Niemand wird bestreiten, dass die Katholische Soziallehre und die Evangelische Sozialethik auf den Inhalt der westdeutschen Landesverfassungen und insbesondere auf das Grundgesetz entscheidenden Einfluss ausgeübt haben. Die advocatio dei in der Präambel unseres Grundgesetzes und sein erster Satz im ersten Artikel – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – sind dafür oft zitierte Beispiele. Im Laufe der letzten Jahrzehnte aber hat dieser Einfluss sichtlich nachgelassen. Die Zahl der sozialethischen Lehrstühle an deutschen Hochschulen hat zwar stark zugenommen, überzeugende Beiträge aber sind in gleichem Maße seltener geworden. Aus diesem Grund hat unsere Stiftung vor einigen Jahren die Initiative ergriffen und einige herausragende Repräsentanten der Christlichen Soziallehre zu einem ökumenischen Gesprächskreis eingeladen – getragen von der Überzeugung, dass die Evangelische Sozialethik und die Katholische Soziallehre „Baugesetze der Gesellschaft parat halten, die auch den möglichen Erdbeben der Zukunft standhalten“, wie es Bischof Franz-Josef Bode einmal optimistisch ausgedrückt hat.
Dieser Gesprächskreis hat sehr zügig ein gemeinsames Grundsatzpapier Im Zentrum Menschenwürde – politisches Handeln aus christlicher Verantwortung – christliche Ethik als Orientierungshilfe vorgelegt und damit den Menschen mit seiner unantastbaren Würde in den Mittelpunkt allen sozialen Handelns gestellt. Dieses Dokument hat weite Aufmerksamkeit gefunden und die Diskussion erfreulich bereichert. Dadurch ermutigt, hat der Gesprächskreis seine Arbeit mit Überlegungen zum Begriff des Gemeinwohls fortgesetzt und jetzt auch hierzu ein Papier erarbeitet. In Rückbindung zu seiner ersten Veröffentlichung will er Gesichtspunkte katholischer und evangelischer Theologie verbinden und einen gemeinsamen christlichen Ansatz bieten, der die allgemeine politische Diskussion befördern und ihr ein ethisches Fundament geben soll. Weil der Mensch als soziales Wesen definiert ist, konkretisiert sich die Würde des Menschen im Gemeinwohl. Der Gesprächskreis hat sich diesem Thema über viele Monate mit Ausdauer und großer Geduld gewidmet und hofft auch hier auf eine gute, fruchtbare und weiterführende Resonanz.
Vor allem erhoffen sich die Autoren für die Arbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung selbst, im Inland, in Europa und in ihrer internationalen Arbeit in den Schwellen- und Entwicklungsländern neue konzeptionelle Impulse geben zu können.
Dem Individuum kann es nur gut gehen, wenn an alle gedacht ist
Unser demokratischer Verfassungsstaat erschöpft sich nicht in den Rechten und Pflichten des Einzelnen. Er wird dem Einzelnen nur Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn das Wohl aller, das Gemeinwohl, die gute Ordnung für die ganze Gesellschaft im Mittelpunkt steht. Dem Individuum kann es nur gut gehen, wenn an alle gedacht wird, wenn keiner verloren geht. Ziel der Politik muss das Gemeinwohl sein, das allgemeine Beste, das bonum commune, der gerechte Ausgleich der oft heftig widerstreitenden Interessen.
Erfreulicherweise beabsichtigt die Hauptabteilung Politik und Beratung, ab Herbst Themen wie „Gemeinwohl und Freiheit“, „Gemeinwohl und Wohlstand“, „Gemeinwohl und Bildung“ zu setzen.
Was die internationale Arbeit der Stiftung betrifft, so dürften sich jetzt für sie neue Chancen eröffnen, weil immer deutlicher wird, dass zu unseren „Exportartikeln“ eben nicht nur Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gehören, sondern auch die Botschaft, dass zu guter Regierungsführung vor allem das Wohl aller Bürger gehört.
Debatte über die Anforderungen einer solidarischen Gesellschaft
Der letzte Evangelische Kirchentag mit seinem Leitwort „Soviel du brauchst“ und seiner breiten Diskussion über die Anforderungen an eine solidarische Gesellschaft hat diesbezüglich ebenso neue Zeichen gesetzt wie die Wahl eines Papstes aus einem Schwellen-Kontinent, der offensichtlich die Sorge um die Armen in den Mittelpunkt seines Pontifikates stellen will.
Das Streben nach dem Gemeinwohl hat als Grundbegriff für eine ethisch verantwortete Gestaltung der Gesellschaft seit der Antike eine lange Tradition. Wir tun gut daran, diesen Grundbegriff wieder neu zu beleben.
Bernhard Vogel, Ehrenvorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, Herausgeber dieser Zeitschrift
Literatur
Bernhard Vogel (Hrsg.): Gemeinwohl oder: Die gute Ordnung für die Gesellschaft, Berlin 2013.