Auch heute ist es möglich, sich als Partei in der Gesellschaft breit zu verankern und den Status einer Volkspartei zu behaupten – das hat das Ergebnis der Union bei der letzten Bundestagswahl eindrucksvoll gezeigt. Die politische Klugheit verlangt gleichwohl, sich nicht auf den „Lorbeeren“ auszuruhen, sondern die programmatischen Diskussionen weiterzuführen und am Puls der neuesten gesellschaftlichen Entwicklungen zu bleiben. Zu den entscheidenden Erfolgsrezepten von CDU und CSU gehört ein klares christliches Wertebewusstsein, das hilft, besonnen auf Potenziale wie auch auf Gefahren dynamischer Entwicklungen zu reagieren; das war und ist die solide Basis, auf der Interessen ausgeglichen, sachgerechte Argumente formuliert und pragmatische Wege zu politischen Zielen gefunden werden können. Der durch das „C“ möglich gewordene Unionsgedanke verfolgt insofern in erster Linie ein versöhnendes und Brücken bauendes Konzept: Es stellt den Menschen aus christlicher Überzeugung in den Mittelpunkt und sieht zugleich jeden Einzelnen in der Verantwortung vor Gott und den Menschen. Damit kommt es zu neuen, unkonventionellen Perspektiven. Auch vermeintlich unvereinbare gesellschaftliche und politische Antagonismen können so in einen konstruktiven Dialog gebracht, vermittelt und befriedet werden.
Die Geschichte von CDU und CSU hat – allen zeitweiligen Krisen, Tiefpunkten und Infragestellungen zum Trotz – immer wieder unter Beweis gestellt, dass progressive Neuprofilierungen nicht auf Kosten der Herkunftsidentität gehen müssen. Die fälschlich oft als reine Gegensätze begriffenen Pole der Identitätswahrung auf der einen und der Öffnung zu breiten Wählerschichten auf der anderen Seite lassen sich durchaus zusammendenken. Der Volksparteicharakter steht der programmatischen Profilschärfe ebenso wenig entgegen, wie umgekehrt die Profilierung der Popularität schadet.
Dies ist zu betonen, weil vor noch nicht allzu langer Zeit innerhalb der beiden Unionsparteien heftige Debatten um diese Frage geführt worden sind: So galt das „hohe C“[1] manchen als fast völlig entleert oder verraten, manchen als nebensächliches beziehungsweise überkommenes Traditionsrelikt, das für künftige Mehrheitsbeschaffungen mittlerweile sogar hinderlich sein könnte. Selbst wenn der Wahlerfolg 2013 viele dieser teils sehr konfrontativ geführten Identitätsdebatten einstweilen zum Verstummen gebracht hat, lohnt es sich, noch einmal grundsätzlich nachzudenken: Liegt nicht schon im Denkansatz dieser beiden, hier holzschnittartig gezeichneten Polarisierungen eine entscheidende Fehleinschätzung?
Was ist eigentlich der entscheidende Wesenszug, die besondere, identitätsstiftende Idee der Christlich-Demokratischen Union? Ist das „C“ wirklich entbehrlich? Reicht der Gedanke der „Union“?
Die Klammerfunktion des christlichen Menschenbildes
Die Union hat im Laufe ihrer Geschichte zahlreiche Wandlungen und Neuorientierungen – vielleicht sogar Umbrüche – erfahren. Dabei darf nicht unterschlagen werden, dass sich diese politischen und gesellschaftlichen Neuausrichtungen nicht von der klaren Wertegrundlage abgekoppelt haben; sie wurde seit der Gründung der Union niemals in Zweifel gezogen. Das „C“ galt durchgängig als entscheidende Klammer und nicht allein als historischer Ermöglichungsgrund der Union. Auf das „C“ hat man sich seit den Zeiten von Konrad Adenauer oder Hermann Ehlers niemals theologisch abstrakt oder abgehoben berufen, sondern stets lebensnah, lebenspraktisch und konkret. Das geschah durch gemeinsam ausgeübte Verantwortung von engagierten und überzeugten Christen unterschiedlicher Konfessionen und im gewissenhaften Ringen um die bestmöglichen politischen Lösungswege.
