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Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

Interview: Greenflation?

by Veronika Grimm
by Ralf Thomas Baus

Veronika Grimm über die Inflationsbekämpfung und ein klimaneutrales Energiesystem

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Die Inflationsrate ist derzeit so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die größten Verlierer sind die Bürger. Was sollte Ihrer Meinung nach gegen die Inflation unternommen werden?

Veronika Grimm: In dieser Krise sind die Energiepreise zunächst so stark angestiegen, weil die Nachfrage dynamisch zurückgekommen, aber das Angebot nicht gleichermaßen hinterhergekommen ist. Auch die Engpässe in den Lieferketten lösen sich nicht so schnell auf, was zu Preissteigerungen bei Vorprodukten und Rohstoffen führt. Mittlerweile werden diese Kosten an die Kunden weitergegeben, und dies erhöht auch die Kerninflationsrate und führt zu Preissteigerungen bei Lebensmitteln. Alles wird noch durch den Krieg in der Ukraine verstärkt. Die Inflation ist dadurch bedingt, dass das Angebot mit der dynamischen Nachfrage nicht mithalten kann. Es ist an der Europäischen Zentralbank [EZB], gegenzusteuern, also die Anleihekäufe zurückzufahren und erste Zinsschritte zu gehen, um die Nachfrage zu dämpfen.

Entscheidend ist, dass die Inflationserwartungen stabil beim mittelfristigen Inflationsziel der Europäischen Zentralbank verankert bleiben. Glauben die Menschen und die Wirtschaftsakteure erst einmal an eine dauerhaft hohe Inflation, dann wird es deutlich schwerer, die Inflation wieder in den Griff zu bekommen. Es sollten deshalb klare Signale gesetzt werden, dass man sich der Inflationsentwicklung konsequent entgegenstellt. Gleichzeitig müssen die Bürgerinnen und Bürger entlastet werden, denn die Realeinkommensverluste sind substanziell. Eine Entlastung wird es in den Lohnverhandlungen geben, aber das nutzt den Konsumentinnen und Konsumenten jetzt erst einmal nichts. Deshalb muss der Staat die unteren und einen Teil der mittleren Einkommen sehr schnell und konsequent entlasten.

 

Erwarten Sie von der Europäischen Zentralbank in diesem Jahr noch erste Zinsschritte?

Veronika Grimm: Ja, so wurde es angekündigt. Es ist wichtig, jetzt zu handeln, damit man geldpolitisch eine sogenannte weiche Landung“ hinbekommt – also keine Rezession auslöst. Die Inflation laufen zu lassen, ist keine Option, das dürfte mittelfristig deutlich negativere Folgen für die Wirtschaftsentwicklung haben, als sich der Inflation jetzt entschlossen entgegenzustellen. Dass es eine Gratwanderung ist, zeigt die aktuelle Lage. Die EZB muss glaubhaft machen, dass sie Spekulationen gegen einzelne hochverschuldete Staaten nicht zulassen wird, aber innerhalb ihres Mandats bleibt, das eine monetäre Staatsfinanzierung ausschließt.

 

Es wird von einer „Greenflation“ gesprochen. Dabei geht es um marktbedingte Preissteigerungen, etwa bei Rohstoffen, und politisch gewollte Preissteigerungen, vor allem durch den CO2-Preis. Ist die Energiewende das Hauptproblem der Inflation?

Veronika Grimm: Nein, überhaupt nicht! Ich finde es schwierig, mit solchen Schlagworten zu arbeiten. Dass fossile Energieträger im Übergang teurer werden müssen, war klar. Aber der Krieg in der Ukraine stellt uns vor Herausforderungen. Bei der Energiewende sollte billiges russisches Gas als Übergangstechnologie auf dem Weg zur Klimaneutralität eingesetzt werden. Durch die veränderte geopolitische Situation geht der Plan nicht mehr auf. Wir werden nun Gas aus aller Welt beschaffen müssen, das teurer ist als russisches Gas.

Durch die CO2-Bepreisung werden fossile Geschäftsmodelle zusätzlich unattraktiver werden. Das bedeutet, dass es einen höheren Druck gibt, die Energiewende schnell voranzutreiben. Je schneller wir die Erneuerbaren Energien ausbauen, desto schneller werden die Kosten der Energieversorgung auch wieder sinken. Ich halte nichts davon, die Ambitionen bei der Energiewende zu reduzieren, weil wir uns dann der Chance berauben, relativ schnell die aktuellen Herausforderungen zu überwinden. Letztendlich ist der Ausbau der Erneuerbaren perspektivisch aufgrund der extrem gesunkenen Kosten die Lösung und nicht das Problem.

