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Juan Antonio Segal / flickr / CC BY 2.0 / creativecommons.org/licenses/by/2.0/

Länderberichte

Die Begnadigung der katalanischen Separatisten

von Dr. Wilhelm Hofmeister, Martin Friedek
Am 22. Juni 2021 hat die spanische Regierung von Ministerpräsident Pedro Sánchez neun Hauptverantwortliche des Unabhängigkeitsreferendums in Katalonien vom 1. Oktober 2017 begnadigt, die zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren, weil sie bei der Vorbereitung und Durchführung des Referendums gegen die Verfassung und mehrere Gesetze verstoßen hatten. Die Organe der spanischen Justiz haben sich einstimmig gegen die Begnadigungen ausgesprochen. Deshalb konnte die Regierung jetzt lediglich einen Teilerlass der Strafe durchsetzen, der an die Auflage gebunden bleibt, dass die Verurteilten in den kommenden drei bis sechs Jahren keine neue Straftat begehen. Sie dürfen zudem für die Dauer ihres Strafmaßes kein öffentliches Amt ausüben. Laut Umfragen hat die Mehrheit der Spanier die Begnadigungen abgelehnt. In Katalonien allerdings hat eine Mehrheit der Bevölkerung, darunter auch Bürgerinnen und Bürger, die das Ziel der Nationalisten einer staatlichen Unabhängigkeit ablehnen, die Begnadigungen begrüßt. Dort hofft man, dass der Gnadenakt dazu beitragen kann, den Dauerkonflikt beizulegen.

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Am 14. Oktober 2019 hatte der Oberste Gerichtshof Spaniens neun Sezessionisten wegen ihrer federführenden Rolle beim Unabhängigkeitsprozess, insbesondere der Durchführung einer illegalen Volksbefragung, aufgrund des Tatbestandes der Volksverhetzung (und in einigen Fällen auch der Veruntreuung) zu Haftstrafen von neun bis 13 Jahren verurteilt. Das sogenannte „Referendum“ vom 1. Oktober 2017 entsprach aufgrund seiner Intransparenz, dem willkürlichen Ablauf sowie der zugrundeliegenden Verstöße gegen die Verfassung und verschiedene Gesetze keinen rechtstaatlichen Standards und war daher schon damals im Vorfeld der Abstimmung durch das spanische Verfassungsgericht explizit verboten worden. Seine Betreiber hatten versucht, mit dem Referendum Druck auf die von der Volkspartei (PP) geführte Regierung von Ministerpräsident Mariano Rajoy aufzubauen, um sie zur Anerkennung einer einseitigen Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit Kataloniens zu veranlassen. Den Anführern dieses Referendums war bewusst, dass sie gegen geltendes spanisches Verfassungsrecht verstießen.

Die Urteile gegen die Anführer wurden durch die Richter des Obersten Gerichtshofes im Oktober 2019 einstimmig gefällt und 2021 durch das Verfassungsgericht mit einer breiten Mehrheit von sieben Stimmen bestätigt. Zwei abweichende Voten kamen jedoch zu dem Schluss, dass eine unverhältnismäßige Strafe verhängt wurde. Drei der Verurteilten beantragten bisher, nach der Erschöpfung des Rechtsweges in Spanien, die Revision des Urteils beim Europäischen Menschengerichtshof und nahmen dabei in ihrer Begründung auch auf die Partikularmeinung der zwei Verfassungsrichter Bezug. Das Verfahren läuft noch, könnte aber u.U. durch die jüngsten Vorgänge beeinflusst werden. Im September 2020 beantragten zwölf Hauptangeklagte (drei minderschwere Fälle und die hier genannten neun Häftlinge) die Begnadigung bei Justizminister Juan Carlos Campos (PSOE).

Ablauf der Begnadigung

Das Begnadigungsgesetz von 1870 sieht vor, dass die Regierung unter Einhaltung bestimmter Grundsätze mittels einer Abstimmung im Ministerrat Begnadigungen vornehmen kann. Im Allgemeinen gilt, neben anderen Faktoren, dass die Verurteilung bereits rechtskräftig sein muss. Auch darf der Straftäter nicht rückfällig oder anderweitig straffällig werden. Zudem darf die Begnadigung Dritte nicht benachteiligen oder in ihren Rechten verletzen und es wird in der Regel vorausgesetzt, dass der Straftäter Reue für seine Taten zeigt. Der flüchtige Regionalpräsident Kataloniens, Carles Puigdemont, der 2017 die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet hatte, und einige weitere ehemalige Mitglieder seiner Regierung konnten nicht begnadigt werden, weil sie sich noch nicht der Justiz gestellt haben.

Sowohl der Oberste Gerichtshof als auch die Staatsanwaltschaft arbeiteten im Vorfeld der endgültigen Regierungsentscheidung über die Begnadigung jeweils ein eigenes Gutachten aus, das jedoch in erster Linie einen konsultativen Charakter besitzt. Sprechen sich die Justizorgane gegen den Straferlass aus, kann der Ministerrat nur noch eine Teilbegnadigung erreichen. Nach der Begnadigung können zudem Rechtsmittel dagegen eingelegt werden. Als Voraussetzung für eine erfolgreiche Widerrufung der Begnadigung durch den Obersten Gerichtshof wird oftmals genannt, dass der Kläger eine direkte Benachteiligung schlüssig nachweisen können sollte.

