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Länderberichte

Die „Rotschlammkatastrophe“

von Hans Kaiser

Nagelprobe für die Fähigkeit der neuen Regierung

„Rotschlammkatastrophe“ nennen die ungarischen Medien das, was sich einen Tag nach den ungarischen Kommunalwahlen in Westungarn, nördlich des Plattensees, zugetragen hat. Eine Industriekatastrophe, die inzwischen nicht nur so ziemlich alle Vorstellungen dessen, was hierzulande im Umfeld einer Fabrikanlage geschehen kann, überstiegen hat und manche an die Apokalypse erinnert.

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Die Katastrophe wirft auch ein Schlaglicht auf die nach der Wende wohl nicht nur in Ungarn praktizierten Privatisierungsmethoden mit der unsäglichen und rücksichtslosen Bereicherung einiger Weniger. Direktoren der Unternehmen aus kommunistischer Zeit wurden die neuen Eigner überwiegend zum Schnäppchenpreis. Aber auch dieses Verfahren hatte seinen Preis.

Eine Schlammlawine, die sich über Häuser und Menschen ergoss

Aus einem Rückhaltebecken der Ungarischen Aluminium Produktions- und Handels AG (MAL AG), neben der kleinen Stadt Ajka gelegen, haben sich nach einem Dammbruch viele Hunderttausend Kubikmeter giftigen Rotschlamms in die Landschaft ergossen. Drei Ortschaften und die landwirtschaftlich genutzten Flächen in der Umgebung wurden verseucht; auch die Gewässer.

Acht Menschenleben hat die Katastrophe bislang gefordert, als der 65 Meter breite Damm brach. Zwei Vermisste wurden in vier Kilometern Entfernung tot aufgefunden. Soweit hatte der Schlamm sie offenbar wie eine reißende Flut mitgerissen. Verbrennungen und Verätzungen sowie Nierenversagen wurden bei einem weiteren zunächst vermissten Mann nach seinem Auffinden als Todesursache festgestellt. Am vergangenen Sonntag waren 60 Personen noch im Krankenhaus, davon etliche noch in einem kritischen Zustand.

Das schöne Wetter, das eingesetzt hat, ist gut und schlecht zugleich. Die „Wasserzufuhr“ von oben ist beendet. Aber jetzt bedroht giftiger Staub die Einwohner der Dörfer und die Helfer. Seit Sonntagabend müssen Atemmasken und Schutzbrillen in den betroffenen Gebieten getragen werden. Der Schlamm ist inzwischen rasch getrocknet, nun aber kann die toxische Staubkonzentration in der Luft die Gesundheit der Menschen gefährden. Der giftige Staub reizt die Haut, die Schleimhäute und die Augen. Die Helfer sind mit Gummistiefeln, Handschuhen, dicht verschlossener Kleidung sowie Schutzmasken und Brillen ausgestattet. Wer dennoch mit Staub oder Schlamm in Berührung gekommen ist, der muss sich unmittelbar mit sauberem Wasser reinigen.

Ein weiterer Dammbruch droht

Am Wochenende drohte ein weiterer Dammbruch. Es gibt insgesamt 10 Kassetten, in die der Schlamm aus inzwischen fast 70 Jahren Aluminiumproduktion abgelagert worden ist. Begonnen wurde 1942. Aluminium für die deutsche Flugzeugproduktion. Seitdem wurden die Produktionsrückstände auf insgesamt 175 Hektar Land abgelagert. Bauxitschlamm – die rote Farbe rührt aus der roten Tonerde, aus der der Stoff herausgelöst wird, der zu Aluminium verarbeitet wird. Bauxit wurde zunächst vor Ort abgebaut. Jetzt wird die Tonerde aus Bosnien herbeigeschafft.

