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Veranstaltungsberichte

Schafft die Türkei den Sprung in die EU?

von Maja Eib, Kirsten Seyfarth
11. Erfurter Europagespräch

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Die Thüringer Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten Marion Walsmann übernahm, trotz engem Terminkalender, die Begrüßung des elften Erfurter Europagesprächs. Die Chefin der Staatskanzlei freute sich über die breite Resonanz dieser Veranstaltungsreihe, die am 15. November mit der Frage „Schafft die Türkei den Sprung in die EU?“ ein „Full House“ im Europäischen Informationszentrum ermöglichte.

Gleichfalls begrüßte Marion Walsmann die Gesprächspartner des Abends: Das Gesprächspodium leitete der stv. Direktor des MDR-Landesfunkhauses Thüringen Matthias Gehler. Ihm zur Seite gesellten sich die Sozialwissenschaftlerin und Autorin Necla Kelek sowie der Publizist und sicherheitspolitische Experte Dr. Aschot Manuntscharjan. Gleichfalls gab Dr. Adam Szymanski vom Institut für Politikwissenschaften der Universität Warschau aktuelle Antworten aus dem Nachbarland Polen.

Bevor jedoch die Ministerin das Wort weitergab, schuf sie mit ihrer Einführung Grundlagen für die weitere Diskussion und flocht geschickt aktuelle Bezüge ein. So begrüßte Marion Walsmann das gerade gefeierte Jubiläum „50 Jahren Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei“ und gab Informationen über die Auswirkung dieser Initiative weiter. „Deutschland ist seit dieser Zeit bunter geworden“, freute sich Walsmann. So leben in Deutschland inzwischen 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, davon drei Millionen mit türkischen „Wurzeln“. Allein in Thüringen sind 48.000 ausländische Mitbürger aus 150 unterschiedlichen Ländern gemeldet. Interessanterweise ist der Anteil der Bürger mit Migrationshintergrund in den neuen Ländern mit 2,3 Millionen Menschen sehr gering.

Bevor die Ministerin wegen weiterer Termine das Europapolitische Gespräch verließ, gab sie Impulse für die Gesprächsrunde. So interessierte die Ministerin die Rolle der Türkei im Verhältnis zu den arabischen Staaten und fragte mögliche Fortschritte der EU bei den aktuellen Beitrittsverhandlungen an. Als kleine „Stütze“ informierte die Chefin der Thüringer Staatskanzlei über die Beitrittskriterien und gab bekannt, dass die Türkei seit 2005 Beitrittsverhandlungen führt. Interessanterweise seien dabei von 45 Kapiteln 13 eröffnet und nur ein Kapitel vorläufig abgeschlossen.

Mit den einführenden Worten schuf Marion eine Brücke zur nächsten Referentin Necla Kelek. Die mehrfache Buchautorin griff dabei gleich die von Walsmann genannten Kapitel bzw. Kriterien auf und machte auf die Wichtigkeit dieser aufmerksam. Sie betonte zudem auch die Bedeutung der Überprüfung. Kelek begann ihre Ausführungen mit den aktuellen Geschehnissen in der muslimischen Welt und definierte ihre Vorstellung von einer Revolution, die doch so gerne den Ereignissen in diesem Jahr angedichtet werden. Der Mauerfall sei der Beginn einer Revolution gewesen, jedoch nicht die Bewegungen in den Diktaturen. Die Aussage „In Ägypten sei gar nichts gewonnen“, belegte die Rednerin mit der aktuellen Lage der Frauen. Denn immer noch sei die Religion die alltagsprägende Kraft. Eine Trennung von Staat und Gesellschaft wurde nicht festgemacht. In Tunesien habe wieder eine islamisch geprägte Partei die Wahlen gewonnen. Die Ursache und Gründe des Versagens der Gesellschaft wurden dabei nicht analysiert und mündeten damit auch nicht in eine wichtige Neuformierung, die beispielsweise die Gleichberechtigung einschließt. Denn nur so könne eine erfolgreiche Demokratieentwicklung möglich sein. Kelek wünschte sich eine kritische- rationale Auseinandersetzung mit den aktuellen Fragen, denn ohne Religionsfreiheit, so die Autorin weiter, sei keine Demokratie möglich. Die einsetzende Debatte in den islamistisch geprägten Ländern schaffe aber auch Verunsicherung in Europa. Denn Werte hält Europa im Kern zusammen. Kelek will deshalb nicht aufhören, auf Missstände hinzuweisen. Die zahlreichen Ge- und Verbote haben aus dem Islam ein Herrschaftssystem gemacht, in dem Religion, Politik und Familie nicht getrennt werden. Und nun müssen die Muslime dafür sorgen, das Islam und Demokratie vereinbar werden, über Regeln sprechen und diese lösen, damit der Islam als Glaube gelebt werden kann und nicht als Regelwerk. Allerdings fühlte sich Kelek auch als Teil der islamischen Kultur und brauche den Glauben, aber eben nicht als Herrschaftssystem, sondern als Philosophie und Hilfe bei der Sinnsuche.

