Der Prozess gegen die inhaftierten Angeklagten fand unter großer Aufmerksamkeit der spanischen und internationalen Öffentlichkeit statt. Die Verhandlungen vor dem Tribunal Superior wurden live zunächst im Fernsehen und dann im Internet übertragen. Das Urteil war mit Spannung erwartet worden. Die katalanische Regionalregierung sowie die Unabhängigkeitsparteien und ihre Anhänger hatten immer wieder erklärt, dass sie kein anderes Urteil als einen Freispruch für die Angeklagten akzeptieren würden. In den Tagen und Wochen vor der für Mitte Oktober erwarteten Urteilsverkündung versuchten sie den Druck auf die spanische Regierung und Justiz zu erhöhen und kündigten eine breite Mobilisierung der Bevölkerung sowie Maßnahmen des politischen und zivilen Ungehorsams an. Der geschäftsführende Ministerpräsident Spaniens, Pedro Sánchez, hat deshalb in den Tagen vor der Urteilsverkündung mehrfach betont, dass er nicht vor einer neuen Anwendung des Notstandsartikels 155 der Verfassung zurückschrecken werde, sollte der katalanische Regionalpräsident Quim Torra, wie von ihm angekündigt, illegale Maßnahmen aktiv fördern oder durchführen.
Das Gericht verhängte zwar langjährige Haftstrafen gegen einen Großteil der Angeklagten, bestätigte jedoch nicht den Vorwurf der Rebellion, sondern verurteilte sie wegen „Aufruhr“ (sedución) in Tateinheit mit Veruntreuung. Die Strafen fielen daher niedriger aus als von der Staatsanwaltschaft gefordert. Der Hauptangeklagte Oriol Jungeras wurde zu dreizehn Jahren Haft verurteilt, acht der übrigen Angeklagten zu neun bis zwölf Jahren. Die drei anderen Angeklagten erhielten jeweils ein Jahr und acht Monate und kamen sofort auf freien Fuß. Nach Verkündung des Richterspruchs haben die Verurteilten nun auch für die Dauer der Strafen ihre bürgerlichen Rechte insofern verloren, sodass sie nun nicht mehr bei Wahlen kandidieren dürfen. Bei den Parlamentswahlen im April und den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai hatten Junqueras und einige weitere Angeklagte noch für die beiden nationalistischen Unabhängigkeitsparteien Kataloniens ERC (Esquerda Republicana) und JxCat (Junts per Calalunya) kandidiert. Das ist bei den kommenden Parlamentswahlen im November nicht mehr möglich. Wichtig für die Bewertung der Taten und die Bemessung des Strafmaßes war, dass die Richter den Vorwurf der Gewaltanwendung oder Förderung von Gewalt nicht erkannten. Dadurch ließen sie die Anschuldigung wegen „Rebellion“ fallen, weil das den bewussten Einsatz von Gewalt einschließen müsste. Zwar hätten die Angeklagten bewusst die spanische Verfassung und Gesetze verletzt und das illegale Referendum am 1. Oktober 2017 organisiert, doch nicht bewusst Akte der Gewalt provoziert, die mancherorts die Ereignisse vom Oktober 2017 begleiteten. Zusammen mit dem Urteil verfügten die Richter auch, dass von den Angeklagten keine unmittelbare Gefahr ausgehe, weshalb sie den Strafvollzug auf die Strafvollzugsbehörden Kataloniens übertrugen. Diese können einen halboffenen Vollzug der Strafe verfügen, sodass die Verurteilten eventuell bereits in wenigen Wochen an Werktagen tagsüber das Gefängnis verlassen dürfen und dort dann nur die Nacht verbringen müssen.