 

Sehen Sie eine Gefahr für die deutsche Wirtschaft und ihre Wettbewerbsfähigkeit? Der Bundesfinanzminister hat kürzlich vor einem zu hohen Tempo bei der Energiewende gewarnt, weil dies die Wirtschaft überfordern könnte und es auch Wettbewerbsverzerrungen gibt.

Veronika Grimm: Ein hohes Tempo geht mit Herausforderungen einher, weil man einerseits den Strukturwandel schneller umsetzen muss. Andererseits kann ein hohes Tempo aber auch Vorteile schaffen, etwa eine günstige Ausgangsposition auf Zukunftsmärkten. Ein sehr hohes Tempo kann etwa dazu führen, dass man bei der Rohstoffverfügbarkeit besser dasteht, weil der Wettbewerb um Rohstoffe noch nicht so stark ausgeprägt ist.

Hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit auf Zukunftsmärkten ist es sogar sehr wichtig, in einigen Bereichen extrem schnell zu sein. Der Anlagenbau und die Fahrzeugindustrie können extrem profitieren, wenn sie eine zentrale Rolle beim Aufbau zukünftiger klimaneutraler Wertschöpfungsketten spielen, etwa im Bereich von Wasserstoff und darauf basierenden klimafreundlichen Energieträgern. In der Vergangenheit hat man sich – etwa bei Batteriefahrzeugen – nicht an die Spitze der Bewegung gesetzt; das rächt sich nun. Insbesondere energieintensive Branchen stehen aber vor Herausforderungen. Die Transformationsphase, wie sie in der Wirtschaft geplant war auf der Basis von russischem Gas, werden wir insgesamt nicht eins zu eins umsetzen können, weil das Gas deutlich teurer sein wird. Wir müssen uns überlegen, in welchen Bereichen wir aus strategischen Gründen Wirtschaftsstrukturen weiterhin brauchen, die sich eigentlich nicht aus sich selbst heraus in Europa halten können.

 

Ein zentrales Steuerungselement der Energiewende ist die CO2-Bepreisung. Warum ist dieses Instrument so wichtig?

Veronika Grimm: Der Preis auf die CO2-Emission ergibt sich aus den aktuell beschlossenen Emissionsreduktionspfaden. Es werden Emissionsberechtigungen im Umfang der zulässigen Emissionen ausgegeben, die dann gehandelt werden können. Der sich ergebende Preis ist wiederum ein Signal an alle Akteure – wenn die Vermeidungskosten von Emissionen günstiger sind als dieser Preis, werde ich die Emissionen vermeiden. Sonst kaufe ich ein Zertifikat und emittiere. Durch dieses Preissignal kann jeder Akteur, vom Unternehmen bis zum einzelnen Haushalt, dezentral entscheiden, ob er in Vermeidung investiert oder ob er zahlt, um die Emissionen weiterhin ausstoßen zu dürfen. Das führt in der Summe dazu, dass diejenigen, die günstigere Vermeidungskosten haben, in Vermeidung investieren, und diejenigen, für die es teuer wäre, lieber den Preis zahlen und emittieren.

Diese vielen Entscheidungen könnte der Staat niemals treffen, weil er nicht über die Vermeidungskosten der einzelnen Akteure in der Wirtschaft und im Privaten verfügt. Die CO2-Bepreisung ist deshalb ein sehr effizientes Instrument, das der Staat auch nicht durch Verbote oder zentrale Planung ersetzen kann.

 

Wie hoch sollte der CO2-Preis Ihrer Ansicht nach im nächsten Jahr liegen?

Veronika Grimm: Bei der CO2-Bepreisunghaben wir aktuell noch unterschiedliche Systeme. Im Europäischen Emissionshandel (EU-ETS) ergibt sich der Preis wie eben beschrieben aus der Mengenbeschränkung. Der Preis für den Europäischen Emissionshandel, dem der Stromsektor und große Teile der Industrie unterliegen, liegt momentan bei ungefähr achtzig Euro. Das System funktioniert und führt dazu, dass Vermeidungsaktivitäten für CO2-Emissionen umgesetzt werden.