Gleichfalls lenkte die engagierte Autorin noch einmal auf das Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei ein. Die Türken sowie weitere Migranten hatten in Deutschland die Chance, ein anderes Weltbild und einen anderen Umgang mit Freiheit kennenzulernen. Doch Integration fällt schwer und so sieht Kelek diese für gescheitert an. Die Migranten nutzten nicht die Möglichkeit einer Aneignung von Werten und Grundrechten, die der Sozialstaat auch für sie bereithielt. Allerdings, die Buchautorin sei selber für die einmaligen Chancen und Rechte in Deutschland dankbar und betont, dass sie auf solch einen demokratischen Rechtsstaat stolz sei.

Wenn es beiden Kulturen gelingt, die Freiheit zu bewahren, Werte gemeinsam zu akzeptieren und einen Konsens zu finden, wird die Türkei ein Teil Europas und der Kulturgemeinschaft. Deshalb findet die Buchautorin auch die mehrfach erwähnten Kriterien wichtig. Die Türkei befindet sich zurzeit auf Identitätsfindung. Nach den aktuellen Sichten in ihrem Herkunftsland ist Kelek jedoch der Meinung, dass die Türkei nach ihren Wertevorstellungen momentan kein Teil Europas werden darf. „Doch wir befinden uns zurzeit in einer spannenden Situation. Die den arabischen Ländern herrscht Aufbruchstimmung“, so Kelek.

Doch es fehlen auch Antworten aus Europa in einer Kerndebatte: „Was ist Europa und wo endet sie geografisch?“ „Die Türkei“, findet Kelec abschließend, „kann nur Teil der Europäischen Union werden, wenn sie ein Sozialstaat wird und Religionsfreiheit umsetzt.“

Neue Akzente in das Gespräch brach Dr. Aschot Manuntscharjan. Als sicherheitspolitischer Experte und Armenier gab der Publizist Auskünfte zur aktuellen Situation in Armenien in Vergangenheit und Gegenwart. Der Experte erinnerte an die Völkermord Armeniens und stellte als ein wichtiges Problem die Ausgleichsproblematiken vor. Gleichfalls ging er auf das Wertegemeinschaftsproblem ein und charakterisierte den Islam als eine Lebensweise, bei der die Regierung alles mobilisiert, um einen reislamisierenden Europäisierungsprozess Einhalt zu gebieten.

Die polnische Sicht auf die Fragen zum Türkeibeitritt in die EU erklärte Dr. Adam Szymanski. So sei die polnische Gesellschaft über diese Frage geteilter Meinung, ein Großteil beschäftige sich gar nicht damit, die Regierung jedoch sprach sich für solch einen Beitritt aus. Die Situation in Israel beschäftige die Polen eher als Intensionen der Türkei. Dennoch sei Polen weltoffen, besitze aber kaum Integrationserfahrungen mit Türken, eher würden Ukrainer oder gar Vietnamesen in Polen leben.

Und sofort wurde ebenfalls im Kreis festgestellt, dass die Türkei auch Probleme des Integrierens gar nicht kennt, sondern nur „wegschickt“. Zudem würden die Rückkehrer in der Türkei bedauerlicherweise wieder in die alten Familienstrukturen zurückfallen und die Rolle des Staates als Beschützer, Eroberer oder in der Außenpolitik akzeptieren. Die Forderung nach einem Sozialstaat, die ja die Rückkehrer in Deutschland kennenlernen durften, wird nicht laut gerufen, es erfolgt im Heimatland keine Geschichtsaufarbeitung.

Die Gesprächsrunde war eröffnet und gleich meldeten sich Gäste aus dem Publikum zu Wort. So wurde konkret zu europäischen Wertevorstellungen nachgehakt sowie die Frage: „Was hält Europa im Kern zusammen“ gestellt. Den endgültigen Beitritt der Türkei zur EU sah Kelek letztendlich nicht so pessimistisch, denn die Türkei befinde sich in einem Prozess und möchte unbedingt ein Teil Europas werden. Als Vermittlerland zu den anderen arabischen Staaten sei die Türkei immer gescheitert, würde dort nicht akzeptiert und deshalb auch künftig keine Rolle spielen.

Die deutsche Wirtschaft wird durch den Beitritt der Türkei in die Europäische Union reicher. Diese Aussage von Manuntscharjan rief bei den Gästen Bewegung hervor. Sowohl der Fachexperte aber auch Dr. Görgmeier erläuterten mithilfe von Zahlenwissen mögliche Bewegungen und Finanztransfers nach solch einem Beitritt.

Und nach etwa 120 interessanten Minuten blieb genügend Zeit für Gespräche mit den Fachexperten. Denn der EU-Beitritt der Türkei berührt und beschäftigt die Menschen des Sozialstaates Deutschland.

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