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„Ein Mittel des Friedens und des Dialogs“

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Rerum novarum, so lautet der Titel der ersten Sozialenzyklika, die am 15. Mai 1891 von Papst Leo XIII. veröffentlicht wurde. Rerum novarum – das sind die jeweils neuen sozialen Probleme, die durch die Geschichte hindurch das Materialobjekt der Katholischen Soziallehre bilden. Ursprünglich ging es um die Arbeiterfrage als die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, die der damalige Papst als das entscheidende Problem seiner Zeit erkannt hat. Seine Sozialkritik fokussiert den Pauperismus, der nicht die „übliche“ Armut meint, sondern die spezifische, mit der industriellen Revolution entstehende Massenarmut, die in ihren Konsequenzen eine eigene Qualität hat.
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Leo XIII., von 1878 bis 1903 der 256. Papst und Verfasser der Sozialenzyklika „Rerum novarum“. Porträtaufnahme, 13. April 1878.

Gerechtigkeit zu realisieren, ist mit Blick auf die jeweilige soziale Frage das zentrale Anliegen. Dies wird bereits im Kontext des 19. Jahrhunderts eine Aufgabe der Gesellschaft und nicht allein des Einzelnen oder des Staates. Diese erste Enzyklika wurde zum Fundament der inzwischen knapp 135-jährigen Tradition der päpstlichen Sozialverkündigung. Die Päpste würdigen immer wieder zu Jubiläumsjahren von Rerum novarum die bisherige Tradition und widmen sich zugleich den jeweils neuen sozialen Fragen.

 

Rerum novarum 2.0 – eine neue Dimension

Daran knüpft Papst Leo XIV. an; er stellt sich in diese Tradition, unterscheidet sich aber auch von den bisherigen Bezugnahmen. Verschiedene neue inhaltliche Stränge der Soziallehre lassen sich in der bisherigen Sozialverkündigung neben der Arbeiterfrage identifizieren: die Frage nach Fortschritt und Entwicklung, nach Menschenrechten und Frieden sowie nach der Bewahrung der Schöpfung. Hierzu addiert Papst Leo XIV. nicht einfach eine weitere Dimension, sondern er bezeichnet die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz als eine zweite industrielle Revolution, die – mit der ersten vergleichbar – Konsequenzen für alle Bereiche unserer Wirklichkeit zeitigt.

Lehramtliche Vorarbeiten für diese Thematik gibt es bereits: Der Bochumer Theologe Thomas Söding verweist auf ein noch unter Papst Franziskus veröffentlichtes Papier, das sich differenziert und kenntnisreich mit der Künstlichen Intelligenz beschäftigt: Antiqua et Nova (AN).[2] Das Dokument setzt eine umfassende integrale Anthropologie in Kontrast zu dem, was unter dem Begriff der Künstlichen Intelligenz zu fassen ist: Die „Intelligenz“ eines Systems wird funktional und mit Bezug auf spezifische intellektuelle Aufgaben beschrieben (vgl. AN 11). Im Unterschied dazu sei bei der Rede von menschlicher Intelligenz die volle Bandbreite menschlicher Erfahrung zu berücksichtigen, das impliziere Leiblichkeit und Vernünftigkeit, Relationalität, aber auch Emotionen, Kreativität, der Sinn für Ästhetik, Moral und Religion (vgl. AN 13-29). Beide Formen der Intelligenz seien deswegen nicht miteinander vergleichbar: „So vieles, was wir als Menschen erleben, eröffnet uns neue Horizonte und bietet uns die Möglichkeit, eine neue Weisheit zu erlangen. Kein Gerät, das nur mit Daten arbeitet, kann mit diesen und so vielen anderen Erfahrungen in unserem Leben mithalten.“ (AN 33) In diesem Papier wird jede Einseitigkeit vermieden – sowohl im Blick auf den Menschen als auch auf die Technologie; letztere wird weder verherrlicht noch verteufelt. Vielmehr wird sie als Möglichkeit begriffen, „dem Wahren und Guten auf die Spur zu kommen“[3]. Damit sind bereits zentrale Fragen der moralischen Verantwortung und Ethik angesprochen, die für alle menschlichen und gesellschaftlichen Bereiche, in denen Künstliche Intelligenz zum Einsatz komme, zu stellen sind. Als höchstes Kriterium zur Differenzierung wird die Würde des Menschen und, damit verbunden, das Gemeinwohl genannt (vgl. AN 43; 47).

