hamas im Juni 2007 stetig verschlechtert. Durch die Blockade konnten die Bewohner des 360 km² großen Gaza-Streifens nicht ausreisen, aus Gaza keinerlei Güter exportieren und nichts außer lebensnotwendigen Gütern und Medikamenten importieren, was in einer Arbeitslosenrate von über 50 Prozent resultierte. Somit ist ein Waffenstillstand, der das Leben der Menschen in Gaza und Israel schont, sowie zu einer Entspannung der Lage beiträgt, zu begrüßen.

Allerdings wurde dieses Abkommen von beiden Seiten bereits mehrmals gebrochen. Es kommt weiterhin von extremistischen Gruppierungen außerhalb der Kontrolle von Hamas zu vereinzelten Raketenangriffen auf israelisches Gebiet. Innerhalb Gazas geht Hamas inzwischen gewaltsam gegen diese Gruppen, von denen einige Al-Quaida nahe stehen sollen, vor. Die geplante Öffnung der Grenzübergänge für Lebensmittellieferungen in den Gaza-Streifen wird im Gegenzug von Israel immer wieder unterbrochen. Jedoch beharren beide Seiten darauf, ihre Aktionen nur als eine Reaktion auf Handlungen der jeweils anderen Seite durchgeführt zu haben, wobei der Waffenstillstand offiziell nach wie vor in Kraft ist. Zumindest die humanitäre Lage hat sich entspannt.

Die Hamas versucht derweil, den Waffenstillstand propagandistisch als Erfolg ihrer gewaltsamen Aktionen gegen Israel darzustellen, zumal der Gegenentwurf, die vom moderaten Präsidenten Abbas geführten Verhandlungen mit Israel, bislang keine vergleichbaren Erfolge gebracht hat. Somit wird der friedliche Weg des Präsidenten und seiner Übergangsregierung unter Ministerpräsident Salam Fayyad, den Annapolis-Prozess voranzutreiben, weiter erschwert. Bereits durch die von der Hamas inszenierte gewaltsame Öffnung der Grenze von Gaza nach Ägypten für einige Tage im Frühjahr hatte die Popularität des Verhandlungsweges einen demoskopisch messbaren Rückschlag erlitten.

Von israelischer Seite ist es dabei versäumt worden, eigene Zugeständnisse zu nutzen, um gleichzeitig die moderaten palästinensischen Kräfte zu stärken. Beispielsweise eine Kontrolle des Grenzüberganges von Gaza nach Ägypten durch die offizielle PA-Regierung und damit zumindest einen ihr zuzuschreibenden Teilerfolg gibt es zunächst nicht. Abbas bleibt nunmehr nichts anderes übrig, als wieder auf die Hamas zuzugehen. Trotz der jüngsten Gewalteskalation zwischen den beiden rivali¬sierenden Gruppen nach einem bislang ungeklärten Bombenanschlag auf Hamas-Funktionäre in Gaza rief er ausdrücklich zum Dialog auf. Hinzu kommt, dass auch der Gefangenenaustausch zwischen Israel und Hisbollah es den Extremisten erlaubt, Gewalt als erfolgreiches Mittel der Politik darzustellen.

Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hisbollah: Am 16. Juli übergab die Hisbollah die Leichen der beiden offenbar bereits im Sommer 2006 getöteten israelischen Soldaten Goldwasser und Regev an Israel. Im Gegenzug wurden vier Hisbollah-Kämpfer, die in israelischer Haft saßen, und der Topterrorist Samir Kuntar freigelassen, sowie die sterblichen Überreste von 199 Libanesen und Palästinensern an die Hisbollah übergeben.

Während im Libanon die Freigelassenen, vor allem der Mörder Samir Kuntar, wie Nationalhelden gefeiert werden, herrscht in Israel tiefe Trauer über den nunmehr bestätigten Tod der beiden israelischen Soldaten und Erschütterung über die Feierlichkeiten im Libanon. Gleichzeitig kommt die Frage auf, ob damit künftig Geiselnahmen für Extremisten wieder lohnend erscheinen und vermehrt gegen Israel eingesetzt werden könnten.