Mit der Urteilsverkündung ist die schwerste institutionelle Krise der spanischen Demokratie seit Verabschiedung der Verfassung 1978 vorläufig beendet worden. Die juristische Aufarbeitung der Ereignisse von 2017 ist damit vorläufig abgeschlossen, auch wenn wohl das spanische Verfassungsgericht und eventuell auch der Europäische Gerichtshof von den Angeklagten und ihren Anwälten noch einmal angerufen werden. Der Oberste Gerichtshof Spaniens hat die strafrechtliche Seite eindeutig bewertet und u.a. festgestellt, dass eine einseitige Unabhängigkeitserklärung von der spanischen Verfassung nicht zugelassen ist und dass die Angeklagten bei der Verfolgung des Unabhängigkeitsbegehrens bewusst eine Reihe Gesetze und politischer Rechte verletzt und sich über die Regeln des Parlaments hinweggesetzt haben, als sie u.a. die Opposition mundtot machten. Die Verletzung der spanischen Verfassung und internationalen Rechts sei nicht durch die Berufung auf vermeintliche politische Freiheitsrechte zu rechtfertigen. Nach der Urteilsverkündung hat ein Untersuchungsrichter den europäischen Haftbefehl gegen den geflüchteten ehemaligen Regionalpräsidenten Puigdemont erneuert, wobei nun in seinem Fall die Anklage auf „Aufruhr“ und nicht mehr „Rebellion“ lautet.
Auch wenn es die Richter nicht ausdrücklich vermerktem, verlangt die institutionelle Krise nach einer politischen Aufarbeitung. Diese wird aber voraussichtlich noch schwieriger sein als die juristische Aufarbeitung – wie nicht zuletzt die ersten Reaktionen auf das Urteil zeigen.
Ministerpräsident Sánchez hat das Urteil sofort anerkannt und bestätigt, dass die Strafen wie ausgesprochen vollzogen werden müssten; eine Begnadigung der Verurteilten schloss er aus. Die Regierung hatte Vorsorge getroffen, um gleich nach der Urteilsverkündigung im Meinungsstreit die Oberhand zu behalten. Sánchez selbst und mehrere Minister verteidigten gegenüber Journalisten aus aller Welt und den in Madrid akkreditierten Botschaftern den Urteilsspruch und betonten das Funktionieren der Demokratie und der unabhängigen Justiz in Spanien. Während 2017 die Separatisten mit ihrer Unabhängigkeitspropaganda viel Zustimmung in internationalen Medien hervorriefen und die Regierung Rajoy damals mit ihrer zurückhaltenden Kommunikationspolitik in diesem Wettbewerb um das Meinungsbild eindeutig unterlag, war die spanische Regierung nun seit Wochen gut darauf vorbereitet, nach der Urteilsverkündung einer anti-spanischen Stimmungsmache entgegenzuwirken. Das hat auch funktioniert. Die kritischen Reaktionen der katalanischen Regierung und nationalistischen Parteien sind diesmal kaum wahrgenommen worden, was u.a. auch damit zusammenhängt, dass die katalanischen Nationalisten mittlerweile untereinander über die Strategie zur Erreichung der Unabhängigkeit zerstritten sind.
Die konservativen spanischen Oppositionsparteien, die Volkspartei, Ciudadanos und selbst die rechtspopulistische Vox, die einen eigenen „Volksankläger“ stellte, der die Höchststrafe von 30 Jahren für Junqueras gefordert hatte, akzeptierten das Urteil – zum Teil eher zähneknirschend, weil sie seit Beginn des Prozesses den Anklagepunkt der Rebellion wiederholt ausdrücklich anerkannt hatten. Nun aber respektierten sie den Urteilsspruch als Ausdruck der Unabhängigkeit der spanischen Justiz. In der Volkspartei gab es einige verhaltene Kritik am Parteivorsitzenden Pablo Casado, weil dieser bei der Kommentierung des Urteils nicht deutlicher auch einige kritische Punkte angesprochen habe.
In den eher konservativen Medien ist der Urteilsspruch kritisch kommentiert worden, da auch von dieser Seite eine Anerkennung des Vorwurfs der Rebellion erwartet worden war. Allerdings haben letztlich auch konservative Kommentatoren das Urteil akzeptiert, wobei sie gleichzeitig darauf hinwiesen, dass das Urteil letztlich nicht zu einer Lösung des Konflikts beitrage. Das aber kann angesichts des politischen Charakters des Problems auch nicht die Aufgabe der Justiz sein.