In Deutschland wurde im Jahr 2021 ein nationaler Emissionshandel in den Bereichen Wärme und Verkehr etabliert. Dort ist der Preis aktuell bei 35 Euro, erhöht sich bis 2050 auf 55 Euro und wird dann in einen Emissionshandel überführt. Es ist zu erwarten, dass auch der Emissionspreis weiter ansteigt; und das ist genau das Ziel. Man sollte eigentlich die Emissionsreduktionsziele ausschließlich mit einem Emissionshandel umsetzen. Der Mechanismus führt dazu, dass die Akteure mit den niedrigsten Vermeidungskosten ihre Emissionen einstellen; das ist insgesamt der günstigste Weg, das jeweilige Reduktionsziel zu erreichen.

 

Die Bundesregierung hat ein Entlastungspaket beschlossen, um die sozialen Ungleichheiten abzumildern, unter anderem eine Steuersenkung auf Kraftstoffe und eine Einmalzahlung von 300 Euro für einkommensteuerpflichtige Erwerbstätige. Ist das der richtige Weg?

Veronika Grimm: Zum Teil sind die Maßnahmen zu begrüßen, zum Teil sind sie kontraproduktiv. Eine Steuersenkung auf Kraftstoffe ist in der aktuellen Situation alles andere als zielführend, da sie die Nachfrage anreizt, und das in einer Situation, in der die Möglichkeit besteht, dass es zu einem Lieferstopp für russische Energieträger kommt. Im Gegenteil, man sollte die hohen Preise aktuell wirken lassen, um so weit wie möglich eine Verbrauchssenkung bei den fossilen Energieträgern über den Preismechanismus zu erreichen. Das ist schmerzhaft, aber es ist ein Instrument, mit dem identifiziert werden kann, wo eine Einsparung fossiler Energieträger möglich ist.

Gerade wenn man den Preismechanismus bei fossilen Energieträgern wirken lassen würde, müsste man die Menschen im Gegenzug über andere Kanäle entlasten. Die Einmalzahlung ist in dieser Hinsicht eine gute Lösung, auch mit Blick darauf, dass man niedrige und mittlere Einkommen prioritär entlasten möchte und die 300-Euro-Zahlung einkommensteuerpflichtig ist. Bürger, die ein höheres Einkommen haben, zahlen von diesen 300 Euro wieder mehr über die Einkommensteuer zurück. Das ist so gewollt und eine clevere Umsetzung.

 

Die Bundesregierung plant, die Schuldenbremse 2023 wieder einzuhalten. Eine Netto-Neuverschuldung von 5,4 Milliarden Euro, halten Sie das für realistisch?

Veronika Grimm: Wenn wir jetzt einem Lieferstopp für russische Energieträger ausgesetzt wären, dann wäre das nicht realistisch. In diesem Fall wäre es sicherlich notwendig, die Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft abzufedern und dafür auch die Ausnahmeregel der Schuldenbremse nochmals zu nutzen. Das kann und sollte man allerdings erst entscheiden, wenn der Fall eintritt. Falls es zu all dem kommt, hätten wir ausreichend fiskalische Spielräume, um diese Situation zu meistern. Wir sind mit einer Schuldenquote von sechzig Prozent in die Coronakrise gegangen und sind jetzt bei knapp siebzig Prozent. Herausfordernd wird eher die langfristige Situation: Die Energiepreise werden hoch bleiben, wenn wir uns von Russland unabhängig machen wollen.

 

… denn irgendwann muss man wieder auf den Pfad der Konsolidierung zurückkehren …

Veronika Grimm: Ja, es gibt zwar aktuell überhaupt keinen Zweifel an der Tragfähigkeit der deutschen Staatsfinanzen. Die langfristigen Herausforderungen werden wir aber nicht durch staatliche Zuschüsse meistern können. Es geht um die Frage, wie sich die westlichen Demokratien in einer stärker machtorientierten globalen Weltordnung aufstellen. Das wird mit Kosten einhergehen, für die Privatwirtschaft und für den Staat: höhere Energiekosten, Neuordnung unserer Handelsbeziehungen, Ausgaben für die Verteidigungsfähigkeit.

 

Bei der Energiewende spielt auch das Thema Energieeffizienz eine Rolle. Sie haben hierzu einen Aktionsplan gefordert. Wie könnte ein solcher Aktionsplan aussehen?