Auf palästinensischer Seite bezeichnet die den Gaza-Streifen kontrollierende Hamas den Gefangenenaustausch als „großen Tag für die arabische Nation“. Zudem ließ sie verlauten, dass der Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hisbollah gezeigt habe, dass die Entführung israelischer Soldaten der beste Weg sei, um Palästinenser aus israelischer Haft zu befreien. Auch der gemäßigte palästinensische Präsident Abbas gratulierte den Libanesen zu ihrem vermeintlichen Erfolg.

Die Verhandlungen über den Gefangenenaustausch fanden unter deutscher Vermittlung statt, wodurch Deutschland auf beiden Seiten an Ansehen gewonnen hat. Deutschlands Rolle wurde in den palästinensischen und israelischen Medien sehr betont. Von daher verwundert es nicht, dass Hamas bereits vorgeschlagen hat, nun bei den Verhandlungen über den nach Gaza entführten israelischen Soldaten Gilad Schalit ebenfalls auf Deutschland zu setzen, um an den vorherigen Erfolg anzuknüpfen. Bislang finden die Verhandlungen unter ägyptischer Vermittlung statt.

Es liegt jedoch nahe, dass die Freilassung von Gilad Schalit nach dem Gefangenenaustausch mit der Hisbollah erschwert wird. In israelischen Gefängnissen sitzen derzeit mehr als 10.000 Palästinenser, darunter auch einige Parlamentsabgeordnete der Hamas. Die Inhaftierung dieser Parlamentsabgeordneten (Mitglieder des Palästinensischen Legislativrates, PLC) führte dazu, dass Hamas die absolute Mehrheit im PLC nutzte, um diesen beschlussunfähig zu machen (Der PLC ist nur dann beschluss¬fähig, wenn 50 Prozent seiner Mitglieder anwesend sind.). Andernfalls hätte Fatah wegen der Inhaftierungen eine Mehrheit im PLC gewonnen. Aufgrund dieser Blockade des PLC war es Präsident Abbas jedoch möglich, seit mehr als einem Jahr mit einer Übergangsregierung die West Bank zu verwalten.

Für die palästinensische Bevölkerung ist die Freilassung eines großen Teils der Gefangenen ein zentrales Anliegen. Hamas fordert die Freilassung der Abgeordneten im Austausch für Shalit – mit entsprechenden Folgen für Parlament und Regierung der Palästinensischen Autonomiegebiete: Durch die Freilassung der Hamas-Abgeordneten wäre die parlamentarische Mehrheit der Hamas wiederhergestellt und die moderate Übergangsregierung unter Premierminister Fayyad müsste sich einem Parlamentsvotum stellen. Eine neue Regierung oder Neuwahlen wären die Folge.

Paradigmenwechsel im Nahostkonflikt: Die palästinensische Führung befindet sich nun in einem Dilemma. Einerseits wächst der Druck auf Präsident Abbas, wieder mit Hamas ins Gespräch zu kommen und so die Spaltung der palästinensischen Gebiete rückgängig zu machen. Eine solche Ent¬wicklung würde jedoch die Verhandlungen Abbas’ mit Israel weiter erschweren, da mit Hamas „im Boot“ weniger Kompromiss¬bereitschaft auf palästinensischer Seite über Endstatusverhandlungen zu erwarten ist. Schließlich wäre Annapolis unter Beteiligung von Hamas kaum möglich gewesen.

Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass die in Annapolis begonnenen Bemühungen scheitern, eine dauerhafte Lösung des Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern zu finden. Folge wäre ein Rückschritt hin zu Maßnahmen, die den Konflikt eher eindämmen und „verwalten“, anstatt ihn zu lösen. Der Waffenstillstand mit Hamas in Gaza passt ebenso in dieses Bild, wie der Gefangenaustausch und selbst die Gespräche Israels mit Syrien: Auch hier ist der Konflikt mit dem Nachbarland noch weit vor einer Lösung entfernt, wird aber eingedämmt, ohne die israelisch-palästinensischen Streitfragen lösen zu müssen.

Dieser Paradigmenwechsel in den israelisch-palästinensischen Beziehungen führt zurück zur Situation vor dem Hamas-Putsch in Gaza und dem Gipfel von Annapolis. Das dort aufgestoßene Zeitfenster beginnt sich zu schließen – trotz der humanitären Erfolge der letzten Wochen.

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13. Juni 2008
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