Bei den Anhängern der Unabhängigkeitsbewegung in Katalonien hat das Urteil starke Kritik hervorgerufen. Nicht zuletzt der Regionalpräsident Quim Torra befeuerte mit mehreren Aussagen Ausschreitungen und illegale Aktionen. Anfang September ist erstmals eine Gruppe von Separatisten verhaftet worden, die anscheinend Bomben bastelten, um auf die Urteilsverkündung mit gewaltsamen Aktionen zu antworten. Ihnen wird nun u.a. die Vorbereitung terroristischer Aktionen vorgeworfen. Anscheinend bestand ein Kontakt zwischen ihnen und dem Regionalpräsidenten Torra. Noch am Tag der Urteilsverkündung versuchten Unabhängigkeitsbefürworter unter Anleitung der neuen Organisation „Tsunami Democràtic“ den Flughafen von Barcelona lahm zu legen. In mehreren Städten kam es zu Demonstrationen, Blockaden und Auseinandersetzungen mit der Polizei. Doch anders als 2017, als die die Regionalpolizei „Mossos“ der Durchführung des Plebiszits eher neutral gegenüberstand und den Befehl einer Verhinderung der Abstimmung faktisch verweigerte, funktionierte diesmal die Zusammenarbeit zwischen Mossos und den nationalen Polizeikräften der Guardio Civil und der Policía Nacional. So konnte sowohl die Besetzung des Flughafens von Barcelona sowie anderer öffentlicher Gebäude und Einrichtungen verhindert werden. Laut Kommentaren aus dem Umfeld der Polizei soll die neue Bewegung „Tsunami Democràtic“ vor einiger Zeit im Beisein von Regionalpräsident Torra gegründet worden sein. Zwar ist damit zu rechnen, dass auch in den nächsten Wochen die Unruhen in Katalonien anhalten, doch schon die Zerstrittenheit der Nationalisten lässt vorerst keine institutionelle Krise wie 2017 erwarten. Torra kündigte zwar an, dass er selbst erneut die Unabhängigkeit erklären könnte, doch selbst die Linksrepublikaner, die vor zwei Jahren den Prozess maßgeblich befeuerten, haben mittlerweile mehrfach erklärt, dass sie die Unabhängigkeit nicht durch illegale Maßnahmen weiterverfolgen wollen. Torra weiß, dass er bei einseitigen illegalen Maßnahmen Gefahr läuft, eine Intervention der Zentralregierung zu provozieren, in deren Folge er sein Amt und damit auch den Zugriff auf erhebliche Ressourcen und nicht zuletzt die öffentlichen katalanischen Medien verlieren würde, mit denen er das Unabhängigkeitsbegehren antreibt.
Nach dem Abschluss des Prozesses gegen die Separatisten von 2017 müssen nun alle Spanier darauf warten, ob es nach den Wahlen am 10. November gelingt eine Regierung zu bilden, und ob die neue Regierung in der Lage sein wird, wichtige Schritte in Richtung einer politischen Lösung des katalanischen Problems zu gehen. Das hängt nicht zuletzt vom Ausgang der Wahlen ab.