Wenn Papst Leo XIV. die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz und ihre Bedeutung für die heutige Gesellschaft der der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gleichstellt – man könnte von Rerum novarum 2.0 sprechen –, betritt er also lehramtlich kein Neuland. Er würde, so Thomas Söding, jedes Wort dieses römischen Papiers unterschreiben.[4] Es bleibt eine spannende Frage, welcher Thematik sich Leo XIV. in seiner ersten Sozialenzyklika widmen wird.

 

Anschluss an die sozialethische Tradition

Dass über diese Perspektive der Künstlichen Intelligenz auch der Bezug zu einem Grundstein der sozialethischen Tradition, nämlich zum Bereich der menschlichen Arbeit, gegeben ist, den Papst Leo XIV. auch bei seiner Namenswahlbegründung aufruft, liegt angesichts der aktuellen Entwicklungen auf der Hand: Wenn Arbeit Teil des Lebens ist und gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, wenn sie die Grundlage für eine gute Zukunft schafft und in der Gesellschaft ihre versöhnende Kraft entfalten will,[5] dann muss es zentrales Ziel aller christlich-ethischen Bemühungen sein, das humane Profil von Arbeit und speziell Erwerbsarbeit zu erhalten und zu stärken sowie Künstliche Intelligenz sinnvoll in diese Prozesse zu integrieren – zum Wohl des einzelnen Menschen und der Gesellschaft.

Zugleich ruft Leo XIV. bei der Begründung seiner Namenswahl auch den für die Soziallehre fundamentalen Wert der Gerechtigkeit auf. Damit ist er mitten in der sozial-ethischen Tradition der Kirche und zugleich in den zentralen Fragen der Gegenwart angekommen, für die „die Kirche allen den Schatz ihrer Soziallehre an[bietet]“[6].

 

Nicht Indoktrinierung, sondern Diskurs

Die Soziallehre der Kirche ist Leo XIV. zufolge nicht als ein fest gefügtes Gebäude von Lehrsätzen zu verstehen, die für alle neu aufkommenden Fragen bereits eine klare Antwort vorgeben, sodass ihre Vertreter sich im „Besitz der Wahrheit“ wähnen könnten. Vielmehr gehe es um einen Modus, sich neuen Herausforderungen zu stellen. „Denn die Soziallehre erzieht uns dazu zu erkennen, dass wichtiger als die Probleme oder die Antworten darauf die Weise ist, wie wir ihnen begegnen, mit Bewertungskriterien und ethischen Grundsätzen und mit der Offenheit gegenüber der Gnade Gottes.“[7] Nicht „übereilte Antworten“, sondern ein Sich-Annähern-Können, „sich den Problemen […] stellen, die immer verschieden sind“. Der Papst macht das entscheidende Prinzip von Wissenschaft stark: Er plädiert für einen Diskurs verschiedener Disziplinen, auch auf der Basis von Empirie – ein Modus, der in der heutigen Zeit der Fake News, der Wissenschaftsfeindlichkeit und der Diskursverweigerung von nicht zu überschätzender Bedeutung ist. Eine so verstandene Lehre als „Frucht der Forschung und […] von Hypothesen, Stimmen, Fortschritten und Misserfolgen, durch die sie versucht, eine verlässliche, geordnete und systematische Erkenntnis über eine bestimmte Frage weiterzugeben“, erweist sich damit als anschlussfähig an die Diskurse der Gegenwart. So kann die Soziallehre einen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme leisten und ihrem Auftrag gerecht werden, mit allen Menschen „guten Willens“ ins Gespräch zu kommen.

