Das Ende der Arglosigkeit
Wie Politisierung auf TikTok funktioniert
Screenshot WELT/TikTok
Ein Meme, das im Mai 2025 auf der Plattform X seinen Ursprung hatte, dann aber vor allem auf TikTok viral ging, machte die Dimension der Alltagspolitisierung – und die für viele damit verbundene Anstrengung – sehr anschaulich. Unter dem Titel Propaganda I’m not falling for – in der deutschen Version „Propaganda, auf die ich nicht hereinfalle“ – posteten Leute meist eine ganze Liste von Meinungen und Dingen, die sie ablehnen.[1] Stolz verkündeten sie also, wie sehr sie bestimmte weltanschauliche oder konsumistische Moden als solche durchschauen, gaben damit aber zugleich zu erkennen, worin sie selbst überall Propaganda erblicken.
In wildem Durcheinander landeten auf den Listen von Feministinnen Begriffe wie etwa „Botox“, „Heiraten“, „die Pille“, „Tradwife“ und „Körperbehaarung abrasieren“; bei konservativeren Usern las man „offene Beziehungen“, „Skinny Jeans Comeback“, „Dating Apps“, „‚woke‘ Männer“, „flache Schuhe“, „Temu“ und „AfD“; Linke notierten auf ihren Listen Punkte wie „Matcha statt Kaffee“, „‚Old Money‘-Style“, „Dubai“, „ChatGPT“, „Vino-Verkostung“ und „Aktienrente“; bei stramm Rechten hieß es dafür „Corona-Impfung“, „LGBTQ“, „Taylor Swift“, „Hafermilch“, „ARD/ZDF“, „Bunte Haare“ und „Body Positivity“, und bei Veganern fand sich unter anderem „Kuh-Eiter in meinem Kaffee“, „Körperteile essen“, „jemandes Haut als Mode tragen“ und „Bio = Tierwohl“.
Da jeweils sowohl Dinge und Tätigkeiten als auch weltanschauliche Begriffe auf die Listen gesetzt wurden, führte jede Nennung letztlich zu einer Festigung und Verstärkung der symbolisch-politischen Aufladungen. Zuzustimmen ist daher der Kulturwissenschaftlerin Annekathrin Kohout, dass dieses Meme „Symptom einer Gegenwart [ist], die so hochpolitisiert ist, dass selbst eine Aussage über Schuhe unter Ideologieverdacht steht“. Vor allem aber weist Kohout darauf hin, dass „der Versuch, sich gegen vermeintliche Manipulation zu immunisieren, paradoxerweise neue Formen der Selbstmanipulation produziert. Denn wer alles als Propaganda verdächtigt, macht sich blind für die Unterschiede zwischen Marketingtricks, politischer Beeinflussung und schlichten Meinungsäußerungen“[2].
Folge dieser Blindheit wiederum ist es, dass der Matcha plötzlich genauso schlimm erscheint wie ChatGPT, dass bunte Haare ebenso stark triggern wie das gesamte öffentlich-rechtliche Fernsehen oder dass man sich über flache Schuhe nicht weniger aufregt als über die AfD. Da viele originell sein wollten, sind auch immer wieder neue Dinge auf den Listen gelandet, und wer sich für besonders hellhörig für vermeintliche Propaganda wähnt, hat ebenfalls den Ehrgeiz, etwas als Erster auf eine Liste zu schreiben und so als Propaganda zu enttarnen. Damit droht schließlich alles und jedes unter Ideologieverdacht zu geraten, und so sehr das Meme als Distanzierungsgeste gegen zu viel Vereinnahmung gestartet sein mag, so sehr hat es noch mehr an sich harmlose Dinge und Praktiken in den Strudel symbolisch-politischer Aufladung gezogen.
