Asset Publisher

Gewichtige Werke oder digitales Gewurstel

Wie das Internet die Kultur des Denkens verändert

Asset Publisher

Die Zeiten, in denen wissenschaftliche Werke noch ohne Hilfe des Internets verfasst wurden, können sich heutige Studierende kaum noch vorstellen. Auf der Suche nach Zitaten musste man sich aufs Gedächtnis verlassen, nochmals im Schnelldurchgang Dutzende von Büchern durchforsten oder Freunde und Bekannte anrufen, die auf diversen Gebieten Experten waren. Allein zum Bibliographieren saß man ganze Tage in Bibliotheken und machte sich mit der Hand tausenderlei Notizen. Und wenn einem die Fernleihe zu lange dauerte, fuhr man auch schon mal von Tübingen nach Heidelberg, um dort einen Stapel Bücher abzuarbeiten.

Die neuen technischen Möglichkeiten sprengen jedes menschliche Vorstellungsvermögen und können nur Faszination hervorrufen. In Sekundenschnelle sind Unmengen an Informationen und Daten abrufbar; mit ein, zwei Klicks kann man in der jüngsten Ausgabe der New York Times oder der South China Morning Post blättern und auch in deren alten Ausgaben nachlesen, ohne den heimischen Schreibtisch oder jenen zufälligen Ort, an dem sich der Laptop gerade befindet, verlassen zu müssen. In Thomas Bernhards Wittgensteins Neffe gibt es eine groteske Episode, die davon handelt, dass die beiden Protagonisten von einem Artikel in der jüngsten Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung hören, der eine Aufführung von Mozarts Zaide bespricht. Als könnten die beiden fortan nicht mehr leben, ohne diesen Artikel gelesen zu haben, setzen sie sich ins Auto, um ins achtzig Kilometer entfernte Salzburg zu fahren, wo sie jedoch die Neue Zürcher Zeitung nirgends bekommen. Sie fahren deshalb weiter nach Bad Reichenhall, wo ihnen das Gleiche widerfährt, weshalb sie wieder zurück nach Hause und von dort nach Bad Hall fahren, in der Hoffnung, wenigstens hier noch ein Exemplar zu erhaschen. Von Bad Hall geht es weiter nach Steyr, von Steyr nach Wels, wo es ebenfalls keine Neue Zürcher Zeitung gibt, und sie wären auch noch nach Linz und Passau und notfalls sogar nach Zürich gefahren, würde der Tag sich nicht allmählich dem Ende zugeneigt haben. Die beiden bekommen eine Mordswut auf ihr Land, in dem es alles, nur keine Neue Zürcher Zeitung gibt.

 

Goldenes Zeitalter totaler Verfügbarkeit

Walter Benjamin beschreibt in seiner berühmt gewordenen Abhandlung über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit einen grundsätzlichen ästhetischen Wahrnehmungswandel, der nicht nur unser Verhältnis zur Malerei, sondern zu allen Künsten betrifft. Während man einst nach Paris pilgern musste, um im Louvre die Mona Lisa bestaunen zu können, ist sie inzwischen in tausend Ablichtungen zu haben. Indem das Einmalige zur Massenware wird und jedem zur Verfügung steht, verliert die Kunst allerdings, wie Benjamin erklärt, ihre auratische Besonderheit. Musste man sich zu Benjamins Zeiten immerhin noch in eine Buchhandlung begeben, um einen Bildband mit Leonardos Werken zu erstehen, genügt es heutzutage, den Laptop aufzuklappen. Womit endgültig das Goldene Zeitalter totaler Verfügbarkeit angebrochen zu sein scheint. Was das wiederum für den Umgang mit literarischen und wissenschaftlichen Werken bedeutet, hat spätestens das Beispiel Guttenberg gezeigt; schließlich schreiben sich, seit das Copy-and-Paste-Verfahren Usus geworden ist, nicht nur Dissertationen deutlich leichter.