Politische Begründung der Regierung für die Begnadigungen

Die Regierung Sánchez begründet die Begnadigungen in erster Linie politisch und nicht juristisch und zeigte sich überzeugt, dass die Begnadigungen dem Gemeinwohl Spaniens zugutekämen. Denn bei den neun Separatisten handele es sich aufgrund ihrer gesellschaftlichen und politischen Vorreiterrolle um „Schlüsselfiguren“, die einen Beitrag dazu leisten können, das friedvolle Miteinander wiederherzustellen und die Beziehungen zwischen der Region Katalonien und dem Zentralstaat zu verbessern. Demnach verschlimmere der Vollzug der vollständigen Gefängnisstrafe die bestehenden Spannungen und behindere Fortschritte bei der Suche nach einer Lösung für das „größte politische Problem Spaniens“.[1]

Im Gegensatz zu früheren Standpunkten der Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) vertrat die Exekutive nun mit dieser Argumentation die Meinung, dass „der Umstand, dass sich in einer westlichen Demokratie politische Führer (keine politischen Gefangenen) im Gefängnis befänden, in Europa und in Teilen Spaniens als ein außergewöhnlicher und schwer verständlicher Umstand wahrgenommen werde“.[2]

Die Begnadigungen beinhalten vier Bedingungen: das Gemeinwohl soll gefördert werden; das Verbot der Ausübung öffentlicher Ämter bleibt bestehen; jede Begnadigung wurde individuell begründet; die Begnadigten müssen sich zukünftig an Recht und Gesetz halten. Diese Bedingungen halten laut Meinung von Experten wahrscheinlich einer Anfechtung durch die Oppositionsparteien stand. Allerdings ist davon unabhängig zu berücksichtigen, dass die Regierungskoalition aus Sozialisten und Linkspopulisten gegenwärtig an einer Reform des Tatbestandes der Volksverhetzung arbeitet. Sollte diese wie geplant umgesetzt werden, blieben derartige Handlungen, wie sie 2017 durch die Anführer der Unabhängigkeitsbewegung durchgeführt wurden, künftig wohl straffrei oder würden kaum bestraft.

Sánchez warb nach der Entscheidung im Abgeordnetenhaus um Verständnis und erinnerte daran, dass die Begnadigung der Separatisten genauso rechtmäßig gewesen sei wie die vielen Begnadigungen, die früher die PP vorgenommen habe. Dabei appellierte er an die Eintracht aller Spanier als das zugrundeliegende Motiv seines Handelns und zeigte sich überzeugt, dass die die beste Lösung für alle Katalanen sei. Er unterstrich, dass es sich um eine rein politische Entscheidung handele und er die Urteile des Obersten Gerichtshofs nicht anzweifle. Die Regierung habe jedoch den ersten Schritt gemacht, um eine neue Etappe in Katalonien zu beginnen.

Faktische Gründe der Regierung für ihre Entscheidung

Neben den formalen Begründungen gibt es jedoch auch faktische Gründe, warum die PSOE den politischen Verschleiß in Kauf nimmt, der sie zumindest zwischenzeitlich landesweit in den Umfragen abrutschen lässt. Denn in mehreren Umfragen hat die PP mittlerweile die PSOE in der Wählergunst überholt. Laut einer am 5. Juli von der Zeitung “El Mundo” veröffentlichten Umfrage kommt die PP aktuell auf 29,4% Unterstützung und 130 Mandate – 41 mehr als bei den Wahlen 2019. Die PSOE erhielte 25,9% und käme statt bisher 120 nur noch auf 103 Mandate. Vox erhielte einen Anteil von 14,4% der Stimmen und Podemos als viertstärkste Kraft 10,5%. Ciudadanos, die sich vorrübergehend als eine Partei der bürgerlichen Mitte zu etablieren schien, erhielt nur noch 2,5% der Stimmen und ein einziges Mandat.

Die Umfragen spiegeln auf gesamtspanischer Ebene einerseits das breite Maß der Ablehnung der Begnadigung wider, das auch von vielen PSOE-Anhängern und -Mitgliedern geteilt wird, sowie andererseits die Aussicht, dass Ministerpräsident Sánchez weiterhin die Stimmen der nationalistischen Regionalparteien aus Katalonien und dem Baskenland braucht, um Gesetzesvorhaben verabschieden zu können, für die eine absolute Mehrheit im Parlament notwendig ist. In erster Linie geht es dabei um den jährlichen Staatshaushalt.

Seinem Regierungspartner Unidas-Podemos kommt die Begnadigung entgegen, weil diese linkspopulistische Partei die nationalistischen Kräfte der Peripherie stärkt um ihr Ziel zu verfolgen, Spanien in einen plurinationalen Staat zu transformieren. Mit diesem Plurinationalismus will Podemos erreichen, dass sich die Gliedeinheiten aufgrund ethnischer und sprachlicher Charakteristika voneinander abgrenzen und die Kompetenzen zwischen dem Zentralstaat und den einzelnen „Nationen“ je nach Verhandlungsgeschick asymmetrisch verteilt werden. Alle „Nationen“ sollen dabei die Möglichkeit erhalten, ein bilaterales Verhältnis zu Spanien zu begründen. Ein Rat der Autonomen Regionen bliebe parallel bestehen, verlöre aber an Bedeutung. Als Resultat wäre für Podemos eine Konföderation kleiner ethnisch ausdifferenzierter „Nationen“ auf dem Gebiet Spaniens denkbar. Der Plurinationalismus und die Ablehnung der demokratischen Transition Spaniens sind zwei Haupttriebfedern der politischen Ideologie von Podemos, weshalb die Partei zentripedale politische Bewegungen stets unterstützt (selbst wenn es, wie bspw. im Falle des Aufstiegs des Bloque Nacionalista Galego in Galizien, die eigene Partei in solchen Regionen obsolet zu werden lassen droht).