Phasen der propagandistischen Okkupation
Dennoch ist die Existenz dieses Memes zu begrüßen. Denn in ihm wurde die Mechanik der Politisierung, wie sie in den sozialen Medien und insbesondere auf TikTok stattfindet, also die geradezu systematische Verbindung und Vermischung an sich unpolitischer Alltagssujets mit Weltanschauungen, ja das fortwährende Kippen von unterhaltsam-konsumistischem Content in politische Propaganda, so sichtbar wie vielleicht niemals zuvor.[3] Zahlreiche zuerst unpolitische TikTok-Genres sind aufgrund dieser Mechanik in den letzten Jahren bereits so stark politisiert worden, dass sie sich schließlich in Propaganda verwandelt haben.
Die übliche Entwicklung einer propagandistischen Okkupation lässt sich dabei in vier Phasen unterteilen. Die erste Phase besteht darin, dass ein Genre, bei dem zuerst zum Beispiel nur eine Challenge zu erfüllen oder eine Fertigkeit unter Beweis zu stellen ist (damit wurde TikTok groß!), in dem Maß, in dem es sich etabliert, auch eine eigene Ästhetik und Dingkultur ausbildet. Diese wird in der zweiten Phase – sei es von Akteuren des Genres selbst oder aber von einem Teil der rezipierenden User – mit Themen in Beziehung gebracht, die noch nicht unbedingt eindeutig politisch sind, die jedoch schnell – durch entsprechende Hashtags oder neue Akteure – einen politischen Drall erhalten können. In der dritten Phase wird das Genre zunehmend als politisch wahrgenommen, zumal die zuerst vielleicht nur wenigen politisch-propagandistischen Videos auch die jeweiligen politischen Gegner auf den Plan rufen, die davon getriggert werden, diese Videos kommentieren, vielleicht sogar parodieren und auf diese Weise umso bekannter machen. In der vierten Phase entstehen innerhalb des Genres fast nur noch mehr oder weniger politische Inhalte, die sich vielleicht sogar noch weiter radikalisieren.
Vergangenheitslifestyle als eskapistische Verheißung
Das bekannteste Beispiel für eine derartige Politisierung ist wohl das Genre „Tradwife“ (das es bei jenem Anti-Propaganda-Meme nicht nur bei Feministinnen, sondern sogar im gesamten links-alternativen Spektrum auf viele Listen geschafft hat). Es begann damit, dass Frauen in Videos besondere Fähigkeiten beim Backen und Kochen unter Beweis gestellt, zum Teil aber auch Praktiken wie das Herstellen von Butter oder von Schokolade wiederbelebt haben, die infolge moderner Küchengeräte und oft schon fertig gekaufter Zutaten weitgehend ausgestorben sind. Je altmodischer das Repertoire an Tätigkeiten in den Videos wurde, desto häufiger verwendeten die Frauen für ihre Videos auch Settings wie anno dazumal, benutzten also altes Geschirr und kleideten sich wie vor fünfzig, hundert oder noch mehr Jahren. Damit bekam das Genre eine eigenständige, gut wiedererkennbare Ästhetik und wurde – auch als eskapistische Verheißung einer Alternative zum städtisch-modernen Leben – umso beliebter. Allerdings lag es nun auch nahe, den inszenierten Vergangenheitslifestyle mit Weltbildern aus der Vergangenheit zu koppeln. Vermehrt tauchten also Videos auf, in denen die Frauen, während sie ihrer Hausarbeit nachgehen, darüber sprechen, wie schön es doch sei, dem eigenen Mann zu dienen, ja wie sehr es die Bestimmung der Frau sei, für Haus und Familie zu sorgen. Die konservativ-reaktionäre Anmutung steigerte sich weiter, als das Genre auch für antifeministische Propaganda genutzt wurde, um das Patriarchat zu loben oder mit der Bibel zu begründen, dass die Frau dem Mann untertan sei. So wurde das unpolitische Genre zum Teil rechtsgerichtet, zum Teil christlich-fundamentalistisch und taucht mittlerweile längst in fast allen Texten auf, in denen vor einer politischen Radikalisierung durch TikTok gewarnt wird.[4]