Die Vorbereitung der Parlamentswahlen vom 10. November 2019
Weil nach den Parlamentswahlen in Spanien vom 28. April bis zum 23. September keine neue Regierung gebildet worden war, musste König Felipe VI die beiden Kammern des Kongresses auflösen und für den 10. November Neuwahlen ausschreiben. Der amtierende Ministerpräsident Pedro Sánchez hatte nach seinen beiden Abstimmungsniederlagen am 23. und 25. Juli keine weiteren Verhandlungen mit den übrigen Parteien geführt, um doch noch eine Mehrheit zu erhalten. Gescheitert war die Wahl von Sánchez vor allem an der Ablehnung durch die linkspopulistische Gruppierung Unidas Podemos (UP). Zwar hatten PSOE (Partido Socialista Obrero Español) und UP noch kurz vor der damaligen Abstimmung über die Bildung einer Koalition gesprochen. Doch weil es keine Einigung über die Ressortverteilung gab, hatte UP im Juli dann doch noch die Wiederwahl von Sánchez scheitern lassen. Allerdings hatten beide keine Mehrheit im Parlament, sondern waren auf eine passive Unterstützung der nationalistischen Regionalparteien angewiesen, was den Sozialisten damals als realistische Option erschien. Der Generalsekretär der UP, Pablo Iglesias, bot zwar danach noch einmal Verhandlungen über die Bildung einer Koalitionsregierung an. Doch Sánchez ließ dies unbeantwortet. In einer seiner wenigen Erklärungen zum Thema Regierungsbildung sagte er kurz vor Ablauf der Frist für die Ansetzung der Neuwahlen, dass weder er noch die meisten Spanier ruhig schlafen könnten, wenn Iglesias Teil einer Regierungskoalition wäre.
Ob und wie eine neue Regierung zustande kommt, wird maßgeblich vom Ergebnis der Wahlen im November abhängen. Das Kalkül von Sánchez, dann einen deutlichen Stimmenzuwachs für die PSOE erzielen zu können, scheint nicht aufzugehen. Alle Parteien schieben sich gegenseitig die Schuld für das Scheitern der Regierungsbildung zu und wollen damit für sich Stimmen gewinnen. Denn alle wissen, dass ein Großteil der Wähler enttäuscht ist. Deshalb ist eine hohe Wahlenthaltung möglich, die keine Prognosen über den Ausgang der Wahlen erlaubt.
Nach den jüngsten Umfragen, die in der Tabelle aufgeführt sind, werden sich das Wahlergebnis und die Zusammensetzung des Parlaments gegenüber den April-Wahlen nicht maßgeblich verändern. Die Sozialisten werden ungefähr den gleichen Stimmenanteil erhalten, die Volkspartei würde einige ihrer Verluste vom April wieder wettmachen und die linkspopulistische Unidas Podemos ebenfalls ungefähr den gleichen Stimmenanteil erhalten. Die „liberale“ Partei Ciudadanos, die im April noch deutliche Zugewinne erreichte, wird nach den Umfragen nun wieder deutlich verlieren. Die rechtspopulistische Partei Vox hat Aussichten ihr Ergebnis zu halten und eventuell sogar zu verbessern. Die Wahlenthaltung und ihre Auswirkung auf das Ergebnis, ist hier nicht erfasst. Deutlich wird allerdings, dass die PSOE anscheinend keinesfalls von den Neuwahlen stark profitieren wird, wie sie es sich ursprünglich erhoffte. Allerdings muss man mit Blick auf die Umfragen auch in Rechnung stellen, dass diese erhoben wurden, als das Urteil über die Separatisten noch nicht bekannt war. Das Urteil und die Reaktion der Regierung darauf können das Wahlergebnis beeinflussen.