Heidegger soll einmal bemerkt haben, dass Geist sich lediglich mit einem Füllfederhalter zu Papier bringen lässt. Man mag dahinter eine notorische Technikfeindschaft wittern, für die alles Neue des Teufels ist. Doch ganz so einfach lassen sich Heideggers weitreichende Gedanken zum Wesen der Technik nicht abschütteln. Denn es steht und fällt für ihn mit dem Technischen das gesamte abendländische Handeln und Denken. Während bis heute der Glaube vorherrscht, dass die Technik einzig und allein ein Hilfsmittel ist, mit dem sich unser Leben erleichtern lässt, versucht Heidegger nachzuweisen, dass sie unser gesamtes Selbst- und Weltverhältnis prägt. In seinen Augen besteht sie nicht nur aus Geräten, die wir handhaben und erfinden, sondern aus der gesamten Art und Weise, wie wir unsere Wirklichkeit erzeugen und uns damit selbst verwandeln. Wir programmieren durch sie unser Sein und unsere Sinne derart grundlegend, dass uns die Reichweite der technischen Verfahren meist gar nicht eigens ins Bewusstsein tritt. Laut Heidegger begegnet uns das Technische nämlich weit mehr in den Formen jenes logischen, rechnerischen, instrumentellen Denkens, mit dem wir seit Jahrtausenden die Welt transparent zu machen und zu strukturieren versuchen, als bloß in solchen sichtbaren Dingen wie Maschinen, Apparaten und Automaten.

 

Technische Erfindungen erzeugen neue Weltzugänge

In diesem Sinne besteht Technik nicht allein aus Gegenständen, die wir benutzen, sondern aus einer permanenten Zurichtung von Wirklichkeit, in die wir derart verflochten sind, dass eine Trennung von Ding und Mensch, Subjekt und Objekt, Bewusstsein und Realität gar nicht mehr möglich ist. Wir sind nicht nur die Herren über unsere technischen Erfindungen, sondern auch deren Resultate. Unterschiedliche technische Möglichkeiten erzeugen unterschiedliche Denkweisen und Weltzugänge. Ob wir im Internet mithilfe von Stichworteingaben in Aristoteles’ Metaphysik gezielt nach bestimmten Stellen suchen, ohne das Werk im Ganzen zu lesen, oder ob wir uns mit ihm systematisch beschäftigen und dafür wochenlang mit Stift und Notizblock am Schreibtisch sitzen, ergibt nicht nur einen immensen Unterschied, was die Kenntnis der aristotelischen Philosophie, sondern vor allem, was das Begreifen argumentativer und historischer Zusammenhänge anbelangt. Im einen Fall bleiben die schnell herbeigerufenen Informationen dissoziiert und zusammenhangsfrei, im anderen erschließen sich Verbindungen, die auf dem Weg des hurtigen Checkens niemals zu haben sind.

So sehr die Internetsuche das Finden und Forschen erleichtert, so fatal sind nicht selten die Folgen für die Art des Lesens und Denkens. Zwar können wir unsere Artikel und Aufsätze, Haus- und Doktorarbeiten, Reden und Abhandlungen seit der Erfindung des Internets mit haufenweise zusammengeklaubten Zitaten und Literaturverweisen schmücken, laufen aber auch Gefahr, ahnungslose Angeber zu bleiben, die sich belesen geben. Auf diese Weise entstehen inzwischen Tausende von Büchern, die von Leuten stammen, deren einzige Fähigkeit darin besteht, im Netz nach passenden Versatzstücken zu fischen. Selbst an den Schulen und Universitäten ist diese Methode längst salonfähig geworden, was sich allein daran ablesen lässt, dass dort selten noch ganze Bücher gelesen werden und sich stattdessen eine Zettelwirtschaft breitgemacht hat, bei der Texte aus dem Zusammenhang gerissen und als relevante Brocken serviert werden, die sich flink verarbeiten lassen.