Stellungnahmen der Justiz zu der Begnadigung

Staatsanwaltschaft (fiscalía): Die Opposition und ein Teil der Medien und Rechtswissenschaftler kritisieren seit längerem, dass die Regierung seit 2020 zunehmend Einfluss auf die Justiz nähme. Das wird u.a. daran festgemacht, dass Frau Dolores Delgado im Februar 2020 vom Amt der Justizministerin ohne Unterbrechung in das Amt der Generalstaatsanwältin wechselte. Die Generalstaatsanwaltschaft gehört in Spanien zu den Organen der Judikative, womit die Richter und Staatsanwälte grundsätzlich ihre Unabhängigkeit reklamieren, auch wenn deren Leitung durch die Regierung ernannt wird. Aufgrund des Umstandes, dass Delgado als Justizministerin auch mit dem Fall der katalanischen Unabhängigkeitskämpfer betraut war, musste sie sich nun von einer Mitwirkung an der Entscheidungsfindung der Position der Staatsanwaltschaft zu den Begnadigungen enthalten. Andernfalls hätte sie sich der Befangenheit schuldig gemacht.

So wird nachvollziehbar, weshalb die Staatsanwaltschaft trotz der politischen Nähe Delgados zu Pedro Sánchez die Begnadigungen Ende 2020 rundherum ablehnen konnte. In ihrer Stellungnahme ließen die Juristen keinen Zweifel daran, dass „die betriebene Volksverhetzung der Verurteilten von extremer Schwere ist, weil sie entschieden gewesen seien, über die verfassungsmäßigen Institutionen der Autonomen Region Katalonien und die Mobilisierung ihrer Anhänger eine Abspaltung der Region und die Ausrufung einer Republik zu erreichen“.[3] Dabei hätten die Verantwortlichen weder Reue gezeigt noch ihre Schuld eingestanden. Die Fiscalía warnte daher, dass eine Begnadigung der Verurteilten „einen im Sinne der demokratischen Legalität unzulässigen Bankrott des Gleichheitsgrundsatzes durch eine ungerechtfertigte und willkürliche Bevorzugung eines ungerechten und korrupten politischen Führers“ unterstelle und folglich die demokratischen Institutionen und die verfassungstreue Judikative beschädigt würden.[4]

Oberster Gerichtshof (Tribunal Supremo): Auch die zuständige Kammer am Obersten Gerichtshof lehnte die Begnadigung der zwölf Antragsteller im Mai 2021 einstimmig ab. Die Richter sind der Auffassung, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Urteile nicht verletzt wurde, dass es keine Beweise oder Anzeichen für Reue bei den Verurteilten gibt und dass die Argumente, auf die sich die verschiedenen Anträge Dritter auf Begnadigung beziehen, darauf abzielen, die Verantwortlichkeit für die strafbaren Akte in einer Art Kollektivschuld verwischen zu wollen. Des Weiteren lehnt das hohe Gericht die Stoßrichtung der Anträge ab, die aufgrund ihrer Formulierung den Eindruck erweckten, die Regierung könne einer unabhängigen Judikative gegenüber als korrigierende Instanz auftreten.

Sánchez korrigierte sich selbst: Zunächst verneinte er die Begnadigungen – nun schließt er ein neues Referendum aus

Im Vorfeld der letzten nationalen Parlamentswahlen vom 10. November 2019 schloss Pedro Sánchez die Begnadigung noch explizit aus. Zum damaligen Zeitpunkt war er bereits Ministerpräsident, ebenfalls jedoch ohne über eine stabile Regierungsmehrheit zu verfügen. Nach der Urteilsverkündung durch den Obersten Gerichtshof am 14. Oktober 2019 sprach Sánchez dem Gericht in einer formalen Regierungserklärung seine volle Unterstützung aus und unterstrich: „die Achtung des Gerichtsurteils bedingt es, dass dieses vollzogen, ich wiederhole, strikt vollzogen werden muss“.[5] Dies war insofern kohärent mit der Position der PSOE, als Sánchez im Jahr 2017 der PP-Regierung Rajoys volle Unterstützung im Kampf gegen die Sezessionisten zusagte und später nach der Eskalation des illegalen Referendums dank der Stimmen der Sozialisten im Senat die Aussetzung der Autonomierechte Kataloniens unterstütze, um die Situation dort wieder unter Kontrolle zu bringen. Auch vor den Wahlen im Mai 2019 und November 2019 bekräftigte er jeweils, eine künftige Zusammenarbeit mit den Sezessionisten abzulehnen. 2015 versprach Sánchez sogar noch, die Kompetenz der nationalen Regierung zur Begnadigung von verurteilten Straftätern ganz abzuschaffen, falls er einmal Regierungschef werden sollte. Nun haben die Sozialisten in kürzester Zeit genau das Gegenteil ihres bisherigen politischen Standpunktes in die Tat umgesetzt.