Wahlergebnis vom 28. 04.2019 |
Wahlumfragen vom Oktober 2019 | |
Stimmenanteil Abgeordnete | El País Ep País Sigma Dos/El Mundo GAD3/ABC (16.10.) (16.10.) (14.10.) (13.10.) % Mandate % % |
|
PSOE | 28,7 123 | 27,8% 125 27,5% 28,4% |
PP | 16,7 66 | 21 96 20,6% 22,2% |
Unidas Podemos* | 12 42 | 12,6% 28 13,2% 11,9% |
Ciudadanos | 15,9 57 | 9,9% 21 9,8% 8,6% |
Vox | 10,3 24 | 10,5% 33 10,7% 11,8% |
Más País |
4,6% 8 4,4% 3,9% | |
ERC | 3,9 15 | |
JxCat | 7 | |
CUP | 2 | |
Andere |
16 | |
350 |
Felipe González und Mariano Rajoy für eine Kooperation zwischen PSOE und PP
Nicht zuletzt der erkennbare Unmut vieler Bürger über das Verhalten der Parteien hat dazu geführt, dass seit Anfang Oktober zumindest die Oppositionsparteien Partido Popular und Ciudadanos nicht mehr ganz so strikt ein „nein“ gegen Sánchez ankündigen, sollten sie wiederum eine gemeinsame Mehrheit (auch unter Einbeziehung der rechtspopulistischen Partei Vox) verpassen und die PSOE deutlich vor ihnen liegen. Innerhalb der Volkspartei haben sich wichtige Vertreter wie der Präsident der Autonomen Gemeinschaft Galizien, Alberto Núñez Feijóo, dafür ausgesprochen, dass die PP auf keinen Fall erneut für das Scheitern der Wahl des Ministerpräsidenten verantwortlich gemacht werden dürfte. Das kann so interpretiert werden, dass sich die Abgeordneten der Volkspartei in einem entscheidenden Wahlgang der Stimme enthalten würden.
Mit großer Aufmerksamkeit, nicht zuletzt seitens der Anhänger der Volkspartei, wurde zur Kenntnis genommen, dass der vorhergehende Parteivorsitzende und Ministerpräsident Mariano Rajoy, der im Juni 2017 durch ein konstruktives Misstrauensvotum abgewählt worden war, und der ehemalige langjährige PSOE-Generalsekretär und Ministerpräsident Felipe González bei einer Veranstaltung am 4. Oktober gemeinsam dazu aufriefen, Spanien die notwendige Stabilität zurückzugeben, „wenn es möglich ist mit einer Mehrheit“, auch wenn das bedeute, „unbequeme Abkommen“ einzugehen. Zwar haben sich die beiden ehemaligen Parteiführer nicht explizit für eine Koalition zwischen PSOE und der PP ausgesprochen, doch sie forderten zumindest eine Art Abkommen im Hinblick auf die großen Themen des Staates. Rajoy erinnerte bei dieser Gelegenheit daran, dass er 2016 der PSOE vergeblich eine große Koalition angeboten hatte, was Pedro Sánchez damals abgelehnt hatte.
Die Ausführungen Rajoys wird auch der PP-Vorsitzende Pablo Casado mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis genommen haben. Auch er hat in den letzten Wochen zu einer gemäßigten Haltung und Tonlage zurückgefunden, nachdem sein Konservativismus „ohne Komplexe“ die Partei nicht vor den dramatischen Stimmenverlusten bei den Wahlen im April bewahrt hatte. Nun kann die PP eine Zunahme an Stimmen und Mandaten erwarten, sodass sie ihre traditionelle Rolle als wichtigste Repräsentantin des konservativen „Mitte-rechts-Lagers“, wie sie es selbst bezeichnet, wieder zurückgewinnen wird. Ob sie mehr als mindestens 20 Prozent erreicht, dürfte vom Verlauf des Wahlkampfs und weiteren Entwicklungen abhängen, vor allem den Ereignissen in Katalonien nach der Verkündung der Urteile gegen die Anführer des Unabhängigkeitsreferendums, aber auch der Entwicklung der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes. Auch wenn Casado im Wahlkampf weder eine Duldung noch eine aktive Wahl von Sánchez versprechen wird und für eine Mehrheit des Mitte-rechts-Lagers kämpft, deutet sich seitens der PP-Führung an, dass eine Regierungsbildung letztlich nicht mehr an der Volkspartei scheitern wird.