Die Gefahr einer zweiten Giftschlamm-Welle ist auch jetzt noch nicht gebannt. Es wird daher an einem 6 Meter hohen Schutzdamm unweit vom fraglichen Beckendamm gebaut. Während die erste Schlammlawine rund 800.000 Kubikmeter Material fortspülte, könnte eine nachfolgende Welle sogar mehr als 1,5 Millionen Kubikmeter umfassen. Ca. 2,5 Millionen befinden sich insgesamt noch im Becken. Insgesamt sind es wohl 30 Millionen Kubikmeter Schlammablagerungen, die in den genannten Kassetten deponiert sind. Die Schutzmauer würde wohl nicht imstande sein, die Flut der speziell noch gefährdeten Kassette aufzuhalten; sie soll wohl nur die Richtung einer zu erwartenden Schlammlawine in eine gewünschte Sektion lenken, dass die noch erhaltenen Ortsteile nicht auch noch zerstört und unbewohnbar werden. Die Flüsse Tolna und der ohnehin bereits betroffene Marcal werden in diesem Fall wohl "geopfert" werden müssen. Erst später sei dann über ein Auffangbecken zu reden, meinte der für die Umweltmaßnahmen zuständige Staatssekretär Zoltán Illés. Die zunächst auch zu hörende Befürchtung, dass die Donau betroffen sein könnte, scheint sich nicht zu bestätigen. Die Durchmischung des Donauwassers mit einsickerndem belastetem Eintrag von Schadgewässer geht offenbar, wenn, sehr schnell. Messungen haben in der Donau anhaltend Normwerte ergeben.

Menschen stehen vor dem Nichts

Die Menschen haben nach der ersten Welle vielfach nicht nur ihre Häuser, Bleibe und Existenz verloren. Sie stehen buchstäblich vor dem Nichts. Die Betreiber der MAL AG, die in den vergangenen Jahren und bis heute satt an der offenbar ohne viel Rücksicht auf Verluste gepuschten Aluminiumproduktion verdient haben, sind Berichten zufolge mit 38.000 Euro nicht nur unglaublich unterversichert, sie behaupteten zunächst auch noch, im Falle einer solchen "Naturkatastrophe" überhaupt nicht zuständig für Entschädigungen oder Hilfen zu sein. Im Gegenteil: Sie drohen Mitarbeiter der jetzt 3000 Köpfe zählenden Belegschaft zu entlassen, weil die Regierung die Produktion der Aluminiumfabrik und damit den weiteren Ausstoß von giftigen Wässern und Schlämmen zunächst stoppte. Von 1000 Entlassungen war die Rede. Zu hören ist auch, dass der Arbeitgeber Arbeitnehmer, die zu spät an ihrer Arbeitsstelle eingetroffen seien, vereinzelt mit der Kündigung bedroht habe. Auch die Versicherungsunternehmen haben verlauten lassen, dass sie sich nicht zuständig fühlten, sonstige bestehende Versicherungen der Bürger in der Region zu bedienen, denn unter dem Begriff Überschwemmung sei "etwas anderes" gemeint. Immerhin ließen die Eigner der Aluminiumproduktion – sie gehören zu den 30 reichsten Ungarn – inzwischen leisere Töne vernehmen: Sie seien zu einer gewissen Hilfe bereit. In den Besitz der Anlage kamen diese Eigner nach der Wende im Rahmen von insgesamt auch in Ungarn teils sehr merkwürdig verlaufenen Privatisierungen. Die hier in Rede stehende Grube der Ajkai Aluminiumipari Kft. wurde 1997 privatisiert. Der Geschäftsanteil wurde auf 1.768 Milliarden Forint bemessen, der Verkaufserlös betrug schließlich 10 Millionen Forint.