 

Ende des Bücherstolzes

Vor zwanzig Jahren wäre es auch noch undenkbar gewesen, dass Menschen zehn oder mehr Stunden am Tag auf einen Bildschirm starren. Man könnte meinen, dass ein solches Verhalten zu einem gewissen Autismus führen muss, nur dass die meisten sich dabei höchst kommunikativ und mit der ganzen Welt vernetzt fühlen. Dass sich die Selbst- und Weltwahrnehmung eines obsessiven Netzsurfers fundamental von derjenigen eines Bücherwurms unterscheidet, wie Spitzweg ihn als eine leicht weltabgewandte Existenz in einer verschatteten Bibliothek zeichnet, die das Licht des Geistes aus ehrwürdigen Werken der Dichtung entgegenstrahlen sieht, ist evident. Wer sich nach wie vor in den guten alten Ohrensessel setzt und in Wälzern wie Tolstois Krieg und Frieden abtaucht, erlebt sich und die Welt anders als jene Zeitgenossen, für die das iPad, iPhone und der Laptop gleichsam zur zweiten Natur geworden sind. Sie sind nicht nur ständig erreichbar, sondern müssen dies zum Teil – je nach Beruf und Tätigkeit – mittlerweile auch sein. Mir ihren smarten Gerätschaften verwandeln sie sich in ein mobiles Büro, dessen imaginäre Türen rund um die Uhr offenzustehen haben.

Ebenso hätte man sich vor fünfzehn Jahren noch kaum vorstellen können, dass in Straßenbahnen ein Pulk von Jugendlichen sitzt, von denen sich alle kennen, nur dass ein jeder mit seinem Handy beschäftigt ist, in das er etwas eintippt. Für jemanden, der anders aufgewachsen ist, kann das befremdlich wirken, auch wenn sich daraus keine direkten Rückschlüsse auf ein bedenkliches Sozialverhalten ziehen lassen. Es zeigt jedoch, dass die fulminanten Möglichkeiten der neuen Medientechnik unser Alltagsleben in kürzester Zeit sichtbar verändert haben.

Als Marshall McLuhan vor fünfzig Jahren das Ende jener Gutenberggalaxie ausrief, die sich durch ihren Bücherstolz auszeichnete, erklärte er, dass die sich verändernde Welt auf Rasanz getrimmt ist und alles immer mehr durch die mediale Wahrnehmung der Wirklichkeit geprägt sein wird. In seinen Augen ergibt es bereits einen deutlichen Unterschied, ob man „die kubistische Titelseite“ der New York Times der „Glitzerparade“ des Wochenmagazins Time vorzieht oder jene Text-Bild-Collagen der bunten Blätter liebt, die etwas von surrealistischen Montagen besitzen. McLuhans berühmt gewordener Satz „The medium is the message“ versucht, uns die Illusion zu nehmen, dass es Inhalte ohne Form, Nachrichten ohne Aufmachung und Fakten ohne mediale Zurichtung gibt.

Sowenig die Technik für uns nur unschuldige Werkzeuge zur Verfügung stellt, mit denen wir bequemer durchs Leben kommen, so wenig ist das mediale Meer, in dem wir dank des Internets nicht nur surfen, sondern uns vor allem dahintreiben lassen, bloß ein neutrales Mittel zur Informationsgewinnung. Allein der Glaube, es existierten inmitten unserer diversen Ansichten, Weltbilder und Glaubenshaltungen auch reine Daten und reine Informationen, gehört zu den Mythen einer naiven Alltagsmetaphysik, die sich selbst nicht als solche durchschaut.

 

Was „checken“ von „denken“ unterscheidet

Genauso gehört zu ihr jener viel beschworene Begriff der Wissenschaftsgesellschaft, der es in den letzten Jahren zu erstaunlicher Prominenz gebracht hat. Er gibt das neue Zauberwort für Fortschritt und Wohlstand ab, zumal manche Politiker und Zukunftsprediger sogar davon überzeugt zu sein scheinen, dass selbst die Befähigung zu Toleranz und Friedfertigkeit mit Wissensanhäufung zu tun hat. Wissen wird in unserer sogenannten Risikogesellschaft als Erfolgsrezept und Vorteilsfaktor angepriesen, womit freilich ein Wissen gemeint ist, das sehr wenig mit jener Bildung zu tun hat, die man noch bis vor Kurzem mit dem Namen Humboldt verband. Die bloße Kenntnis von Daten, Fakten und Zahlen wird inzwischen für das eigentliche Wissen gehalten, was auf ebenso anschaulicher wie schlichter Ebene allein jene immer inflationärer werdenden Quizsendungen im Fernsehen beweisen, bei denen man Millionen gewinnen kann. Diese Art von Wissen besteht aus einem Frage-Antwort-Mechanismus, der neuerdings sogar in den geisteswissenschaftlichen Fächern an den Universitäten Einzug hält, wo die Klausuren – wie bislang fast nur in der Medizin – zunehmend nach dem Multiple-Choice-Verfahren funktionieren. Die Suchmaschinen drohen, uns die letzte Ahnung davon, was Bildung sein könnte, auszutreiben. Checken und Recherchieren haben nur bedingt mit Denken zu tun. In einer amerikanischen Studie über die sich wandelnden Verhaltensmuster in unserer heutigen Kultur bemerkt der Autor Simon J. Bronner: „Analog culture privileges the ground of turf, while digital culture values the action of surf“ – „Die analoge Kultur zieht es vor, im Torf zu graben, während die digitale Kultur das Surfen schätzt.“ Im Cyber-Äther huschen und hüpfen wir von hier nach dort, ohne jeden festen Ort und häufig genug in Ermangelung jedes Koordinatensystems. Alles soll ganz schnell gehen, und es soll dabei auch noch möglichst viel verwertbare Information herauskommen.

