Die NSA-Affäre – was war das noch gleich? Interessiert das noch irgendjemanden? So konnte man noch vor einigen Wochen fragen. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass offenbar die Mobiltelefone der Bundeskanzlerin und anderer Spitzenpolitiker der Welt abgehört wurden. Die politischen Beben haben das Weiße Haus erreicht. Aber was ändert sich dadurch? Tatsächlich geht das Thema weiterhin alle an. Auch wenn dafür immer noch kaum einer auf die Straße geht. Zwar gab es in Deutschland Demonstrationen, an denen sogar regierende Politiker teilnahmen. Doch gerade das machte hellhörig: Was habt ihr eigentlich getan, so konnte der Bürger fragen – und: Was ist neu an der Sache?
In der Tat: Dass unsere Daten nicht sicher sind, ist ein alter Hut – was freilich nicht heißt, dass man sich damit abfinden muss. Nicht nur Datenschützer witzelten schon vor Jahren, man solle eine Nachricht lieber hinausbrüllen, als sie per E-Mail zu verschicken. Und dass in den Vereinigten Staaten insbesondere nach den kriegsähnlichen Anschlägen vom 11. September 2001 ein anderes Verständnis von Datenschutz herrschte, hat wohl kaum jemanden überrascht.
Überhaupt ist bis heute noch nicht gänzlich klar, was genau der amerikanische Geheimdienst NSA kann und macht – dies gilt auch für andere Dienste. Der „Whistleblower“ Edward Snowden hat Zug um Zug vieles enthüllt, was auf Anhieb nicht überprüfbar ist. Fantasien sind das aber schon deshalb nicht, weil der Kern schwerwiegender Vorwürfe von der amerikanischen Regierung zumindest indirekt bestätigt wurde. Die Rufe nach besserer Kontrolle in Amerika sprechen Bände.
„Nach deutschen Recht unverhältnismäßig“
Tatsächlich sind Geheimdienste kein Selbstzweck. Auch für sie gelten im Rechtsstaat Recht und Gesetz. Andererseits sollten wir Deutschen nicht so tun, als gelte überall das deutsche Datenschutzrecht. Es war ebenso gut gemeint wie bezeichnend, dass gleich zu Beginn der Datenaffäre nicht nur ein deutscher Anwaltsverein die amerikanischen Abhörmaßnahmen
„nach deutschem Recht unverhältnismäßig“ nannte. Nun ist es nur menschlich, an jegliches Handeln erst einmal die eigenen Maßstäbe anzulegen. Doch sollte eine solch grundlegende Kritik an einem verbündeten Staat erst einmal bei der Frage ansetzen, ob deutsches Recht überhaupt anwendbar ist. Und das ist eben nicht ohne Weiteres der Fall, wenn amerikanische Dienste auf amerikanischem Boden Netze anzapfen. Dieses Vorgehen ist womöglich auch mit dem Recht der Vereinigten Staaten vereinbar – jedenfalls, soweit Ausländer betroffen sind. Denn Amerika hat zum einen seit den Anschlägen vom 11. September 2001 seinen Diensten mehr Befugnisse gegeben. Vor allem aber hat es ein anderes Verständnis vom Datenschutz. Das Sammeln von Informationen ist demnach grundrechtlich unproblematisch; erst wenn der Staat konkrete Daten nutzen will, muss er sich rechtfertigen und bestimmten Vorgaben genügen – eine Sicht im Übrigen, die zwar nicht der deutschen entspricht, aber keineswegs absurd ist. So kann man darüber streiten, ob tatsächlich die bloße Speicherung von Verbindungsdaten bei Telekommunikationsunternehmen ein erheblicher Grundrechtseingriff vom Gewicht etwa des Abhörens eines Telefongesprächs ist. Doch immerhin ist auch in Amerika davon die Rede, dass die Geheimdienste aus dem Ruder laufen. So nennt der amerikanische Rechtswissenschaftler Russell Miller die Vereinigten Staaten im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen „parteiübergreifenden Sicherheitsstaat“.
Deshalb ist es mehr als legitim und sollte für einen wichtigen Verbündeten selbstverständlich sein, wenn Deutsche (und andere europäische Staaten wie auch Institutionen) von Washington Auskunft verlangen, inwieweit die eigenen Bürger (Behörden gar?) abgehört werden, auf welcher Grundlage und nach welchen Maßstäben. Auch Vereinbarungen aufgrund des NATO-Truppenstatuts und fortgeltendes Besatzungsrecht normieren Voraussetzungen für Eingriffe. Flächendeckende Maßnahmen sind jedenfalls unzulässig – offenbar haben sich die Amerikaner ohnehin nicht darauf berufen.