In weiten Teilen der landesweiten Medien, der politischen Opposition und auch innerhalb der nationalistischen Parteien hat das Vertrauen gegenüber den Aussagen von Sánchez aufgrund seiner mehrfachen abrupten Richtungswechsel mittlerweile einen Tiefpunkt erreicht. Wie die obigen Zitate zeigen, hat er seine Position mehrfach so fundamental geändert, dass heute niemand mit Sicherheit sagen kann, wie er tatsächlich entscheidet, wenn sein politisches Überleben von der Durchführung eines Referendums in Katalonien abhängen sollte. Selbst der Fraktionssprecher der sezessionistischen katalanischen Esquerra Republicana im Abgeordnetenhaus, dessen Partei ja Hauptnutznießer der Begnadigungen ist, ironisierte nach der Freilassung der Häftlinge im Abgeordnetenhaus: „Sánchez beteuert, dass es kein neues Referendum geben wird. Allerdings beteuerte er auch, dass es keine Begnadigungen geben wird. Gebt uns also nur genug Zeit“.[6] Die nationalistische Partei des Baskenlandes argumentierte ähnlich. Die liberale Tageszeitung El Confidencial steht in ihrer Analyse stellvertretend für eine Vielzahl von Politikern und Beobachtern, wenn sie feststellt: „Die feierlichen Behauptungen von Pedro Sánchez, dass es ‚kein Referendum geben wird‘, wären glaubwürdiger, wenn er seinen eigenen Versprechungen nicht ständig zuwiderhandeln würde“.[7]

Politischer Druck der Sozialisten auf die Justiz und den Rechnungshof

Schadensersatzforderung Rechnungshof (Tribunal de Cuentas): In einer anderen offenen Rechtsangelegenheit, die zwar nicht juristisch, jedoch über die politische Ebene indirekt mit den Begnadigungen verbunden sind, fordert der spanische Rechnungshof von mehreren Vertretern der Separatistenbewegung, die Führungspositionen in der öffentlichen Verwaltung innehatten, Schadensersatz in Höhe von 5,4 Mio. EUR ein. Bei der Summe handelt sich um öffentliche Gelder, die laut Rechnungshof unzulässiger Weise für die Beförderung der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland ausgegeben wurden, also die katalanischen „Botschaften“ im Ausland und einen katalanischen „diplomatischen Dienst“, die durch das spanische Verfassungsgericht als illegal und verfassungswidrig bewertet wurden, weil die Außenpolitik laut Verfassung Aufgabe des Zentralstaates ist.

In einem weiteren Verfahren befand der Rechnungshof bereits, dass die Angeklagten, die wider besseren Wissens die illegale Volksbefragung vom 1. Oktober 2017 durchführten und dafür öffentliche Gelder veruntreuten, für die Befragung zu einem Schadensersatz von 4,1 Mio. EUR verpflichtet seien.

Die Stv. Ministerpräsidentin Carmen Calvo (PSOE) übte diese Woche scharfe Kritik am Rechnungshof und bezeichnete die unabhängige Institution als politisiert. Verkehrsminister Ábalos (PSOE) schob den Rechnungshütern im Juni die Schuld zu, „dem Versöhnungsprozess zwischen Spanien und Katalonien Steine in den Weg zu legen“.[8] Der Druck der Regierung wurde so groß, dass sich der Rechnungshof gezwungen sah, eine öffentliche Stellungnahme abzugeben, in der dieser auf seine Unabhängigkeit und seine gesetzlich festgelegte Prüfungsfunktion hinsichtlich der Veruntreuung von öffentlichen Geldern hinwies.

Druck der Regierung auf den Obersten Gerichtshof:  Auch der Oberste Gerichtshof sah sich Ende Juni gezwungen, ein außergewöhnliches Communiqué zu veröffentlichen, in dem er an die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Richter erinnerte.

Zuvor hatte der Ministerpräsident Pedro Sánchez persönlich, in seinem Ärger darüber, dass das Gericht die Begnadigungen ablehnt, die Schadensersatzforderungen des Rechnungshofes anerkennt und auch die Widersprüche der PP gegen die Begnadigungen zuließ, die Integrität der Institution in Zweifel gezogen, indem er anmerkte, eine „ehemalige Ministerin Aznars säße“ in dem Gremium.[9] Damit spielte er darauf an, dass das Gericht politisiert sei. Der Tribunal Supremo erinnerte die Öffentlichkeit daran, ohne Sánchez explizit zu nennen, dass die Richterposten mit einer drei Fünftel-Mehrheit des Abgeordnetenhauses und des Senats besetzt werden, womit eine Besetzung des Gerichts nur unter der gleichmäßigen Mitwirkung von PSOE und PP zustande kommen kann.

Bewertung seitens der Opposition

Der Parteichef der spanischen Volkspartei PP, Pablo Casado, sah in der Maßnahme jedoch das Ende der PSOE als verfassungstreuer Partei heraufziehen. Casado bezweifelte, dass Sánchez sich wirklich einem weiteren Referendum entgegenstellen werde. Er unterstellte dem Ministerpräsidenten, alles dafür zu tun, um sich weiter als Regierungschef an der Macht zu halten. Er kündigte an, die Begnadigungen vor dem Obersten Gerichtshof anzufechten. Das Gericht hat diesen Antrag, der insgesamt neun Anfechtungen enthält (einen für jeden Begnadigten) mittlerweile zum Verfahren zugelassen. In einem Wortbeitrag beim Círculo de Economía in Barcelona wenige Tage vor der Begnadigung ließ PP-Parteichef Pablo Casado keinen Zweifel daran, dass die Nachgiebigkeit mit dem Separatismus nur Frustration bringen wird. Denn der Nationalismus habe sich in der Vergangenheit stets unersättlich gezeigt, weshalb auch diese Konzessionen die Sezessionisten nicht befriedigen werden.