Blicken wir in die Gründungsgeschichte der Union, so erkennen wir: In der Stunde „Null“ des deutschen Volkes konnte es zu diesem, in der Parteiengeschichte bis dahin einzigartigen Projekt überhaupt nur kommen, weil die Zusammenführung der unterschiedlichsten, teils äußerst heterogenen politischen Interessengruppen und Strömungen auf einem neuen Verständnis von gemeinsamer christlicher Verantwortung gründete. Was eint denn am Ende Arbeitgeber und Arbeitnehmer, was Gewerkschafter und Wirtschaftsliberale, was Konservative und Progressive in ein- und derselben Partei? Die versöhnende Klammer bilden allein die christlichen Grundüberzeugungen, also das Christliche Menschenbild beziehungsweise die aus dem christlichen Glauben abgeleiteten Werte, und zwar in Form der unbedingten Würde, des Respektes und der Toleranz gegenüber jedem einzelnen Menschen.
Die Brücke zwischen den Gegensätzen
Mit anderen Worten: Liberale, konservative, soziale und andere Gruppen unierten sich nicht einfach aufs Geratewohl hin, sondern fanden erst mit dem Blick auf das „C“ als den entscheidenden brückenbauenden Faktor die Basis für ihr gemeinsames politisches Engagement. Man erkannte das versöhnende und integrierende Potenzial, welches der Berliner Gründungsaufruf der CDU 1945 so treffend als „kulturgestaltende und sittliche Werte“ des Christentums bezeichnete. Die Gründer ließen sich von ihrem eigenen, lebendigen Glauben und den aus ihm abgeleiteten Wertorientierungen konsequent in die Verantwortung auch für die Gestaltung des politischen Lebens nehmen. Deshalb ist es etwas ungenau, wenn immer wieder formuliert wird, die Union habe sich aus „Konservativen, Liberalen und Christlich-Sozialen“ zusammengefunden, denn dabei wird die integrierende Basisfunktion des „C“ unterschlagen: Es unierten sich vielmehr Christlich-Konservative, Christlich-Liberale und Christlich-Soziale!
Völlig klar stand den Vätern und Müttern der Union dabei selbstverständlich vor Augen, dass sich aus christlichen Glaubensinhalten nicht kurzschlüssig politische Programme oder ethische Gewissheiten ableiten lassen, von ideologischen Heilslehren ganz zu schweigen.
Anti-ideologisch und integrieren
Es wäre ein großes Missverständnis, zu meinen, das „C“ im Parteinamen ließe sich in irgendeiner Weise ideologisch fixieren, thematisch auf bestimmte Bereiche exklusiv eng führen oder gar als Monopolanspruch bewerben. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Der christliche Glaube lässt sich auch niemals unmittelbar oder etwa eins zu eins in die Politik umsetzen, auch wenn er die persönliche Haltung eines politisch Handelnden deutlich zu markieren vermag. Allein die aus einer solchen Haltung abgeleiteten zivilreligiösen Wertvorstellungen – wie die Akzeptanz menschlicher Grenzen und die Wertschätzung Andersdenkender und Schwächerer – können in demokratischen Zivilgesellschaften zum Inhalt politischer Kommunikation und parteipolitischer Identität werden. Wer diesen entscheidenden gedanklichen Schritt – diesen gewissermaßen theologischen Vorbehalt – überspringt, findet sich im Bereich der politischen Ideologie, des bloßen Utopismus oder in den abgeschotteten Biotopen von Splitter- oder Lobbyparteien wieder.[2]
In der Präambel des heutigen Grundsatzprogrammes der CDU Deutschlands wird das unverwechselbare christlich-demokratische Identitätsbewusstsein treffend ausgedrückt: „In einer sich ändernden Welt bleibt es unser Auftrag, Werte und Wirklichkeit zusammenzudenken und entsprechend zu handeln. Die Einsicht in die Fehlbarkeit des Menschen bewahrt uns vor der Gefahr, Politik zu ideologisieren, und zeigt uns die Grenzen der Politik auf.“3 Das „C“ als entscheidender Wesenskern und identitätsbestimmender Faktor der Union gleicht also – um einen Vergleich von Helmut Thielicke zu verwenden – eher einem Kompass zur politischen Orientierung für die erst noch selbst zu findenden Wege. Diese „Orientierungshilfe“ darf insofern keinesfalls mit dem Ziel selbst gleichgesetzt oder verwechselt werden. Dennoch ist sie der entscheidende Motor. Die zwar oft wiederholte, aber nicht selten unverstandene Rede vom Christlichen Menschenbild ist mehr als eine Floskel. Sie verweist auf den Schatz des christlichen Verständnisses vom Menschen, das jeden Menschen als einmaliges Geschöpf Gottes respektiert und ihm eine unantastbare Würde zuschreibt. Dieses Menschenbild ist gerade nicht exklusiv, aus- oder abgrenzend, sondern integrierend, universal und zutiefst antiideologisch.
