Enzykliken sind päpstliche Lehrschreiben, die Themen von grundsätzlicher und weltweiter Bedeutung aufgreifen und eingehend erörtern. Entsprechend diesem hohen Anspruch ist das Erscheinen einer Enzyklika kein alltägliches Ereignis. Sozialenzykliken wiederum sind eine Unterart der Gattung Enzyklika, sie beschäftigen sich vor allem mit Fragen der Politischen Ethik und der Wirtschaftsethik. Insofern kommen Sozialenzykliken noch einmal viel seltener vor als Enzykliken im Allgemeinen. Bis zum Pontifikat von Papst Johannes XXIII. (1958 bis 1963) hatte es überhaupt erst zwei Sozialenzykliken gegeben: 1891 Rerum Novarum, eine Auseinandersetzung mit der Arbeiterfrage, und 1931 Quadragesimo Anno, ebenfalls vor allem dem Thema der gerechten Wirtschaftsordnung, aber auch der Auseinandersetzung mit den aufkommenden totalitären Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts gewidmet.
Papst Johannes XXIII. allerdings veröffentlichte dann kurz hintereinander gleich zwei Sozialenzykliken: am 15. Mai 1961 Mater et Magistra und am 11. April 1963 Pacem in Terris. Wenn man diese beiden Texte, zwischen denen gerade einmal knapp zwei Jahre liegen, zur Hand nimmt, merkt man schnell, dass sich etwas verändert hatte, auch und insbesondere in der Art, wie die Kirche der Welt gegenübertreten wollte.
Kirche und Welt im neuen Verhältnis
Bereits der Adressatenkreis ist in Pacem in Terris bemerkenswert erweitert: Während der Papst in Mater et Magistra noch ausschließlich den Klerus und die „Christgläubigen des katholischen Erdkreises“ ansprach, wendet er sich in Pacem in Terris ausdrücklich auch an „alle Menschen guten Willens“. Und der erste programmatische Satz in Mater et Magistra lautete noch: „Mutter und Lehrmeisterin der Völker ist die katholische Kirche“, während es in Pacem in Terris heißt: „Der Friede auf Erden, nach dem alle Menschen zu allen Zeiten sehnlichst verlangten, kann nur dann begründet und gesichert werden, wenn die von Gott gesetzte Ordnung gewissenhaft beachtet wird.“
Diese Veränderung in Sprache und Weltsicht ist natürlich mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Zusammenhang zu sehen, das im Herbst 1962 eröffnet worden war. Papst Johannes XXIII. hatte mit Blick auf die Zielsetzung dieses Konzils den Begriff Aggiornamento („Verheutigung“) geprägt. Aggiornamento meint dabei keine simple Anpassung an den Zeitgeist, sondern ein Bemühen um die Inkulturation des Evangeliums in die Welt von heute. Da die Welt dauerndem Wandel und Veränderung unterworfen ist, ist das Aggiornamento auch kein Programmpunkt, der durch das Konzil einmalig abgearbeitet wurde, sondern eine im Lauf der Geschichte immer wieder von Neuem notwendige Aufgabe. Die ganze Kirchengeschichte kann insoweit als eine Geschichte des fortwährenden Aggiornamento gelesen werden, eines Aggiornamento, das in zweitausend Jahren zeitweise ins Stocken geraten sein mag, aber letztlich doch immer wieder vollzogen wurde.
Kirchengeschichtlicher Ausnahme- und Normalzustand
Aufgrund besonderer historischer Umstände war dieser Prozess des Aggiornamento im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts ins Stocken geraten. Das neuzeitliche Trauma der katholischen Kirche war die Französische Revolution, deren glorreiche Geschichte in der Terreur, der blutigen Terrorherrschaft der Jakobiner, ihr jähes Ende fand. Zu der Terreur gehörten auch die brutale Verfolgung der Kirche und der Versuch der systematischen Entchristianisierung Frankreichs. Diese tragische Geschichte bildete den Hintergrund der weltanschaulichen Auseinandersetzungen zwischen der katholischen Kirche und dem Staat beziehungsweise der modernen Staatsund Gesellschaftsordnung, durch die das neunzehnte Jahrhundert und auch noch das beginnende zwanzigste Jahrhundert kirchenpolitisch geprägt waren. Das war die Phase des katholischen Antimodernismus und Integralismus, also der Tendenz, sich in eine geistige und soziale katholische Wagenburg zurückzuziehen. Diesem katholischen Antimodernismus entsprach als Gegenstück ein in den bürgerlichen Eliten weit verbreiteter Antiklerikalismus, der den gesellschaftlichen Einfluss der katholischen Kirche möglichst weit zurückdrängen wollte.