Die Katastrophe und die Agenda der neuen ungarischen Regierung

Eigentlich sollten in diesen Tagen für die neue Regierung Orbán Steuerpläne und Etatfragen im Vordergrund stehen. Die Rotschlammkatastrophe hat die Agenda von einem Tag auf den anderen komplett verändert. Die wichtigsten Regierungsmitglieder geben sich vor Ort die Klinke in die Hand. Es kommt zunächst darauf an, den betroffenen Menschen in der Region, die die schiere Existenzangst umtreibt, Sicherheit zu geben, dass ihnen geholfen wird. Für alle Geschädigten werde gesorgt, versichert daher Ministerpräsident Viktor Orbán selbst den Menschen vor Ort. Und er erläuterte selbst die einzelnen Möglichkeiten der Hilfe. Ihm wird allenthalben bescheinigt, in dieser Tragödie eine gute Arbeit zu machen. Für das, was hier, mutmaßlich durch Fahrlässigkeit und Gewinnsucht gefördert, an Katastrophe entstanden ist, kann man die neue Regierung ohnehin nicht verantwortlich machen. Für die Problemlösung zuständig ist die Regierung aber allemal. So hat die Regierung bereits einen zentralen Katastrophenfonds angekündigt, um den Opfern und Geschädigten eine erste Hilfe zu leisten. Es wird ohnehin vielen nicht das wiedergegeben werden können, was sie verloren haben. Das sagen Bauern, die im Rotschlamm auf ihren vergifteten Feldern stehen, auf denen zu ihren Lebzeiten schwerlich noch einmal etwas Genießbares angebaut werden kann. Es ist die Rede von Bodenaustausch, aber das ist angesichts der Dimensionen von Flächen, die hier kontaminiert sind, absurd. Es läuft wohl auf Aussiedlungen hinaus für diejenigen, die bereit sind, nochmals von vorne anzufangen. Und natürlich auf Ersatzhäuser für diejenigen, die ihre Bleibe verloren haben. Eine neue Heimat hier oder anderswo.

Kraftvolles Regierungshandeln wird erwartet und demonstriert

Es ist tatsächlich auch eine Nagelprobe für die Fähigkeit der neuen Regierung, ein solches Mega-Problem in den Griff zu bekommen. Nicht nur die von der Katastrophe unmittelbar Betroffenen erwarten von der Regierung kraftvolles Handeln. Ministerpräsident Orbán ist offenbar dazu willens und in der Lage. Der Generaldirektor von MAL, Dritteleigner des Unternehmens, wurde gestern Mittag verhaftet.

Orbán verkündete in einer Regierungserklärung vor dem Parlament, dass das Unternehmen MAL unter Staatsaufsicht gestellt sei. Die Finanzmittel wurden eingefroren. Ein Regierungskommissar hat die Leitung des Unternehmens übernommen und dessen Kontrolle. Bei den Maßnahmen gehe es vor allem darum, dass die Privatinteressen nicht dem öffentlichen Interesse vorangestellt würden, betonte der Ministerpräsident. Auch solle verhindert werden, dass Vermögenswerte ins Ausland geschafft würden. Für die Schäden der Umweltkatastrophe gelte das Verursacherprinzip. Dies sei nicht Sache des Steuerzahlers, sondern des Eigners. Auch soll durch die Einsetzung des Regierungskommissars offenbar dafür gesorgt werden, dass der Betrieb der MAL nicht eingestellt werden muss, was die Arbeitslosigkeit einer erheblich großen Anzahl von Arbeitnehmern zur Folge hätte.

Die gesamte Privatisierung könnte auf dem Prüfstand stehen

Das Unglück wird Folgen haben. Natürlich für die Verantwortlichen, wenn sich herausstellt, was nicht nur schief gelaufen ist, sondern was es möglicherweise an kriminellen Handlungen etwa bei der Wahrnehmung oder Umgehung von Kontrollen und Sicherheitsmaßnahmen gegeben hat; speziell auch bei Genehmigungsverfahren, wenn Erweiterungen etc. vorgenommen wurden. Das rechtssicher herauszufinden wird Aufgabe von Ermittlungsbehörden, Staatsanwaltschaft und Gerichten sein. Umfassende Rechtsstaatlichkeit und –sicherheit wird bei allem Zorn über die Verursacher und das Verhalten der Eigner zwingend geboten sein. Es wäre mehr als unglücklich, wenn etwa Gerichte im Nachhinein die Maßnahmen der Regierung in Frage stellten.

Folgen wird das Unglück aber auch für eine notwendige Aufarbeitung von Verfahren der Privatisierung haben, von denen nicht nur wenige wissen, dass da manches nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Die Liste allein der Aluminiumwerke, die durch vergleichbare Privatisierungsverfahren gelaufen sind, ist lang. Einer der neuen Eigner einer Aluminiumfabrik ist der frühere Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány. Wohlgemerkt ist er nicht Eigner dieser Unglücksanlage von MAL.

Bei fast allen Privatisierungsverfahren fällt schon die gewaltige Diskrepanz zwischen dem mutmaßlichen Wert des Unternehmens und dem dann in der Realität gezahlten Kaufpreis auf. Aber das wird, soviel ist sicher, nicht die einzige Unstimmigkeit sein.

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