Eine Politisierung hat auch der Content einer Szene erfahren, die sich unter #OldMoney sowie #OldMoneyStyle versammelt hat. Hier ging es zuerst – wiederum im Modus der Challenge – darum, sich mit möglichst wenig Geld einen möglichst teuer-gediegenen Look zuzulegen. Als jemand aus einem sozial eher schwachen Milieu auch einmal gut situiert oder etwas dandyhaft auszusehen, war eine reizvolle Aufgabe, und wer die entsprechenden Tricks in TikTok-Videos teilte, durfte sich sicher sein, viele Likes und Follower zu erhalten. Doch auch hier eröffnete sich infolge der ästhetischen Perfektionierung des Genres, in dem dann neben edel und aristokratisch anmutender Kleidung eine (vermeintlich) alte Dingwelt mit viel Patina in Szene gesetzt wurde, die Möglichkeit, ebenso vormoderne Weltbilder ins Spiel zu bringen. Da der antiquiert-vornehme Kleidungsstil auf traditionelle Rollenmuster einschwört, die einer streng binären Geschlechterordnung verpflichtet waren, hat sich #OldMoney etwa als geeignet erwiesen, um Propaganda gegen Queerness zu machen. Aber auch White Supremacy-Befürworter konnten hier gut andocken, ist die Welt des alten Geldes doch eine ausschließlich weiße, in der Kolonialismus und Imperialismus selbstverständlich sind. So hat sich dieses Genre mittlerweile ebenfalls radikalisiert, aber auch den virtuellen Raum überschritten, gibt es doch bereits Klubs, in denen sich die Protagonisten entsprechend rechtsradikalen #OldMoney-Szenen in passendem Ambiente – etwa auf einem Schloss – treffen, ihren Modestil und ihre Weltanschauungen also in real life, im wahren Leben, weiter einüben.[5] (Naheliegend, dass Old Money-Style daher bei Linken auch auf Anti-Propaganda-Listen auftaucht.)
Vereinnahmung von TikTok-Genres
Beim Genre „Morgenroutine“ ist der Prozess der Politisierung bis zur dritten Phase gelangt, vielleicht ist es jedoch auch zu groß und seinerseits zu fest etabliert (es wurde bereits auf YouTube groß, bevor es nunmehr vornehmlich auf TikTok seinen Ort hat), um zu einem größeren Teil radikalisiert werden zu können. Ursprüngliches Thema des Genres war es, vorzuführen, wie man gut in den Tag startet. Es ging um Schminktipps oder darum, welche Getränke zum Frühstück bekömmlich sind – jeweils verbunden mit viel Produktplatzierung. Nach und nach kamen allerdings immer mehr Themen dazu: Yoga, Fitness, Meditation, Aufräumen, Essen. Je mehr Routinen in das Programm aufgenommen wurden, desto mehr wurde es zugleich einem Professionalisierungsehrgeiz unterworfen, und wer ihm halbwegs gerecht werden will, muss mittlerweile einiges an Zeit (und Geld) investieren, denn die „Morgenroutine“-Videos fassen einen Zeitraum von drei bis vier Stunden zusammen; um all die Empfehlungen zu befolgen, sollte man um 6.00 Uhr, besser noch um 5.00 Uhr aufstehen. Damit erinnert das „Morgenroutine“-Programm an klösterlich-strenge Lebensformen – und das erst recht wegen der durchgängig asketisch-prüden Atmosphäre der Videos, in denen sich meist junge Frauen als Singles, trotz Themen wie Hautpflege und Hygiene jedoch gänzlich nichterotisch präsentieren, so als wären sie Nonnen. Und daher braucht nicht zu verwundern, wenn zunehmend eine religiöse Aufladung des Genres stattfindet, in den Videos etwa morgendliche Bibellektüre empfohlen wird. Manche werben für die Religion sogar genauso wie für ein Kosmetikprodukt oder ein Kleidungsstück und sind erfolgreich gerade wegen der auch hier wieder besonders markanten Verbindung von Dingen und Weltanschauung, Materiellem und Spirituellem, Konsum und Seelenheil.
