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Veranstaltungsberichte

„Ich fühlte mich verantwortlich für die jungen Deutschen“

Alfred Grosser über Zerstörung, Erinnerung und Mitgefühl.

„Zerstörung – und die Macht der Erinnerung“ lautete der Titel dieses Abends des 26. Januar 2015, zu dem das Militärhistorische Museum Dresden und das Politische Bildungsforum Sachsen der Konrad-Adenauer-Stiftung eingeladen hatten. Der Auftaktabend der Vortragsreihe beschäftigt sich damit, wie die Zerstörungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts die deutsche und europäische Erinnerung prägen.

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Erinnerung und kollektive Schuld

„Wie viel Erinnerung braucht eine Gesellschaft, wie viel Vergessen begleitet sie, und kann man dies überhaupt messen?“, fragte Gorch Pieken, wissenschaftlicher Leiter des Museums, in seiner Einleitung vor mehr als 200 Gästen.

Wie sich eine Gesellschaft erinnern sollte, darauf lasse sich keine allgemeingültige Antwort liefern, meinte Alfred Grosser. Der Redner des Abends erlebte selbst als Jugendlicher den Zweiten Weltkrieg. Als Sohn jüdischer Eltern musste Grosser 1933 von seiner Heimatstadt Frankfurt am Main nach Frankreich emigirieren. 1937 erhielt er die französische Staatsbürgerschaft. Mehrere Familienangehörige, darunter seine Schwester, kamen bei der Verfolgung durch die Deutschen ums Leben.

Bei Begegnungen mit gleichaltrigen Deutschen nach Kriegsende stellte Grosser fest, dass es „die“ Deutschen und eine kollektive Kriegsschuld nicht gäbe. In beiden Ländern habe insbesondere die Jugend unter den Kriegshandlungen und der politischen Vereinnahmung gelitten.

Das Symbol der Erinnerung an 1945 sei für Grosser deshalb weniger die Stätte einer Schlacht, wie im Falle Verduns, sondern das Konzentrationslager Dachau. In Dachau hätten sowohl Deutsche als auch Franzosen unter dem Terror der Nazis gelitten. Die Wunden auf beiden Seiten zu heilen und Grenzen zu überbrücken, wurde zu Grossers Lebensmotto: „Ich fühlte mich verantwortlich für die jungen Deutschen.“

Der europäische Einigungsprozess nach dem Krieg sei maßgeblich angestoßen worden von Menschen, die unter dem Krieg persönlich gelitten hätten, sei es als Widerstandskämpfer, politische Gefangene oder Verfolgte. „Die europäischen Wurzeln liegen im Widerstand“, so Grosser.

Erinnerung und Mitgefühl

In der heutigen europäischen Krise würden stets die deutschen Leistungen für Europa betont. Viele vergäßen dabei aber, dass Deutschland schon kurz nach Kriegsende von anderen europäischen Ländern als Partner wieder anerkannt wurde – trotz der Gräueltaten und Zerstörungen, die von Deutschland entfacht wurden. Grosser wünschte sich, dass Deutschland dafür mehr Dankbarkeit zeige.

Damit sich eine Gesellschaft an historische Ereignisse angemessen erinnert, müsse es sowohl kollektive Erinnerungsorte geben als auch persönliche Begegnungen mit Menschen. „Erinnerung braucht Mitgefühl“, so Grosser. Eine Schwarz-Weiß-Zeichnung und Mythisierung der Vergangenheit lasse sich verhindern, indem man das „Leiden der Anderen“ anerkenne. Von einem jungen Algerier in Frankreich lasse sich so beispielsweise nicht verlangen, von den Verbrechen des Holocaust persönlich berührt zu sein, wenn man nicht zugleich die französischen Kriegsverbrechen in Algerien angemessen thematisierte.

Grosser unterstrich die historische Unvergleichbarkeit des Holocaust. Die Verquickung einer pseudo-wissenschaftlichen Rassentheorie mit einer bürokratischen Feinplanung der Vernichtung von Millionen von Menschen bleibe einzigartig. „Ich kann mir die Grausamkeit nicht erklären“, so Grosser.

Er beklagte aber, dass die Erinnerung in Deutschland übertrieben werde. Dadurch werde Deutschland politisch oft ein „Opfer israelischer Erpressung“. Er wünschte sich einen offenen Umgang mit Opfern und Tätern: Es müssten mehr Geschichten von Deutschen erzählt werden, die Juden gerettet hätten, ohne dass dies als Geschichtsklitterung gebrandmarkt würde.

Die Rolle der Weltreligionen für ein friedliches Zusammenleben sieht Grosser kritisch. Im Namen der Religionen seien weltweit jahrhundertelang Verbrechen verübt worden – wenn auch oft aufgrund einer falschen Auslegung religiöser Schriften. Der christlich-jüdische Gott sei heute ein „Gott der Liebe“, war früher aber oft ein „Gott der Gewalt“. Im Islam habe sich bisher eine historisch-kritische Auslegung des Korans noch nicht durchgesetzt. Die Weltreligionen müssten erst noch beweisen, dass sie tatsächlich die Friedenstifter seien, als die sie sich darstellten.

Alfred Grosser ist es wichtig, die Geschichtsschreibung differenziert und kritisch zu betrachten. Schlachten und Kriege ließen sich nicht ausblenden, seien aber oft nicht die wesentlichen Wendepunkte für eine Gesellschaft. Die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hingegen habe erst den Grundstein für eine europäische Annäherung gelegt. „Was ein Historiker für seine Analyse auswählt, ist abhängig von seiner eigenen Moral“, lautet Grossers Fazit. Eine Gesellschaft brauche keine „Erinnerungs-Leitkultur“, sondern eine „Erinnerungsmoral“.

Die Themenreihe wird im Mai und September im Militärhistorischen Museum fortgesetzt. Informationen dazu erhalten Sie auf unserer Homepage. Gern können Sie uns kontaktieren, um per Newsletter oder Postversand über unsere Veranstaltungen informiert zu werden.

Autor: Friedemann Brause

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Alfred Grosser, Publizist und Soziologe, Paris\r\nEhemaliger Forschungsdirektor an der „Fondation\r\nNationale des Sciences Politiques“ und Lehrstuhlinhaber am Institut d‘études\r\npolitiques de Paris. Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels für seine Rolle als „Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kontinente". wikepedia commons

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