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Kein Frühling, ein Vorbote

by Andreas Jacobs

Zur Lesart der arabischen Umbrüche vor zehn Jahren

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Am 17. Dezember 2010 überschüttete sich der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi in der tunesischen Provinzstadt Sidi Bouzid aus Verzweiflung über seine aussichtslosen Lebensumstände mit Benzin und verbrannte sich selbst. Was folgte, ist inzwischen Geschichte – allerdings Geschichte, um deren Deutung gerungen wird. Vor allem zu Beginn weckten die Bilder von der Avenue Habib Bourguiba in Tunis und vom Tahrir-Platz in Kairo Hoffnungen auf einen „Arabischen Frühling“, der den scheinbar ewigen Autokraten der arabischen Region ein Ende bereiten und Demokratie und Rechtsstaatlichkeit den Weg ebnen würde. Als die heraufziehenden Bürgerkriege in Syrien und Libyen sowie der Aufschwung von Islamisten und Terroristen diese Hoffnungen in Chaos und Gewalt versinken ließen, kam schnell das Wort vom „Arabischen Winter“ auf. Seither sind es diese beiden Perspektiven, die den westlichen Blick auf die vor zehn Jahren begonnenen Umbrüche im arabischen Raum bestimmen: der an den Mauerfall in Deutschland vor dreißig Jahren erinnernde Aufstand für Freiheit, Würde und Demokratie einerseits und die den Islamismus und Bürgerkrieg hervorbringende Wut der Straße andererseits. Jenseits von Hoffnungen und Enttäuschungen bietet sich heute eine dritte Lesart der Ereignisse von 2010/11 an. Rückblickend manifestiert sich in den damaligen Umbrüchen erstmals eine Reihe von Entwicklungen, die Politik und Gesellschaft heute und in Zukunft immer stärker prägen. War der „Arabische Frühling“ also ein Vorbote politischer und gesellschaftlicher Trends der kommenden Jahre? Manches spricht dafür.

 

Ruf nach „Brot“ als Revolutionsslogan

 

Da sind zunächst die Folgewirkungen globaler Ereignisse. Die Wut der Demonstranten richtete sich 2010/11 zwar gegen die eigenen Machthaber, hatte ihre Ursachen jedoch zum Teil in globalen Entwicklungen – insbesondere der Finanzkrise und dem Klimawandel. In Tunesien und Ägypten gingen die Einnahmen aus dem Tourismusgeschäft und die Auslandsüberweisungen nach den Einbrüchen in den europäischen Volkswirtschaften ab 2007/08 deutlich zurück, ebenso wie die ausländischen Direktinvestitionen. Nahezu zwei Drittel der Menschen im arabischen Raum sind zudem von zunehmendem Wassermangel betroffen. Eine Jahrhundertdürre trieb 2007 viele Syrer vom Land in die städtischen Armenviertel; die Getreidepreise in der gesamten Region schnellten in die Höhe. Insbesondere China kaufte verstärkt Weizen auf dem globalen Markt ein und drehte hierdurch an der Preisspirale. Als weltweit größter Importeur von Weizen brachte dies Ägypten in eine schwierige Lage. 2010 hatten sich die Preise für Grundnahrungsmittel derart erhöht, dass sie für viele Menschen unerschwinglich wurden. Nicht zufällig stand an erster Stelle des berühmten Revolutionsslogans der Protestierenden vom Tahrir-Platz der Ruf nach „Brot“ – und nicht nach Demokratie. Polizeifolter, staatliche Willkür und Machtmissbrauch waren zwar hier wie anderswo die Zündfunken der Proteste; Wucht und Masse bekamen sie allerdings durch die vielen Verlierer der globalen Finanz- und Klimakrise.