Dass bei allen drei Beispielen eine Vereinnahmung eines Genres durch rechtsextreme oder christlich-fundamentalistische Propagandisten zu beobachten ist, zeugt von einem allgemeinen Trend. Wie gerade rechtsextreme Gruppierungen generell sehr engagiert und geschickt darin sind, ihre Ideologeme in den sozialen Medien attraktiv darzustellen und zu verbreiten, so scheinen sie auch gezielt nach Genres Ausschau zu halten, in denen gleichsam schon alles vorbereitet dafür ist, um an die jeweilige Dingwelt und Ästhetik anschließen und diese weltanschaulich überhöhen, mit einem ideologischen Spin versehen zu können. TikTok ist dabei die Plattform, auf der die meisten dieser Transformationsprozesse zu verfolgen sind – nicht nur, weil hier ein breites, oft junges, gut beeinflussbares Publikum zu erreichen ist, sondern auch, weil die simultane Darstellung von Alltagssujets sowie von persönlichen Meinungen hier von Anfang an Programm war. Dabei besteht das Ziel der politischen Akteure oftmals gar nicht darin, ein Genre komplett zu radikalisieren. Genauso wichtig wie extremer Content, der die bereits überzeugten Anhänger bindet und den politischen Gegner triggern soll, sind Postings, in denen, fein dosiert, nur jeweils einzelne Ideologeme angesprochen werden. Auf diese Weise versucht man, nach und nach den Boden für eine Normalisierung rechtsextremer Ansichten zu bereiten. Daher ist beim Scrollen durch TikTok Vorsicht geboten – wie gesagt: Für einen arglosen Blick ist hier kein Raum mehr.
Wolfgang Ullrich, geboren 1967 in München, Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler, unter anderem 2006 bis 2015 Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie, Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, seither freiberuflich in Leipzig als Autor, Kulturwissenschaftler und Berater tätig sowie Mitherausgeber der Buchreihe „Digitale Bildkulturen“.
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[1] Zur Genese und Verbreitung des Memes vgl. „Know Your Meme”, https://knowyourmeme.com/memes/propaganda-im-not-falling-for [letzter Zugriff: 15.07.2025].
[2] Annekathrin Kohout: „Propaganda, auf die ich nicht hereinfalle“, in: taz, 11.06.2025, https://taz.de/Propaganda-auf-die-ich-nicht-hereinfalle/!6090067/ [letzter Zugriff: 15.07.2025].
[3] Zu solchen „Kippfiguren“ als zentralem Charakteristikum von TikTok vgl. Isabell Otto: Tiktok. Ästhetik, Ökonomie und Mikropolitik überraschender Transformationen, Berlin 2023, S. 8ff.
[4] Detailliert und differenziert ist die Entwicklung der „Trad Wives“ beschrieben von Sophie Elmhirst: „The Rise and Fall of the Trad Wife“, in: The New Yorker, 29.03.2024, www.newyorker.com/culture/persons-of-interest/the-rise-and-fall-of-the-trad-wife; vgl. auch Katharina Schuster: „Warum der ‚Tradwife‘-Trend gefährlich ist“, in: zdfheute, 15.09.2024, www.zdfheute.de/politik/ausland/tradwife-bewegung-trend-tiktok-100.html [letzter Zugriff jeweils: 15.07.2025].
[5] Vgl. Taylor Lorenz: „A club where you pay thousands to make ‚old money’ content“, in: UserMag, 03.02.2025, www.usermag.co/p/old-money-content-private-club-quiet-luxury-tuxedosociety-tiktok-instagram [letzter Zugriff: 15.07.2025].