Ciudadanos hat sich selbst ins Abseits manövriert
Nur einen Tag nach dem Aufruf von Felipe González und Mariano Rajoy hat auch der Vorsitzende von Ciudadanos, Albert Rivera, sein bisheriges striktes „Nein“ gegen Sánchez relativiert. Nicht zuletzt aufgrund der schlechten Umfragewerte hat er nun am 5. Oktober „ein großes nationales Abkommen“ angeboten, um Spanien vom politischen Stillstand zu befreien. Er knüpfte dieses Angebot an zehn Bedingungen, die in einem solchen Abkommen vereinbart werden müssten und die u.a. die Renten-, die Wirtschafts-, Gesundheits-, Erziehungs- und Verteidigungspolitik sowie insbesondere auch die Verteidigung der Einheit Spaniens gegen die regionalen Nationalisten und Separatisten beinhalten.
Das ist eine deutliche Änderung der Haltung von Ciudadanos. Nach den Wahlen im April hatten Ciudadanos und PSOE zusammen eine parlamentarische Mehrheit und Wirtschaftsvertreter und viele Bürger hätten die Bildung einer “sozialliberalen“ Koalition begrüßt. Doch Rivera blieb bei seiner strikten Ablehnung eines Bündnisses mit der PSOE. 2016 hatten beide Parteien schon einmal ein Regierungsbündnis vereinbart, das aber nicht zustande kam, weil Unidas Podemos damals die Wahl von Sánchez verhinderte. Jetzt wäre der Weg für eine solche Koalition frei gewesen. Doch auch Sánchez zeigte kein Interesse an einem Abkommen mit Ciudadanos und unterließ ein ernsthaftes Angebot zur Zusammenarbeit. Nun hat Rivera zwar eine Kooperaton mit Sánchez und der PSOE in Aussicht gestellt, doch die Umfragewerte für Ciudadanos lassen erwarten, dass diese Partei keinen entscheiden Einfluss mehr auf die Regierungsbildung nehmen kann. Mit seiner falschen Strategie hat Rivera seine Partei ins Abseits manövriert.
Sánchez will weiter allein regieren
Pedro Sánchez will am liebsten weiter allein regieren. Das hat er in den vergangenen Wochen wiederholt deutlich gemacht. Er fordert die Volkspartei und Ciudadanos dazu auf, durch eine Enthaltung seine Wiederwahl zu ermöglichen. Zu programmatischen Zugeständnissen oder gar einem Koalitionsangebot an eine dieser Parteien zeigte er sich bisher nicht bereit. Auch auf die Mahnungen von Felipe González und Mariano Rajoy sowie auf das Kooperationsangebot von Ciudadanos antwortete er nur mit dem Hinweis, dass die anderen Parteien ihre Blockierung einer Regierungsbildung aufgeben sollten.
Mit Unidas Podemos stünde zwar ein Koalitionspartner bereit, doch Sánchez spricht sich weiterhin strikt gegen eine Koalition mit dieser Gruppierung aus. Ohnehin ist absehbar, dass PSOE und UP auch im November keine Parlamentsmehrheit haben werden, sodass sie auf die Unterstützung der regionalen Nationalisten angewiesen wären. Deren Zustimmung ist aber eher unwahrscheinlich, nachdem Sánchez schon vor der Verkündung des Urteils gegen die Separatisten mit etwas strikteren Tönen die Nationalisten und vor allem die Regionalregierung in Katalonien wegen ihrer obstruktiven Haltung kritisiert hatte. Er hat sogar mit einer erneuten Intervention in Katalonien und mit der Absetzung des Regionalpräsidenten gedroht, sofern dieser weiterhin Gesetzesverstöße und militante Aktionen von nationalistischen Gruppierungen unterstütze. Auch wenn Sánchez mit dieser neuen harten Haltung gegenüber Katalonien vor allem auf die Wähler im übrigen Spanien schielt, wird dadurch das Verhältnis zu den nationalistischen Regionalparteien belastet, die dann kaum für seine Wiederwahl stimmen werden. Zwar hat die neue Linksgruppierung „Más País“, die sich von Unidas Podemos abspaltete, Sánchez ihre Unterstützung für die Bildung einer linken Regierung in Aussicht gestellt, doch zusammen werden PSOE und Unidas Podemos auch unter Einschluss von „Más País“ keine Mehrheit in der Abgeordnetenkammer haben.