Abschottung von der „Welt da draußen“
In den meisten deutschen Ländern etwa war den Katholiken der Weg in die Universitäten, das Offizierskorps, die Regierung und Verwaltung weitgehend versperrt. Höhepunkt dieser Auseinandersetzung war der Kulturkampf, der von dem preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzler Otto von Bismarck und den Nationalliberalen nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 gegen die katholische Kirche entfacht worden war. Bekanntlich schoss sich der Eiserne Kanzler mit dem Kulturkampf aber ein Eigentor, denn die so ausgegrenzten und marginalisierten Katholiken scharten sich in ihrem Bemühen um gesellschaftliche Selbstbehauptung trotzig um ihre Kirche. Man kann auch sagen: In gewisser Weise war ihr Antimodernismus und Integralismus – in der Terminologie von Georg Friedrich Wilhelm Hegel gesprochen – Teil eines „Kampfes um Anerkennung“.
Dieser katholische Kampf um soziale Anerkennung war durchaus erfolgreich. Es entstand das sprichwörtliche katholische Milieu, das die deutsche und andere europäische Gesellschaften mehr als hundert Jahre lang prägte. Die Kehrseite der katholischen Selbstbehauptung aber war eben die Abschottung der Kirche und des kirchlichen Milieus, die der „Welt da draußen“ zunehmend mit dem Generalverdacht der Sündhaftigkeit und Verfallenheit entgegentraten.
Diesem sklerotischen Zustand hat das Zweite Vatikanum ein Ende bereitet. Und noch einmal soll betont werden: Es handelte sich hierbei um einen kirchengeschichtlichen Ausnahmezustand. Das Aggiornamento des Konzils war also keine Revolution, sondern eher die Rückkehr zur Normalität. Und diese Rückkehr zum Normalzustand wurde möglich durch Einsicht auf beiden Seiten. Einerseits durch die Einsicht der Kirche, dass sie selbst ein Teil dieser Welt ist und dass der neuzeitliche Liberalismus letztlich zum eigenen Erbe gehört, kulturgeschichtlich vom Christentum nicht zu trennen ist. Andererseits aber auch durch die Einsicht im modernen Staatsdenken und Staatsrecht, dass eine Staatsund Gesellschaftsordnung nur dann freiheitlich ist, wenn auch die Religions- und Glaubensfreiheit und ebenso die freie Betätigung der Kirchen und religiösen Vereinigungen garantiert sind.
Zeichen der Zeit
Durch die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Gaudium et Spes ist das Anliegen des Aggiornamento in einer der bekanntesten Konzilsaussagen wie folgt auf den Punkt gebracht worden: „Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben. Es gilt also, die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen“ (Gaudium et Spes 4).
Diese berühmte Formulierung von den „Zeichen der Zeit“ und die damit verbundene Intention finden sich bereits in der Enzyklika Pacem in Terris. Die Enzyklika gliedert sich in fünf Hauptteile, wobei die ersten vier die klassischen staatsrechtlichen beziehungsweise völkerrechtlichen Bereiche in den Blick nehmen, während der fünfte Teil pastorale Hinweise enthält. Der erste Teil beschäftigt sich mit den staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten, der zweite Teil mit Fragen der Staatsorganisation und Staatsverfassung, der dritte Teil mit völkerrechtlichen Fragen und der vierte Teil mit der Organisation der Völkergemeinschaft; in diesem Zusammenhang fordert Papst Johannes XXIII., „dass eine universale politische Gewalt eingesetzt werden muss“ (Pacem in Terris 136). Papst Benedikt XVI. hat diese Forderung nach einer subsidiären ordnungspolitischen Gestaltungsmacht 2009 in seiner Enzyklika Caritas in Veritate noch einmal aufgegriffen und mit Blick auf die wirtschaftliche Globalisierung, die drängenden Fragen des Umweltschutzes und die internationale Friedenssicherung wiederholt und bekräftigt.