Veronika Grimm: Wir müssen alle Effizienzpotenziale heben. Dabei spielt uns in die Hände, dass die Preise fossiler Energieträger zurzeit hoch sind. Das sollte genutzt werden, um zu versuchen, in verschiedenen Handlungsfeldern die Energieeinsparpotenziale zu heben. Energieeffizienz war immer ein Thema, das etwas vernachlässigt wurde. Die vergangenen Bundesregierungen haben nie ihre Energieeffizienzziele erreicht, sie sind immer hinter ihnen zurückgeblieben.

Energieeffizienz ist ein kleinteiliges Themenfeld, und man braucht sehr viele Akteure: die Haushalte, die Kommunen, die Industrie, Klein- und Mittelständische Unternehmen. Und oftmals erhalten die Akteure, auf die es ankommt, keine Preissignale. Beim Haushaltskunden könnte man etwa Prämien ausschreiben für diejenigen, die ihren Gasverbrauch relativ zum Vorjahr signifikant reduzieren. Wenn jetzt jemand seinen Gasverbrauch zum Beispiel zehn Prozent unter den Vorjahresverbrauch drückt, bekommt er eine Prämie. Wenn man das gut ausgestaltet, dann könnte man die Menschen dazu bewegen, deutlich einzusparen, zu reinvestieren und Anlagen auch kurzfristig auszutauschen. Nur durch Appelle wird man dieses riesige Potenzial nicht heben können.

 

Welche Rolle spielt bei der Energiewende das Thema Wasserstoff?

Veronika Grimm: Eine große. Wir wollen im Wesentlichen über die Nutzung von erneuerbarem Strom alle Bereiche der Wirtschaft dekarbonisieren oder defossilisieren. Das geht entweder direkt elektrisch, allerdings nicht in allen Bereichen. Dann kommt die indirekte Nutzung von erneuerbarem Strom ins Spiel: Mittels Elektrolyse stelle ich unter Einsatz von Strom aus Wasser Wasserstoff her, den ich dann in der Industrie, für Teile der Mobilität, teilweise auch im Wärmebereich als Energieträger oder auch als Grundstoff einsetzen kann.

Ein zu hundert Prozent klimaneutrales Energiesystem muss auf der direkten Elektrifizierung und zum großen Teil aber auch auf der Nutzung von Wasserstoff und erneuerbaren Energieträgern basieren. Als man noch zu neunzig Prozent klimaneutral werden wollte, war die Idee, sich die Defossilisierung einiger Bereiche einfach zu sparen – und viele wollten zu diesen zehn Prozent gehören. Das geht nun nicht mehr; daher brauchen wir die direkte und die indirekte Elektrifizierung.

 

Wesentliche energiepolitische Weichenstellungen wie der Atomausstieg, der Kohleausstieg und das Klimaschutzgesetz waren politische Ad-hoc-Entscheidungen. Man hat das Gefühl, dass es für die Energiewende kein einheitliches strategisches Konzept gibt. Täuscht dieser Eindruck?

Veronika Grimm: Richtig. Es braucht ein schlüssiges Konzept. Nur wenn die regulatorische Unsicherheit reduziert wird, können die immensen privaten Investitionen mobilisiert werden, die für die Transformation nötig sind. Leitinstrument der Klimapolitik muss der CO2-Handel sein, der die Emissionsreduktionsziele durchsetzt. Ganz wichtig ist auch der Ausbau von Infrastruktur für den Energietransport – Strom, Gas und Wasserstoff – und die klimaneutrale Mobilität. Ohne Verfügbarkeit von Energieträgern am Einsatzort investiert niemand. Außerdem müssen Zertifizierungssysteme geschaffen werden, damit der CO2-Fußabdruck von Energieträgern und Produkten auch zweifelsfrei festgestellt werden kann. Es muss ein Umfeld geschaffen werden, in dem privaten Investoren klar ist, dass klimaneutrale Geschäftsmodelle die attraktivste Option sind.

Idealerweise sollten die Rahmenbedingungen technologieoffen sein und auf europäischer Ebene verankert werden. Schon dadurch entsteht eine Berechenbarkeit für alle Akteure, die Investitionen auslöst: Man weiß dann, dass kein Mitgliedsstaat eigenmächtig die Regeln wieder umwerfen kann.

 

Das Interview führte Ralf Thomas Baus am 3. Mai 2022.

Veronika Grimm, geboren 1971 in Rendsburg, Inhaberin des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftstheorie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, seit 2020 Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

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