Auch die Parteien Ciudadanos und Vox fochten die Begnadigungen bereits an. Für die Parteichefin von Ciudadanos, Inés Arrimadas, hat sich ihre Strategie, sich der PSOE gegenüber über Monate immer wieder gesprächsbereit zu zeigen, nicht ausgezahlt. Nach dem Scheitern eines gemeinsamen Misstrauensvotums von PSOE und Ciudadanos gegen die Regionalregierung der PP in Murcia, verlor die Partei zunehmend an öffentlicher Unterstützung. Das zeigte sich bereits bei den Regionalwahlen in Madrid im Mai und jetzt auch in den nationalen Umfragen. Ciudadanos entstand als moderate Gegenbewegung zur Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien. Sie kann die Begnadigung der Separatisten, die für eine tiefe Spaltung der katalanischen Gesellschaft verantwortlich sind, politisch nicht mittragen und hat deshalb nun mit Sánchez gebrochen. Ihre Vorsitzende Arrimadas ermunterte PP-Parteichef Casado dazu, ein Misstrauensvotum gegen Sánchez zu initiieren und versprach ihm die Ja-Stimmen ihrer Fraktion. Allerdings haben die Oppositionsparteien keine hinreichende Mehrheit, um Sánchez zu stürzen.

Resolution des Europarates stützt Hoffnung der katalanischen Sezessionisten auf Internationalisierung des Konfliktes

In der Parlamentarischen Versammlung des Europarates erkannte ein rechtlich nicht bindender Bericht des lettischen Sozialisten Boriss Cilevics der sozialdemokratischen Partei „Harmony“, die die russischsprachige Bevölkerung in Lettland repräsentiert, nur wenige Tage vor den Begnadigungen zwar an, dass das Handeln der Unabhängigkeitsbefürworter im Jahr 2017 illegal und verfassungswidrig war. Trotzdem fordert der Bericht, der mit 70 Ja-Stimmen angenommen wurde, von Spanien die sofortigen Begnadigungen der Inhaftierten, eine Aufhebung der Europäischen Haftbefehle, eine Reform der Tatbestände der Volksverhetzung und des Aufstandes sowie die sofortige Einstellung aller noch laufenden Gerichtsprozesse gegen die Sezessionisten.

Der Bericht legt das Augenmerk nicht auf die rechtlichen Vergehen, die tatsächlich im Zuge der Vorbereitung und Durchführung der Abstimmungskampagne vom 1. Oktober 2017 begangen wurden (wie beispielsweise die Besetzung öffentlicher Gebäude, die Veruntreuung öffentlicher Gelder, die Aufhetzung von Protestgruppen gegen Ordnungskräfte), sondern argumentiert auf eine interpretative Art und Weise, dass es in den Gerichtsprozessen letztendlich nicht um die Straftatbestände gegangen sei, die bewiesen werden konnten, sondern darum, die Verurteilten für ihre politische Meinung zu bestrafen.

In Cilevics Heimatstadt Daugavpils, wo die russische Minderheitenpartei Harmony besonders stark zu sein scheint, spielen sich laut El Independiente ähnliche politische Kontroversen ab, wie sie auch früher in Katalonien die Zivilgesellschaft zu spalten begannen. In einem Referendum 2012 sprachen sich in Daugavpils 85% der Bürger dafür aus, Russisch als Amtssprache einzuführen, während dieser Vorschlag von 75% der Letten landesweit abgelehnt wurden. 2017 äußerte Cilevics noch, dass Katalonien, ähnlich wie die Krim, kein Recht habe, eine einseitige Unabhängigkeit zu erklären.

Zu der hohen Zustimmung von 70 Ja-Stimmen, darunter auch viele Stimmen der Europäischen Volkspartei, dürften zwei Faktoren beigetragen haben: Zum einen betrieb die sozialistische Regierung, insofern es öffentlich nachvollziehbar ist, keine Versuche, die Sachargumente der spanischen Exekutive und Judikative in der Angelegenheit deutlich zu machen und deren Rechtmäßigkeit zu verteidigen. Bereits im Juni 2021 warnten über 400 spanische Rechtsprofessoren in einem Schreiben, dass das Votum zwar keine unmittelbar rechtliche Bindung habe, jedoch aufgrund der Transzendenz der Entscheidungen des Europarates sich diese Interpretation indirekt langfristig nicht nur negativ auf den spanischen Rechtsstaat, sondern die europäischen Demokratien insgesamt auswirken könne. Einer der Organisatoren zeigte sich dabei insbesondere über die fehlenden diplomatischen Anstrengungen der Sozialisten enttäuscht, das Votum abzuwenden. Denn wenn „illegale Handlungen wie das Referendum vom 1-0 [1. Oktober 2017, die Ver.], das trotz wiederholter gerichtlicher Verbote durch die Regionalverwaltung durchgeführt und damit die öffentliche Gewalt in den Dienst einer Straftat gestellt wurde“[10] nicht mehr sanktioniert werden können, wie soll dann der Rechtstaat aufrecht erhalten werden, wenn sich eine Interessengruppe entschieden zeigt, ihre politischen Ziele gegen jegliche Rechtsgrundsätze weiterzuverfolgen? Zum anderen verknüpfte Cilevics seinen Bericht geschickt mit der Kurdenproblematik und der Verfolgung von Kurden in der Türkei. Abgesehen davon, dass die beiden Angelegenheiten nach rechtstaatlichen Gesichtspunkten keinerlei Vergleich standhalten, dürfte der Umstand, dass zwei verschiedene Themen behandelt wurden, zum Abstimmungsergebnis beigetragen haben.  El País, El Independiente und andere spanische Tageszeitungen merkten an, dass die Resolution zu einem Großteil den exakten Argumenten folge, die die Separatisten verlautbarten. Nach der Abstimmung der Resolution zeigten sich die katalanischen Separatisten fest entschlossen, diese für sich zu nutzen und den innerspanischen Konflikt weiter zu internationalisieren.

