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Anmerkungen zur Zuwanderungsdebatte

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Die gute Nachricht ist: Wir werden nicht weniger, jedenfalls vorläufig. Die Bevölkerung ist in Deutschland 2013 sogar von 80,5 Millionen auf 80,8 Millionen angestiegen. Seit drei Jahren überschreitet die Nettozuwanderung die Lücke zwischen Geburten und Sterbefällen. Für das vergangene Jahr schätzt das Statistische Bundesamt die Nettozuwanderung auf mehr als 400.000 Personen, so hoch, wie seit 1993 nicht mehr. Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ordnet die Entwicklung folgendermaßen ein: „Um das Erwerbspersonenpotenzial stabil auf dem gegenwärtigen Niveau zu halten, wäre eine Nettozuwanderung von 400.000 Personen p. a. notwendig. Ein jährlicher Wanderungssaldo in einer Größenordnung von 400.000 Personen über mehrere Dekaden ist jedoch nicht wahrscheinlich, wenn man realistische Annahmen über die Einwanderungspolitik, die demografische Struktur potenzieller Herkunftsländer und die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland und den Herkunftsländern zu Grunde legt.“

Dauerhaft rechnet er mit einer Nettozuwanderung von 200.000 Personen pro Jahr. Der Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials könne demnach zwar nicht gestoppt, aber deutlich abgemildert werden.

 

Was die Deutschen sagen

Die Bedeutung der Zuwanderung für die Wirtschaft ist durchaus im allgemeinen Bewusstsein verankert. Im ARD-DeutschlandTrend vom Januar 2014 überraschten die Befragten mit einem Stimmungswechsel: Mehr als zwei Drittel befürworteten die Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften. 68 Prozent der Befragten zeigten sich überzeugt, dass die deutsche Wirtschaft Zuwanderer brauche. Siebzig Prozent waren jedoch auch dafür, dass EU-Bürger, die in Deutschland keine Anstellung finden, das Land wieder verlassen müssten. Mit 76 Prozent ist ein noch größerer Anteil der Befragten der Meinung, dass sich die politischen Parteien nicht genügend um die Probleme kümmerten, die durch die Zuwanderung entstehen. Als persönlich betroffen und ängstlich angesichts der Zuwanderungssituation empfinden sich 34 Prozent.

Insgesamt zeigt sich eine positive und realistische Einstellung: Zuwanderung – ja, weil die Wirtschaft sie braucht und weil sie Deutschland zu einem offenen, modernen und innovativen Land macht. Aber ebenso wird gesehen, dass Liberalisierung und Zunahme der Mobilität von negativen Nebenwirkungen begleitet werden. Die Bürger erwarten von der Politik, diese Probleme ernst zu nehmen und ihnen entgegenzusteuern.

Dabei reichen ökonomische Begründungszusammenhänge in der Einwanderungspolitik allein nicht aus. Das zeigte beispielsweise der Volksentscheid gegen die „Massenzuwanderung“ in der Schweiz.

 

Was die Schweizer sagen

Das entscheidende Motiv für das Abstimmungsverhalten war nicht die Konkurrenz um Arbeitsplätze (in der Schweiz herrscht nahezu Vollbeschäftigung), sondern die Unzufriedenheit über die überlastete Infrastruktur besonders bei Verkehr, Stadtplanung und Mietraum. Insofern sind der wirtschaftliche Nutzen der Zuwanderung und die Einflüsse auf das Lebensumfeld zwei Paar Schuhe.

Auch in Großbritannien bestimmt der Zugang zu sozialem Wohnraum, Schulen, Ärzten und anderen öffentlichen Dienstleistungen die Debatten um Zuwanderung. Dort wurden die Regeln für den Sozialhilfebezug von Zuwanderern aus dem Europäischen Wirtschaftsraum zuletzt präzisiert und verschärft.

In Deutschland geht es aktuell vor allem um die Frage, ob EU-Zuwanderer, die nicht in das System eingezahlt haben, Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen haben sollten. Die Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Christine Langenfeld, hält eine Klärung in Brüssel für notwendig und gibt zu bedenken: „Eine weitere Öffnung des Sozialsystems über das jetzige Maß hinaus würde sicher weitere Anreize für Wanderungen setzen, die das Sozialsystem in einer Weise belasten, die wiederum die Akzeptanz Europas in der Bevölkerung gefährdet.“

 

Rumänen und Bulgaren

Von der Freizügigkeit – und auch von den Zuwanderern aus Bulgarien und Rumänien – profitieren wir. Dabei sollte niemand die problematischen Auswirkungen übersehen, die nach politischen Lösungen verlangen. Auch der schnelle Anstieg der Zuwanderung von bulgarischen und rumänischen Roma in einige deutsche Städte gehört gewiss dazu.

Es geht darum, sich der Sachlage zu stellen. Dabei sollten insbesondere die christlich-demokratischen und konservativen Parteien in Europa darauf bedacht sein, „die bestehenden Integrations-, Sozial- und Sicherheitsgesetze so zu nutzen oder auch zu verschärfen, dass bestehende Parallelwelten, rechtsfreie Räume oder Missbrauch von Sozialleistungen ausgeschlossen werden“ (Karsten Grabow/ Florian Hartleb).

Entscheidend bei der gegenwärtigen Debatte ist jedoch, dass keine verallgemeinernde und exkludierende Grenze zwischen Einheimischen und Zuwanderern gezogen wird. „Tabu sollte die Generalisierung und gruppenbezogene Herabsetzung sein“, schreibt Christian Wulff 2013 in Neue Impulse für Integrationspolitik und hält populistischen Thesen entgegen: „Was mich stört, ist, dass der Eindruck erweckt wird, es sei ein Tabu, über Missstände zu sprechen.“ Auch weitere Beiträge in dieser Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung geben ihm Recht.


Katharina Senge, geboren 1982 in Erfurt, Koordinatorin für Zuwanderung und Integration, Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer-Stiftung.


Literatur

Borchard, Michael / Senge, Katharina (Hrsg.): Neue Impulse für die Integrationspolitik, Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Sankt Augustin/Berlin, 2013, https://www.kas.de/wf/de/33.36845/.

Grabow, Karsten / Hartleb, Florian: Europa – Nein Danke? Studie zum Aufstieg rechts- und nationalpopulistischer Parteien in Europa, Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Sankt Augustin/Berlin, 2014 (2. Auflage), http://www.kas.de/wf/de/33.36200/.

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