Angesichts der ernüchternden Umfragewerte versucht Sánchez nicht zuletzt durch rechtlich fragwürdige Finanztransfers an die Autonomen Gemeinschaften und die Vorbereitung einer Rentenerhöhung und einer Lohnerhöhung für die Staatsbediensteten, die eventuell noch vor den Wahlen ausgezahlt werden sollen, die Stimmung und Unterstützung für die PSOE zu verbessern. Durch seine klare Position und Reaktion auf die Verkündung der Urteile gegen die Separatisten kann er nun vielleicht zusätzliche Stimmen gewinnen. Bisher war es ihm nicht gelungen, allein die anderen Parteien für das Scheitern der Regierungsbildung verantwortlich zu machen. So bleibt es vorerst ungewiss, ob er und die PSOE von den Neuwahlen profitieren werden.
Auch Unidas Podemos hat zu hoch gepokert
Unidas Podemos könnte gegenwärtig einen stellvertretenden Ministerpräsidenten und drei Minister stellen, wenn nur ihr Vorsitzender Pablo Iglesias im Juli nicht zu hoch gepokert hätte. Die Wiederwahl von Sánchez ist im Juli letztlich an der Enthaltung von UP gescheitert, obwohl der kurz vor der entscheidenden Abstimmung – wenn auch widerwillig – eine Koalition und die genannten Posten angeboten hatte. Iglesias hatte zwar akzeptiert, dass Sánchez ihn persönlich nicht in einem Kabinett haben wollte, doch Unidas Podemos behagte dann die vorgesehene Ressortzuteilung nicht und ließ deshalb die Wahl von Sánchez scheitern. Seither versuchten beide Seiten sich gegenseitig für die verpasste Chance einer Linksregierung verantwortlich zu machen.
Nach den neuesten Umfragen wird Unidas Podemos im November voraussichtlich keine größeren Verluste erleiden. Die Wähler des linken Lagers machen Iglesias nicht allein für das Scheitern der Regierungsbildung verantwortlich. Dieser wird zwar nicht müde, sein Angebot einer Koalition beharrlich zu wiederholen, stößt damit aber bei Sánchez auf taube Ohren.
Ein Problem für Unidas Podemos ist das Auftreten der neuen Linkspartei „Más País, die von dem ehemaligen Podemos-Mitgründer Íñigo Errejón registriert wurde. Anfang 2019 hatte er Podemos wegen eines längeren Konflikts mit Iglesias verlassen. Bei den Regional- und Kommunalwahlen in Madrid kandidierte er bereits für die Linksgruppierung „Más Madrid“ für das Amt des Regionalpräsidenten. Nun hat Errejón Wahlallianzen mit einigen regionalen Linksbewegungen geschlossen, die bisher zu Unidas Podemos gehörten, beispielsweise in Valencia und Aragon. In der Umfrage wird „Más País“ ein Stimmenanteil von ca. 5% zugesprochen. Das deutet an, dass diese Partei Wähler der Linken mobilisieren kann, die sowohl von PSOE als auch von Unidas Podemos enttäuscht sind. Errejón kündigte zwar an, Sánchez zur Bildung einer Regierung der Linken zu verhelfen. Doch der gemeinsame Stimmenanteil ist zu gering, um andere Parteien zu einer Unterstützung einer solchen Wahlallianz zu bewegen.
Die Rolle der nationalistischen Regionalparteien
Auch bei den Wahlen im November werden die nationalistischen Regionalparteien zusammengenommen einen Stimmenanteil von ca. 20 Prozent erhalten. Die Nationalistische Partei des Baskenlandes (PNV) kann wiederum mit einem deutlichen Sieg in ihrer Heimatregion rechnen. Doch ihr Stimmenanteil wird nicht den Ausschlag für eine Regierungsbildung geben, auch wenn sie letztlich wohl weitgehend ohne ideologischen Vorbehalt für Pedro Sánchez stimmen wird, dafür aber (wie üblich) einige zusätzliche materielle Zugeständnisse für das Baskenland zur Bedingung macht.