Stimmen aus den nationalistischen Parteien Kataloniens

Aus den Medien war zu erfahren, wie bestürzt viele sozialistische Politiker hinter vorgehaltener Hand über die Aussagen des Fraktionssprechers der Esquerra Republicana (ERC) im Abgeordnetenhaus, Gabriel Rufián, nach der Rede von Pedro Sánchez im Abgeordnetenhaus vom 30. Juni waren, wo der Ministerpräsident die Begnadigungen begründete. Zwar rechnete die PSOE damit, dass sich der katalanische Regionalpräsident Pere Aragonès (ebenfalls ERC) auch nach den Begnadigungen bei seinen Treffen mit dem König und dem Ministerpräsidenten noch kämpferisch geben werde, um gegenüber den vielen Anhängern der sezessionistischen Parteien sein Gesicht zu wahren. Allerdings hoffte man auf eine Annäherung hinter den Kulissen und man rechnete anscheinend nicht damit, dass die Separatisten die Attacken an allen Fronten weiterführen. Wie bereits oben zitiert, führte Rufián Sánchez im Parlament vor und zeigte sich überzeugt, dass die sezessionistischen Parteien genug Druck auf Sánchez aufbauen können, damit er noch einem paktierten Referendum zustimmt. Rufián vermittelte den Eindruck, dass die Begnadigungen die Separatisten in ihren Forderungen nur weiter bestärkten.

Eine Woche nach den Begnadigungen kam der katalanische Regionalpräsident Pere Aragnonès (ERC) an den Regierungssitz La Moncloa in Madrid. Sánchez und Aragonès vereinbarten, einen „spanisch-katalanischen Verhandlungstisch“ im September wieder aufzunehmen. Die Rajoy-Regierung lehnte dieses Gesprächsformat stets ab, da es dem Dialog eine bilaterale Symbolik gäbe, die dem Status der Region nicht entspräche. Aragonès lobte das umstrittene Gutachten des Europarates, das die Begnadigungen unterstützte und die Aufhebung des Haftbefehls gegen Carlos Puigdemont fordert. Er ließ keinen Zweifel daran, dass das Ziel seiner Partei weiterhin die Durchführung eines Unabhängigkeitsreferendums in Katalonien ist und zeigte sich zuversichtlich, dass Sánchez diesem zustimmen werde. Sánchez hat das aber verneint.

Oriol Junqueras, der Parteichef von ERC und einer der Begnadigten, bringt sich bereits nur wenige Tage nach seiner Freilassung in die Internationalisierungsbemühungen ein. Anfang Juli reiste er unmittelbar zum Europäischen Parlament in Straßburg, um für die Freilassung von vermeintlichen „3.000 weiteren durch die spanische Justiz Unterdrückten“ zu werben.[11] Wer erwartet hatte, die Sezessionisten würden nun reumütig nach einem Kompromiss suchen, wird durch solche Aussagen und Aktionen ernüchtert und enttäuscht. Alle Äußerungen und Handlungen der Führungspersonen von ERC und JxC weisen auf ein einziges Ziel hin: Die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien um jeden Preis und damit die weitere „Europäisierung“ des Konfliktes voranzutreiben.

Die Fraktionssprecherin von Junts per Catalunya hat diese Forderrung bereits artikuliert. PDECat verlangte von Sánchez, ein Referendum nicht auszuschließen. Die Fraktionssprecherin der linksextremen CUP zeigte sich schon im Vorfeld unzufrieden über die Begnadigungen und fordert stattdessen Amnestie für die Straftäter und ein umgehendes Referendum: „In den kommenden zwei Jahren wird es ein weiteres Referendum geben“, zeigte sie sich überzeugt.[12]

Es wird deutlich, dass der Wunsch der PSOE nach „Eintracht und Versöhnung“ durch die nationalistischen Parteien Kataloniens bisher offensichtlich und ganz bewusst nicht erwidert wird.

„Plan Katalonien” der Partido Popular

Obwohl sich die Hälfte der Katalanen nach wie vor in Umfragen und Wahlen gegen die Unabhängigkeit ausspricht, konnte die PP nicht vom Widerstand der Rajoy-Regierung gegen die Unabhängigkeitsbewegung profitieren, sondern zeigt ganz im Gegenteil deutliche Verschleißerscheinungen in der Region. Nur noch drei Mandate hält die PP im Regionalparlament, während Vox bei den letzten Wahlen mit elf Mandaten zum Oppositionsführer aufstieg und selbst die schwächelnde Ciudadanos noch sechs Sitze erhielt.