Hieran kann man schließlich auch erkennen, dass die Unionsparteien auch für Menschen attraktiv sind, die den christlichen Glauben persönlich vielleicht nicht teilen, sehr wohl aber die hier zum Ausdruck kommenden Werte und das dahinterstehende Menschenbild von Grund auf bejahen: Ob nun Atheist, Jude, Christ oder Muslim – die Union ist für jeden offen, der diese Vorstellung der Würde, der Freiheit und der Gleichheit aller Menschen anerkennt und die hieraus folgenden politischen Grundüberzeugungen teilt.[4]
Das „C“ in Zeiten der Säkularisierung
Aber auch die These einer vermeintlich unaufhaltsam fortschreitenden, gesellschaftlichen Säkularisierung ist vor diesem Hintergrund noch einmal kritisch zu hinterfragen, sofern damit der Rückgang des religiösen Bewusstseins gemeint sein soll. Genau genommen erleben wir nämlich auch in den westlich geprägten, freien und pluralistischen Ländern der Welt eine regelrechte Renaissance von Religion, nur dass diese weniger als in früheren Zeiten fest umrissene oder eindeutig identifizierbare, institutionalisierte Formen der persönlichen, religiösen Bindung annimmt. Im weltweiten Gesamtkontext wird sogar noch augenfälliger, wie stark Religionsgemeinschaften heutzutage wieder neu anwachsen und neuen Zulauf bekommen. Die alte links-ideologische, materialistische These vom Rückgang und Absterben der Religion durch Wissenschaft, Aufklärung und ökonomischen Fortschritt ist also als völlig widerlegt zu betrachten.
Schon im ausgehenden letzten Jahrhundert hat sich das Christliche Menschenbild darum auch gegenüber dem totalitären und menschenverachtenden Weltbild des Sozialismus durchgesetzt. Heute vermag der christliche Freiheitsbegriff die nicht minder ideologischen Tendenzen eines verabsolutierten Ökonomismus oder einer Instrumentalisierung aller Lebensbereiche als Entwertung des Menschen zu entlarven. Christlich verstandene Freiheit meint immer Freiheit in Bindung, Verantwortung und Solidarität. Die Vorstellung von der unantastbaren Würde jedes einzelnen Menschen vor Gott, die sich im 20. Jahrhundert gegen Nationalsozialismus, Sozialismus und anderen Formen politisch-totalitärer Barbarei zu behaupten vermochte, hat in säkularisierter Form Eingang gefunden in den Kanon der allgemeinen und unveräußerlichen Menschenrechte. Auch im 21. Jahrhundert hat sie nichts von ihrer Aktualität und bleibenden Orientierungskraft eingebüßt.
CDU und CSU bewahren mit ihren eigenen Wurzeln auch das Bewusstsein für die tiefere Bedeutung der Präambel des deutschen Grundgesetzes. Jede Neuprofilierung ist nur dann erfolgreich, wenn sie den Identitätskern und die wertegebundenen Grundparameter bei allem notwendigen Wandel pflegt, ihrer Zeit gemäß verständlich macht und ihre aktuelle Brisanz herausstellt.
Thomas Rachel, geboren 1962 in Düren, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und Bundesvorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU (EAK).
[1] Vgl. Ockenfels, Wolfgang: Das hohe C – wohin steuert die CDU?, Augsburg 2009.
[2] Hier liegt im Übrigen auch die tiefere Begründung dafür, dass etwa christlich-fundamentalistische Kleinparteien oder auch die jüngst im radikal-konservativen Kirchenspektrum fischende AfD keine wirkliche Gefährdung für CDU und CSU darstellen können. Man erkennt hieran sehr deutlich, was passiert, wenn das „C“ ideologisch eng geführt und als Abgrenzungsmerkmal anstatt als Integrationsfaktor in Anschlag gebracht wird.
[3] Freiheit und Sicherheit – Grundsätze für Deutschland, Hannover 2007, Seite 5.
[4] Vgl. Freiheit und Sicherheit – Grundsätze für Deutschland, 2007, Seite 7.