Deutschland gilt heute noch als Feindstaat
Es war in jedem Fall höchste Zeit, dass das seit zwanzig Jahren nach offiziellem alliiertem Willen souveräne Deutschland darauf dringt, solche skandalösen Vorbehalte zu beseitigen – auch in der Charta der Vereinten Nationen gilt Deutschland noch heute als Feindstaat. Dazu braucht man freilich eine recht breite Mehrheit der Staatengemeinschaft – derzeit erscheint eine förmliche Änderung der Charta illusorisch. Man muss freilich auch sagen, dass diese Sonderrechte von vielen für obsolet gehalten werden. Auch ein Zusatzprotokoll zum Pakt über bürgerliche und politische Rechte, wie es die Bundesregierung zur Stärkung der Privatsphäre jetzt vorgeschlagen hat, würde Amerika nur binden, wenn es sich dem unterwürfe. Auch darüber muss man also mit der Regierung Obama reden.
Und das geschieht auch auf anderer Ebene. So haben sich die Vereinigten Staaten zu einem „No-Spy“-Abkommen mit Deutschland bereit erklärt. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass sich Behörden versichern, sie hielten sich an das Recht. Aber hier geht es um Geheimdienste. Und hier scheint diese Bekräftigung nötig zu sein. Wenn mit diesem angestrebten Vertrag verboten wird, dass Nachrichtendienste Regierungsstellen, Botschaften und Behörden des anderen Staates ausspähen, wenn die Sammlung von Daten untersagt werden soll, die sich gegen die Interessen des anderen Landes richtet, dann wäre das alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Das gilt ebenso für den beabsichtigten Verzicht auf Wirtschaftsspionage sowie auf das Ausforschen geistigen Eigentums. Denn Spionage ist völkerrechtlich nicht verboten. Nicht ohne Grund hat ja fast jeder Staat einen Geheimdienst – und das Auskundschaften fremder Länder wird seit Langem praktiziert. Für den Kriegsfall ist geregelt, im Übrigen auch für die Bundeswehr, dass Spione keinen Anspruch auf Behandlung als Kriegsgefangene haben. Sie können also – in einem ordentlichen Gerichtsverfahren – bestraft werden. Die Spionage als solche ist im Krieg nicht verboten, gilt aber, das klingt wie ein Widerspruch, wegen der für die Spione damit verbundenen Gefahren als „riskante Handlung“.
Spionieren: riskant, aber nicht grundsätzlich verboten
Das ist auch, wie die Späh-Affäre zeigt, eine gute Umschreibung für die Lage im Friedensvölkerrecht. Hier fehlt es an generellen Regelungen, erst recht an einem Verbot der Spionage. Freilich ist es allen Staaten untersagt, sich in die Angelegenheiten anderer Länder einzumischen, etwa ihre Agenten Waffenhandel betreiben zu lassen oder sich an Putschversuchen zu beteiligen. Für Diplomaten etwa gilt ausdrücklich, dass sie sich „mit allen rechtmäßigen Mitteln“ über die Verhältnisse in dem Land, in das sie entsandt wurden, informieren dürfen. Wer darüber hinausgeht und diplomatischen Status besitzt, kann in der Regel nicht belangt, aber zur Persona non grata erklärt und des Landes verwiesen werden. Spione genießen ansonsten generell keine Immunität – selbst im Kalten Krieg haben sich die gegnerischen Mächte nicht darauf berufen, wenn einer ihrer Agenten im Feindesland festgesetzt wurde. Im Übrigen verstößt die Informationsbeschaffung durch Agenten nicht ohne Weiteres gegen die Hoheitsrechte des Staates, in dem sie spionieren.
Allerdings ist auch kein Staat dazu verpflichtet, Spionagemaßnahmen zu dulden. Er kann etwa Ausspäh-Aktionen als „unfreundlichen Akt“ qualifizieren und entsprechend reagieren. Ja, ein Staat, der keine Spionage betreibt, könnte unter Umständen sogar seine Fürsorgepflicht für seine Staatsbürger verletzen – ebenso ein Staat, der die Spionage-Abwehr vernachlässigt. Freilich steht es jedem Land frei, sich vertraglich zu binden – und sich so bewusst einiger Handlungsoptionen zu berauben.
Es bleibt abzuwarten, wie das geplante Abkommen ausgestaltet sein wird – und wie sich dann insbesondere die amerikanischen Dienste in der Praxis verhalten. Der amerikanische Präsident Barack Obama hat jedenfalls eingesehen, dass der NSA-Skandal Amerika schadet: „Amerikanische Führung in der Welt hängt vom Beispiel amerikanischer Demokratie und Offenheit ab.“
Gleichwohl bleibt insbesondere Deutschland auf die enge Zusammenarbeit mit Amerika angewiesen, wenn es darum geht, die gemeinsame Zivilisation zu schützen – viele der Hinweise auf Attentäter stammen von amerikanischen Diensten.
Doch ist es gut, dass jetzt in Deutschland wie im übrigen Europa wieder über die Grenzen staatlicher Eingriffe im grenzüberschreitenden Anti-Terror-Kampf debattiert wird. Und auch darüber, inwieweit Internetunternehmen sich von den Vereinigten Staaten einspannen lassen. Denn bei vielen Kunden jener Geräte, die soziales Verhalten so stark verändert haben, herrscht offenbar der naive Glaube vor, jene globalen Unternehmen verfolgten automatisch gute globale Zwecke. Es ist auch gut, dass sich die amerikanische Regierung zur Rechtfertigung gezwungen sieht. Vor allem Deutschland, aber auch die Europäische Union legen besonderen Wert auf die Privatsphäre, auf den Schutz persönlicher Daten.