Die PP steht vor der schwierigen Herausforderung, ihre gesamtstaatliche Ausrichtung mit einer neuen regionalen, auf katalanische Belange zugeschnittenen, glaubwürdigen Strategie zu verbinden, die wieder für katalanische Wähler attraktiv sein kann. Als Vorbilder könnten bspw. die PP-Regionalpräsidenten Feijóo in Galizien und Moreno in Andalusien gelten, die erfolgreich ein eigenes Profil entwickelt haben, das regionale Belange in den Vordergrund stellt, ohne der nationalen Strategie der PP entgegenzulaufen. Dazu gehörte es nach Aussage von Beobachtern, den Wählern gegenüber wieder die inhaltlichen Programmpunkte hervorzuheben und das Profil der regionalen Führungspersonen der Partei zu stärken.

Vielleicht kann der „Plan Katalonien“ dazu beitragen, der gegenwärtig in der PP-Parteizentrale ausgearbeitet wird. Wie El Mundo exklusiv berichtete, steht ein 15-Punkte-Plan im Mittelpunkt, der eine Strategie aufzeigt, den „Plan Pujol“ bzw. das „Programm 2000“ umzukehren. Dabei handelt es sich um einen 1990 vom damaligen katalanischen Regionalpräsidenten Pujol initiierten Plan, die Region mit nationalistischem Gedankengut zu durchsetzen, der seitdem augenscheinlich in vielen Bereichen, u.a. im Erziehungswesen, Anwendung fand.

Die PP stellt demgegenüber konkrete Politikvorschläge in den Mittelpunkt, die nach eigener Aussage wieder das friedliche Zusammenleben in Katalonien fördern und sich mit den echten Problemen der Katalanen auseinandersetzen sollen. Ein Referendum lehnt die PP weiterhin an. Daneben wollen sich Casado und der Regionalvorsitzende der PP, Alejandro Fernández, auf Vorschläge konzentrieren, die eine Reduktion der Arbeitslosigkeit und eine Rückkehr von Unternehmen ermöglichen, die im Zuge des Unabhängigkeitsprozesses aus Katalonien geflüchtet sind. Zudem beinhaltet das Konzept Vorschläge für eine umfassende Steuerreform. Diese beträfe einerseits alle Autonomen Gemeinschaften, andererseits jedoch auch eine spezifische Steuersenkung von bis zu 15 verschiedenen Steuerarten in Katalonien. Die PP legt Wert darauf, zu betonen, dass alle Maßnahmen ohne eine Verfassung- oder Territorialreform durchgeführt werden können. An die Stelle der „Operación Diálogo“ Rajoys tritt die Überzeugung, dass in erster Linie die nationalistische Indoktrinierung im Erziehungswesen, in der Sprachpolitik und in den Regionalmedien gebremst werden soll. Daher spricht er sich für die Schließung des Regionalsenders TV3, die Wiedereinführung des Spanischen als Arbeitssprache an den Schulen und in der öffentlichen Verwaltung und eine allgemeine Sprachpolitik aus, die den Spanisch-, Katalanisch- und Englischunterricht gleichberechtigt und tolerant behandelt. Des Weiteren befürwortet er weitere Investitionen in die Infrastruktur, wie den Ausbau des Mittelmeerkorridors und des Hafens und Flughafens El Prat in Barcelona. Der neue Plan baut also auch auf vielen bisherigen Glaubenssätzen der Partei auf.

Zur Bewertung der Begnadigungen

Die Begnadigungen der Separatisten haben vorerst nicht dazu geführt, dass sie selbst, ihre Parteien und ihre Anhänger die Forderung auf eine Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien aufgeben würden. Die öffentlichen Reaktionen von Esquerra Republicana, Junts per Catalunya/ PDECat und der CUP bestätigen vielmehr, dass alle drei Parteien weiterhin an diesem Ziel festhalten. Die Stellungnahme des Europarates einerseits und die Abhängigkeit der nationalen linken Minderheitsregierung von den Stimmen der nationalistischen Parteien im nationalen Parlament andererseits hat bei ihnen die Hoffnung geweckt, dass der Weg zu diesem Ziel nun sogar noch einfacher geworden sein könnte. Anstatt einer hart erkämpften, verfassungswidrigen unilateralen Unabhängigkeitserklärung eröffnet sich aus ihrer Sicht nun die Chance eines Unabhängigkeitsreferendums, das durch die spanische Zentralregierung und sogar die eine oder andere Stimme aus Europa verhandelt sein könnte.

Zwar verneint Ministerpräsident Sánchez bisher seine Bereitschaft, ein Referendum zu ermöglichen. Ein Blick ins Archiv seiner früheren Reden und Standpunkte zeigt jedoch, dass er bereits mehrfach seine eigenen „roten Linien“ überschritten hat. Nach den Medienreaktionen zu urteilen, würde wohl die Mehrheit der spanischen Kommentatoren und Analysten verschiedener politischer Lager heute nicht darauf wetten, dass sich die Position der Regierung bei diesem Thema nicht doch noch ändert.