Auch in der aktuellen Debatte um die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie der theologischen Ethik scheint das eine wegweisende Positionierung: Leo XIV. spricht sich mithin gegen eine Fokussierung auf naturrechtliche Festlegungen einer divinisierten und verabsolutierten Ordnung aus, sondern vielmehr für den Dialog mit den Human-, Sozial- und Naturwissenschaften, deren Erkenntnisse unverzichtbar sind, um die Soziallehre auch essenziell weiterzuentwickeln. Die Kirche hat dem Zweiten Vatikanischen Konzil zufolge die Aufgabe, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten“ (Gaudium et spes [GS] 4). Demzufolge soll sie eine hörende und lernende Kirche sein, die offen und sensibel für die Anliegen der Menschen von heute ist und wahrnimmt, was deren Freude und Hoffnung, Trauer und Ängste sind.

 

Frieden stiften nach außen und innen

„Friede sei mit euch“, das waren die ersten Worte, mit denen Papst Leo XIV. von der Loggia des Petersdoms die Menschen auf dem Petersplatz begrüßte – und das am 8. Mai, genau achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Diese Worte haben für ihn zweifelsfrei programmatische Bedeutung; er greift damit auch ein zentrales Motiv der christlichen Soziallehre auf. Zum einen meint er damit den Weltfrieden, den er angesichts der unterschiedlichen Kriegsschauplätze in der Welt eindringlich betont. Sowohl mit Blick auf den Krieg in der Ukraine als auch im Blick auf den Krieg im Gazastreifen hat er sich bereits deutlicher als sein Vorgänger positioniert. Aber neben dem „äußere[n] Frieden […] scheint [Leo] auch den inneren Frieden zu meinen“[8], den internen Frieden innerhalb des privaten Lebens, in den vielfältig zerrissenen Gesellschaften sowie in der Kirche, „die neu ihre Einheit suchen muss und ihre Aufgabe in der Welt“[9]. Große Hoffnung richtet sich auf ihn als Person, verkörpert er doch in seiner Biografie bereits an mancher Wegmarke diese Position des Brückenbauers.

Die Soziallehre der Kirche selbst ist für Leo XIV. ein Instrument, ein „Mittel des Friedens und des Dialogs, um Brücken universaler Geschwisterlichkeit zu bauen“[10]. Er fordert sie auf, „Interpretationsschlüssel zu liefern, die Wissenschaft und Gewissen in Dialog bringen und so einen grundlegenden Beitrag zur Erkenntnis, zur Hoffnung und zum Frieden leisten“[11]. Für Papst Leo XIV. ist „das soziale Engagement“– vermutlich nicht nur das Engagement in face-to-face-Beziehungen, sondern auch die Gesellschaftsgestaltung – „untrennbar mit der Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat und mit einer missionarischen Kirche verbunden“[12]. Dabei geht es ihm nicht um Indoktrinierung und Propaganda, die vereinnahmt und sich den anderen überlegen fühlt.[13] Vielmehr verweist er etwa in seiner Predigt zum Pontifikatsbeginn am 18. Mai 2025 darauf, dass es ihm darum geht, in der Weltgesellschaft, „in diesem Teig ein kleines Stückchen Sauerteig [zu] sein“ [14]. Eine missionarische Kirche zu sein, impliziert vor allem mit Blick auf den ganzen Bereich des sozialen Engagements, sich auf den gelebten Glauben zu konzentrieren. Eindeutig ist der christliche Glaube für den Augustiner-Papst nicht eine Theorie, sondern die Praxis, „so zu lieben, wie Jesus es getan hat“ [15].

Noch wenige Wochen vor seiner Wahl zum Papst hat er diesen Gedanken in einem Post auf der Plattform X konkretisiert, wo er dem amerikanischen Vizepräsidenten J.D. Vance widersprochen hat. Dieser hatte versucht, den amerikanischen Umgang mit Geflüchteten theologisch zu rechtfertigen mit dem Verweis auf einen Stufenplan der Nächstenliebe (ordo amoris), bei dem die Geflüchteten ganz unten in der Rangordnung stünden. Kardinal Prevost formulierte: „JD Vance liegt falsch: Jesus verlangt von uns nicht, unsere Liebe zu anderen abzustufen“. [16]

Ein markantes Charakteristikum der Soziallehre unter Papst Leo XIV. scheint das zu sein, was er zugleich als Signum einer synodalen Kirche benennt – nämlich, „dass wir alle zusammen gehen und gemeinsam suchen, was der Herr in dieser unserer Zeit von uns verlangt.“ [17] Dass es hier im Blick auf die Gestaltung der Gesellschaft auch um eine gemeinsame Suche mit allen Menschen geht, unabhängig davon, ob sie alle christlichen Glaubensgrundsätze teilen, hat bereits Papst Franziskus immer wieder deutlich gemacht. Wir können den ersten Äußerungen des neuen Papstes zufolge zuversichtlich sein, dass dieser die Soziallehre der Kirche genauso als Gesprächsforum für die sozialen und gerechtigkeitsbezogenen Fragen der Gegenwart versteht.