Kürzlich erschien in Amerika ein Roman von Rick Whitaker, der bereits in seinem Titel An Honest Ghost ein Shakespeare-Zitat trägt und von Anfang bis Ende ausschließlich aus Sätzen besteht, die mehr oder weniger berühmten literarischen Werken entnommen sind. Man kann in diesem durchaus homogen wirkenden, dabei aber aus ein paar Tausend Roman-, Gedicht- und Essaysplittern zusammenmontierten Elaborat ein erstaunlich gelungenes Hypertext-Produkt erblicken, nur dass der Autor ein immens belesener Zeitgenosse sein muss, der keineswegs bloß im Netz recherchiert haben kann, zumal ein Großteil der herangezogenen Werke noch gar nicht im Internet abrufbar und auch nicht als E-Book verfügbar ist. Bei aller Bewunderung, die man dieser diffizilen Collage-Arbeit zollen kann, bleibt sie allerdings – wie so viele literarische Experimente – eine Spielerei, die den Geist nicht recht satt zu machen vermag.

 

Von Hölderlin zu Algorithmen

Noch weniger können einem jene interaktivistischen digitalen Textproduktionen, an denen sich mehrere Autoren beteiligen, das Gefühl vermitteln, dass es sich um Werke handelt, in die man sich vertiefen möchte. Selbst wenn man der ludistischen Lust am kollektiven Gewerkel etwas abzugewinnen vermag, besitzen diese Etüden in aller Regel wenig literarischen Wert. Seit ein paar Jahren trifft man zudem auf Germanisten, die ein ganz anderes Ende des Autors verkünden, als es Michel Foucault und Roland Barthes vorschwebte. Denn sie behaupten, dass sich Gedichte, die denen von Hölderlin und Mörike vergleichbar seien, inzwischen auch durch Algorithmen erzeugen ließen. Wie wenig diese Leute von Stil und Form verstehen und wie wenig Sprachmusikalität sie besitzen, merkt man meist sofort ihrer Diktion an, ganz zu schweigen von ihren kruden Literaturkenntnissen.

Anders als der von allerlei Konzept- und Projektaposteln bis heute als Halbgott verehrte Weltverbesserer Joseph Beuys verkündet hatte, kann eine Kunst, die diesen Namen verdient, niemals aus sozialer Aktion bestehen. Vor allem die Literatur bedarf eines mönchischen Rückzugs, sowohl was den Leser, als auch was den Autor anbelangt. Alles andere bleibt eine mehr oder weniger kuriose, sportive Spielerei. Dass das Internet uns unendliche Weiten eröffnet, steht außer Frage. Dass es tausend Dinge erleichtert, ebenso. Dass es uns mehr Kultur bringt, darf bezweifelt werden. Schließlich hat Kultur mit Versenkung zu tun. Und zwar mit einer anderen, als sie das Internet dem Surfer gewährt.


Karl-Heinz Ott, geboren 1957 in Ehingen an der Donau, Studium der Philosophie, Germanistik und Musikwissenschaft, Schriftsteller, Essayist und literarischer Übersetzer.

comment-portlet