Eine Verfassungsänderung ist in Spanien eine äußerst komplexe Angelegenheit. Es kann deshalb kein Zufall sein, dass die sozialistische Regierung nur einen Tag nach der Verneinung eines Referendums für Katalonien bereits ein so delikates Thema wie ein Referendum auf gesamtstaatlicher Ebene über eine neue Territorialorganisation in die Medien bringt, ohne bisher fundiert über die konkrete Ausgestaltung einer solchen Reorganisation mit allen gesellschaftlichen Kräften gesprochen zu haben. Zwar besitzt die PSOE intern zwei Konzepte zu einer Reform der Territorialordnung (Declaración de Granada/ Declaración de Barcelona). Doch weder verfügt die PSOE selbst über eine hinreichende stabile Mehrheit im Abgeordnetenhaus und im Senat, um ein solch komplexes Thema anzupacken, noch ist die PSOE dazu bereit, mit der PP einen substantiellen, stabilen, ehrlichen und langfristigen Dialog zu dieser Problematik zu führen. Sollte die PSOE eine solche Reform mit Podemos und den Nationalisten in die Wege leiten, kann es zu überraschenden Vorschlägen kommen.

Der Oberste Gerichtshof und der Rechnungshof sind von der Regierung Sánchez in ihrer Glaubwürdigkeit beschädigt worden. Die Befangenheitsvorwürfe gegen zwei unabhängige Institutionen des Rechtsstaates, die unabhängig von der Regierung agieren und nur dem Recht unterworfen sind, werden bei einigen Sezessionisten in Katalonien und dem Baskenland weitere haltlose Argumente gegen Spanien liefern.

Die Begnadigungen selbst sind zwar legal, beschädigen jedoch ebenfalls die Reputation des Obersten Gerichtshof und des Verfassungsgerichts. Das Verfahren wurde von 2017 bis 2019 in Spanien mit größter Sorgfalt der Gerichte durchgeführt, um eben eine spätere Niederlage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu vermeiden. Doch aufgrund der gewählten Handlungsstrategie der sozialistischen Regierung sind die Institutionen der Judikative bereits vorab ohne eigenes Verschulden in Misskredit geraten. Auch wenn Sánchez beteuert, dass er die Arbeit der Justiz nach wie vor respektiere, aber eben trotzdem anders entschieden habe, war diese Woche bereits zu sehen, wie die Freilassung der Separatistenführer durch die Nationalisten als „Beweis“ für eine vermeintlich unrechtmäßige politische Verfolgung instrumentalisiert wird, in Spanien, aber künftig vor allem auch noch mehr in Europa.

Fakt bleibt, dass im Sinne der geltenden Verfassung nur durch ein Referendum aller Spanier auf gesamtstaatlicher Ebene eine verfassungskonforme Abspaltung eines Teilgebietes möglich wäre. Wie dementgegen bei ähnlichen Straftaten wie dem im Hinblick auf den 1. Oktober 2017 künftig die Verfassungsordnung geschützt werden soll, wenn mittels verschiedener durch die Regierung angedachten Reformen das Verfassungsgericht seine Sanktionskompetenz verliert und der Straftatbestand der Volksverhetzung wegfällt, bleibt abzuwarten.

Eingangs wurde darauf hingewiesen, dass die Begnadigung der Separatisten im Moment ihrer Entscheidung und Bekanntgabe von einer Mehrheit der Spanier abgelehnt wurde. Sollte Ministerpräsident Sánchez mit seiner Politik des Dialogs Erfolg haben, die katalanischen Nationalisten von ihren Maximalforderungen abbringen und eine neue Form der Kooperation zwischen ihnen und dem Zentralstaat in die Wege leiten, die zu einer De-Eskalierung des Dauerkonflikts der vergangenen Jahre führt, dann wird wohl auch die Zustimmung zu den Begnadigungen wachsen. Solange die Nationalisten aber ihr Ziel des Separatismus weiterverfolgen, werden viele Spanier die Begnadigung der Verurteilten ablehnen, zumal diese keine Reue zeigen. Auf jeden Fall wird das Thema Katalonien bis auf Weiteres das zentrale Thema des innenpolitischen Konfliktsin Spanien bleiben.

 

 


[1] https://www.rtve.es/noticias/20210622/indultos-estos-son-argumentos-del-gobierno/2107645.shtml

[2] siehe 1.

[3] https://www.elmundo.es/espana/2020/12/22/5fe1e439fdddff7f358b463f.html

[4] siehe 3.

[5] https://elpais.com/politica/2019/10/14/actualidad/1571041641_229924.html

[6] https://www.elconfidencial.com/espana/2021-06-30/rufian-referendum-cataluna-independencia-sanchez-dijo-no-a-indultos_3159559/

[7] https://blogs.elconfidencial.com/espana/no-es-no/2021-06-30/palabra-sanchez-congreso-rufian-referendum-cataluna_3159599/

[8] https://www.elperiodico.com/es/politica/20210625/abalos-causas-tribunal-cuentas-piedras-camino-cataluna-11856026

[9] https://www.elmundo.es/espana/2021/07/01/60ddbd2dfc6c836c5e8b4644.html

[10] https://www.elindependiente.com/espana/2021/06/15/nos-jugamos-una-deslegitimacion-de-espana-a-muy-alto-nivel/

[11] https://www.elconfidencial.com/mundo/europa/2021-07-06/junqueras-vuelve-a-estrasburgo-para-pedir-un-apoyo-decidido-a-la-causa-catalana_3170035/

[12] https://www.elmundo.es/espana/2021/06/17/60cb901cfc6c83185f8b461d.html

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