Jeder der ersten vier Teile in Pacem in Terris endet mit Hinweisen auf die „Zeichen der Zeit“. Zu diesen Zeichen zählt der Papst etwa die nach dem Zweiten Weltkrieg und der Erfahrung von nationalsozialistischer und stalinistischer Terrorherrschaft gewachsene Einsicht in die gleiche Würde aller Menschen und die Bedeutung der Menschenrechte. Eigens hebt Johannes XXIII. in diesem Zusammenhang die Rechte der Arbeiter und die Rechte der Frauen hervor. Und er begrüßt den weltweit wachsenden Widerstand gegen die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, ihrer wirtschaftlich-sozialen Stellung oder ihres Geschlechts. Mit Blick auf das Völkerrecht äußert der Papst seine Sorge über den Kalten Krieg und das „Gleichgewicht des Schreckens“ als scheinbar einzige Option der Friedenssicherung. Hoffnung gibt ihm in diesem Zusammenhang die Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945.
Das Neue und Aufsehenerregende an dieser Rede von den „Zeichen der Zeit“ war 1963, dass der Papst diese eben nicht nur als äußere Ereignisse in der Welt betrachtet, die die Kirche bloß zur Kenntnis nimmt, sondern als Erfahrungen, die die Kirche in der Welt selbst macht und die auch das kirchliche Denken, Reden und Handeln prägen. Die Welt ist für die Kirche damit nicht mehr nur ein Lehrort, an dem zeitlose Wahrheiten verkündet werden, sondern sie ist zugleich auch ein Lernort für die Kirche.
Das Wagnis der Öffnung
Bereits in seiner Rede „Gaudet Mater Ecclesia“ zur Eröffnung des Konzils am 11. Oktober 1962 zeigte sich Papst Johannes XXIII. betrübt über jene Kritiker des Aggiornamento, „die zwar von religiösem Eifer brennen, aber nicht genügend Sinn für die rechte Beurteilung der Dinge noch ein kluges Urteil walten lassen“ und sich deshalb nicht auf das Wagnis einer Kirche in der Welt einlassen wollten. „Sie meinen nämlich, in den heutigen Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft nur Untergang und Unheil zu erkennen. Sie reden unablässig davon, dass unsere Zeit im Vergleich zur Vergangenheit dauernd zum Schlechteren abgeglitten sei. Sie benehmen sich so, als hätten sie nichts aus der Geschichte gelernt, die eine Lehrmeisterin des Lebens ist, und als sei in den Zeiten früherer Konzilien, was die christliche Lehre, die Sitten und die Freiheit der Kirche betrifft, alles sauber und recht zugegangen. Wir aber sind völlig anderer Meinung als diese Unglückspropheten, die immer das Unheil voraussagen, als ob die Welt vor dem Untergange stünde. In der gegenwärtigen Entwicklung der menschlichen Ereignisse, durch welche die Menschheit in eine neue Ordnung einzutreten scheint, muss man viel eher einen verborgenen Plan der göttlichen Vorsehung anerkennen.“
Diesen Geist einer aus tiefem Gottvertrauen genährten Zuversicht atmet auch die Enzyklika Pacem in Terris. Und wenn man sie nach fünfzig Jahren wieder zur Hand nimmt und neu liest, kann sie mit dieser Zuversicht eine bleibende Ermutigung sein. Christen sollten nicht die pessimistischen Untergangspropheten der Gegenwart sein, die nur fortwährend die Säkularisierung und den Verlust christlicher Werte beklagen. Das christliche Erbe ist nach wie vor sehr lebendig in Deutschland und Europa. Auch heute können und sollen Christinnen und Christen selbstbewusst in die Welt hinausgehen und Politik und Gesellschaft aus christlicher Weltverantwortung mitgestalten.
Arnd Küppers, geboren 1973 in Rheydt, seit September 2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Stellvertretender Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ), Mönchengladbach.
Peter Schallenberg, geboren 1963 in Oberhausen, seit 2008 Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie und Ethik an der Theologischen Fakultät Paderborn, seit April 2010 Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle (KSZ), Mönchengladbach.