 

[1] Ansprache des Heiligen Vaters Leo XIV. an das Kardinalskollegium, 10.05.2025, www.vatican.va/content/leo-xiv/de/speeches/2025/may/documents/20250510-collegio-cardinalizio.html [letzter Zugriff: 22.08.2025].
[2] Dikasterium für die Glaubenslehre, Antiqua et Nova. Note über das Verhältnis von künstlicher Intelligenz und menschlicher Intelligenz, 28.01.2025, www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_ddf_doc_20250128_antiqua-et-nova_ge.html [letzter Zugriff: 22.08.2025].
[3] Alexander Filipović: „Der Vatikan äußert sich über Künstliche Intelligenz. Verdienste und Grenzen des römischen Schreibens ‚Antiqua et nova‘“, in: Communio, 17.03.2025, www.herder.de/communio/gesellschaft verdienste-und-grenzen-des-roemischen-schreibens-antiqua-et-nova-der-vatikan-aeussert-sich-ueber-uenstliche-intelligenz/ [letzter Zugriff: 22.08.2025].

[4] Vgl. Thomas Söding: Wohin will die katholische Kirche? Die Weltsynode und Papst Leo XIV., Mainz 2025, S. 552.

[5] Vgl. Die deutschen Bischöfe – Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen: Die versöhnende Kraft der Arbeit. Ein Impulspapier, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn, 02.04.2025, www.dbk-shop.de/media/files_public/eee6be624966a6be715b65004f57eb06/DBK_1257.pdf [letzter Zugriff: 22.08.2025].

[6] Ansprache des Heiligen Vaters Leo XIV., a. a. O., siehe En. 1, www.vatican.va/content/leo-xiv/de/speeches/2025/may/documents/20250510-collegio-cardinalizio.html [letzter Zugriff: 22.08.2025].

[7] Ansprache von Papst Leo XIV. an die Mitglieder der Stiftung „Centesimus Annus pro Pontifice“, 17.05.2025, www.vatican.va/content/leo-xiv/de/speeches/2025/may/documents/20250517-centesimus-annus-pro-pontifice.html [letzter Zugriff: 22.08.2025]. Die Zitate in diesem Abschnitt sind, soweit nicht anders vermerkt, dieser Ansprache entnommen.

[8] Andreas R. Batlogg: Leo XIV. Der neue Papst, Freiburg 2025, S. 128.

[9] Thomas Söding, a. a. O., siehe En. 4, S. 552.

[10] Ansprache „Centesimus Annus pro Pontifice“, a. a. O., siehe En. 7.

[11] Ebd.

[12] Birgit Weiler: „Papst Leo XIV., ein Brückenbauer zwischen globalem Norden und globalem Süden“, in: feinschwarz. Theologisches Feuilleton, 30.05.2025, www.feinschwarz.net/papst-leo/ [letzter Zugriff: 22.08.2025].

[13] Vgl. Homilie des Heiligen Vaters während der Eucharistiefeier zum Pontifikatsbeginn, 18.05.2025, www.vatican.va/content/leo-xiv/de/homilies/2025/documents/20250518-inizio-pontificato.html [letzter Zugriff: 22.08.2025].

[14] Ebd.

[15] Ebd.

[16] Zitiert nach Die Zeit: „Papst Leo XIV. teilte Kritik an Vance und Trump“, 09.05.2025, www.zeit.de/gesellschaft/2025-05/papst-leo-kritik-donald-trumpjd-vance-migration [letzter Zugriff: 22.08.2025].

[17] Zitiert nach Andreas R. Batlogg, a. a. O., siehe En. 8, S. 155.

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