Die katalanischen Regionalparteien dagegen werden voraussichtlich noch weniger als im Juli bereit sein, Sánchez zu wählen bzw. durch Enthaltung seine Wiederwahl zuzulassen. Die beiden wichtigsten Regionalparteien JxCat und ERC sind mittlerweile zerstritten und werden sich einen intensiven Wettbewerb vor den Wahlen liefern. ERC gilt inzwischen als die stärkere der beiden Parteien. Sie hat ihre Forderungen insofern gemäßigt, als sie die Unabhängigkeit nicht mehr durch einseitige Maßnahmen verfolgen will. Junts per Catalunya, dagegen, die von dem im belgischen Exil lebenden ehemaligen Regionalpräsidenten Puigdemont geführt wird, hat eine immer radikalere Position eingenommen. Neben diesen beiden Parteien tritt auch die linksradikale Partei CUP (Candidatura d’Unitat Popular) erstmals bei nationalen Wahlen an. Es wird damit gerechnet, dass sie zwei oder drei Mandate erhält und dann versuchen wird, den Parlamentsbetrieb in Madrid so weit als möglich zu stören. Eine konstruktive Rolle dieser Partei ist nicht zu erwarten.
Regierungsbildung nach längeren Verhandlungen wahrscheinlich
Auch wenn viele Beobachter erwarten, dass nach den Wahlen vom 10. November eine Regierungsbildung nicht einfach sein wird und nicht sehr schnell erfolgt, ist den meisten Parteien jetzt bewusst, dass sie sich ein erneutes Versagen nicht leisten können, ohne dass die spanische Demokratie dadurch erheblichen Schaden nähme. Zu erwarten ist deshalb, dass das Land – wenn nicht vor Weihnachten, so doch im Frühjahr 2020 – eine neue Regierung erhält, die mehr als ein Jahr im Amt bleiben wird.
Wer diese Regierung führen wird, ist noch nicht entschieden, wenngleich Pedro Sánchez die bessere Ausgangsposition hat, da seine Partei PSOE die Umfragen noch mit einem deutlichen Vorsprung anführt. Doch die Höhe der Wahlbeteiligung wird ebenso eine große Rolle für den Wahlausgang spielen wie verschiedene andere Faktoren, darunter die Ereignisse in Katalonien, aber auch die Wirtschaftslage und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Die Aussichten des Wirtschaftswachstums sind nicht mehr ganz so positiv wie zu Beginn des Jahres; mittlerweile wurde die Wachstumserwartung für 2019 von 2,5 auf 1,8% gesenkt. Sollte sich die Lage in Europa und international weiter eintrüben, wird das auch Spanien betreffen. Gerade hat die Regierung gegen die neuen US-Zöllen auf Produkte aus der Europäischen Union protestiert, weil das Spanien und nicht zuletzt den dortigen Arbeitsmarkt sehr stark betrifft. Nachdem in den letzten Monaten die Schaffung neuer Arbeitsplätze bereits zurückgegangen ist, befürchten manche Beobachter für die 2. Jahreshälfte sogar wieder einen Anstieg der Arbeitslosigkeit.
Dass die Parteien des Mitte-Rechts-Spektrums (zusammen mit Vox) eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus erhalten, ist unwahrscheinlich. Eher ist damit zu rechnen, dass Sánchez und Casado letztlich doch dem Aufruf ihrer Vorgänger im Amt des Generalsekretärs bzw. Vorsitzenden ihrer Parteien folgen und – nicht zuletzt angesichts der Notwendigkeit einer entschlossenen und gemeinsamen Haltung gegenüber den Vorgängen in Katalonien eine breite Übereinkunft erzielen, die die Bildung einer nationalen Regierung erlaubt und damit auch erste Schritte in Richtung einer politischen Lösung der Dauerkrise in Katalonien.