Mitbauen am digitalen Zwilling
Es wäre gut, wenn diese abermalige Debatte über die Grenzen staatlichen Handelns, über die strikte Bindung an das Recht auch die Verantwortung des Einzelnen und privater Unternehmen herausstellte. Wer große Erwartungen an den Schutz durch den Staat hat, an die Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit, der wird ihm den kontrollierten Zugriff auf vorhandene Daten zum Schutz von Leib und Leben, aber auch anderer Güter nicht verwehren können. Jeder Bürger sollte sich zunächst selbst fragen, wem er sich digital öffnet, warum er sein Leben ins Netz stellt – und sich damit komplett ausliefert.
Das ist auch Bundespräsident Joachim Gauck aufgefallen, der anlässlich des Tags der Deutschen Einheit und im Zuge des Abflauens der Aufregung über die NSA-Affäre an die Bedeutung des Datenschutzes erinnerte: Seiner Auffassung nach muss der Datenschutz so wichtig werden, wie es heute der Umweltschutz für den Erhalt der Natur sei. Es müsse neu bestimmt werden, was ein freiheitlicher Staat im Geheimen tun dürfe, um seine Bürger zu schützen, und was er nicht tun dürfe. In der Öffentlichkeit würden die Möglichkeiten der neuen Medien nicht als Bedrohung, sondern als „Verheißung“ wahrgenommen. „Die Menschen, die ihre Daten preisgeben, wollen offenbar nicht wissen, dass sie damit an einem digitalen Zwilling mitbauen, der den Einzelnen manipulierbar macht.“ Gauck kritisierte auch die immer schwächer werdende Trennung zwischen Freizeit und Arbeit. Der Bundespräsident nannte Smartphones und soziale Netzwerke „großartige Erleichterungsmaschinen“, warnte aber die jüngeren Bürger davor, den „Netzwerken“ ihr ganzes Leben anzuvertrauen.
Es geht auch ohne. Aber es ist nicht leicht. Zudem darf nicht vergessen werden, dass es der Staat seinen Bürgern nicht einfach macht. Zwar fordern Politiker im Zuge der neuen Sensibilität gern, jeder Bürger solle ständig prüfen, ob er etwa Geschäfte elektronisch tätigt. Zugleich aber treibt er selbst – bis hin zum bald wohl unabdingbaren elektronischen Rechtsverkehr – den Bürger in wenig geschützte Gefilde.
Gut gebrüllt!
Das alles ist nicht zuletzt ein europäisches Problem. So fordert EU-Justizkommissarin Viviane Reding seit Längerem eine drastische Verschärfung der Datenschutzregeln. Deutschland sei aber „bisher zögerlich“ gewesen und habe „nicht gerade geholfen, dass das neue Datenschutzgesetz umgesetzt wird“. Nach dem Vorbild des europäischen Wettbewerbsrechts sollen Verletzungen der europäischen Datenschutzregeln künftig mit drastischen Strafen belegt werden. In Anbetracht der Veröffentlichungen zu Datenausspähungen durch amerikanische und britische Nachrichtendienste meint Viviane Reding, heute gäben Firmen eher den Forderungen amerikanischer Behörden nach, als europäisches Recht zu befolgen. „Im Augenblick können wir nur schreien, aber beißen können wir nicht. Ich will, dass wir auch beißen können.“
Das ist gut gebrüllt – doch darf dieser Vorstoß nicht zu einer Aushöhlung der deutschen Standards und zu einer europäischen Super-Behörde führen. Auch die Europäische Union hat bisher nicht das Nötige getan.
Europa und insbesondere Deutschland müssen Amerika auch technologisch mehr entgegensetzen – von Satelliten bis Suchmaschinen. Das hat seinen Preis, ist es aber auch wert. Es geht hier nicht um das Handy der Kanzlerin. Das ist eine Frage der Selbstachtung und der Souveränität. Nichts Neues also? Wer beobachtet wird, ist nicht frei. Das ist nicht nur eine Erkenntnis der NSA-Affäre, das hat auch das Bundesverfassungsgericht sinngemäß schon so gesagt. Richtig ist auch, dass technische Fertigkeiten nicht mehr aus der Welt zu schaffen sind. Doch entscheidend ist, was aus der Fähigkeit zur umfassenden Überwachung gemacht wird.
Es ist eben nicht ausgeschlossen – und wäre das Ende des Rechtsstaats –, solche technischen Möglichkeiten zu reglementieren und zu kontrollieren.
Reinhard Müller, geboren 1968 in Walsrode, verantwortlicher Redakteur der Ressorts Zeitgeschehen sowie Staat und Recht, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.