Brotunruhen hatte es bereits früher in der Region gegeben. Neu waren die durch das Internet und die sozialen Medien geschaffenen Kommunikations- und Organisationsräume. Bei der Mobilisierung und Organisation der Proteste spielten die sozialen Medien eine entscheidende Rolle. Für diese gab es zwar im Iran und anderswo auch Vorläufer, aber soziale Medien trugen zum ersten Mal im arabischen Raum zum Sturz mehrerer Regierungen bei. Das war kein Zufall. Gerade unter den Bedingungen der herrschenden gesellschaftlichen und politischen Kontrolle und angesichts des Fehlens öffentlicher Räume verbreiteten sich virtuelle Kommunikations- und Kontaktforen rasanter als anderswo. Vor allem Facebook war 2010/11 bereits tief in den arabischen Mittelschichten verankert. Die ab 2004 entstehende Blogosphäre hatten bereits die Vorläufer der späteren Protestbewegungen genutzt. Unterstützt von den globalen Internetkonzernen, lernten die Aktivisten dieser Bewegungen, sich in den neuen sozialen Medien zu artikulieren und zu organisieren. Kein Zufall also, dass es ein ehemaliger Google-Mitarbeiter war, der über eine Facebook-Seite die Proteste in Ägypten initiierte und anfangs auch organisierte.

 

Fake News und Dschihad-Hipster

 

Diese Form der digitalen Organisation war auch deshalb so erfolgreich, weil die Machthaber die Funktionsweise der neuen Medien zunächst nicht verstanden. Aber sie lernten schnell. Nachdem das Abschalten des Internet und der Mobilfunknetze die Ägypter am 28. Januar 2011 noch in großer Zahl auf die Straße getrieben hatte, drehte das ägyptische Regime den Spieß um und begann, die sozialen Medien zur Überwachung, Manipulation und Kontrolle zu nutzen. Noch bevor der Begriff „alternative Fakten“ existierte, wurden diese bereits in den Kellern des ägyptischen Innenministeriums und von den Dschihad-Hipstern des Islamischen Staates in die Welt gesetzt. Im Westen dachte man damals noch, dass soziale Medien zwar Diktatoren stürzen, aber Demokratien nichts anhaben könnten.

Es waren jedoch nicht nur die neuen Kommunikationsmöglichkeiten, die in den arabischen Umbrüchen erstmals überregionale Wirkung entfalteten. Mit den neuen Medien formierte sich auch eine neue Form des politischen Aktivismus. Anknüpfungspunkte boten die vielen Protestbewegungen, die entgegen der verbreiteten Wahrnehmung bereits vor den Umbrüchen in der Region aktiv waren: die ägyptische Intellektuellengruppe Kifa​​​​​​​ya, die großen Streikbewegungen Südtunesiens und der ägyptischen Delta-Region, die Internetaktivisten, die Ultras der Fußballvereine und die Studentengruppen der Muslimbruderschaft. Mit dem Generalstreik am 6. April 2008 gelang es in Ägypten erstmals, diese unterschiedlichen und heterogenen Gruppen in einer Rahmenbewegung zu vereinen. In der soziologischen Forschung war das Frame-Bridging, der Schulterschluss völlig unterschiedlicher Bewegungen in Form einer führerlosen Mobilisierung über Netzwerke, längst bekannt. Aber kaum zuvor erlangte dies eine solche Wirkung wie bei den Umbrüchen 2010/11.

 

Street-Art, Poetry-Slam und Graffitikunst

 

Asef Bayat, einer der bekanntesten Interpreten der arabischen Umbrüche, hat hierfür den Begriff des „Non-Movements“ verwendet. Hierunter versteht er das gemeinsame Handeln nicht kollektiv organisierter Akteure, die durch ähnliche Formen des Aktivismus politischen Wandel herbeiführen, ohne durch gemeinsame Ziele, Strukturen, Führer oder Ideologien verbunden zu sein. Für Bayat ging es in den arabischen Straßen nicht um eine neue Vision von Politik. Statt einer Abschaffung bestehender Ordnungen hatten die Protestierenden vor allem Wut im Bauch und konkrete Veränderungen im Blick. Für ihn waren die Revolutionen von 2010/11 gewissermaßen post-ideologisch. Dies zeigte sich auch in den in Kairo und Tunis praktizierten popkulturellen Protestformen: Street-Art, Poetry-Slam, Graffitikunst, Musik und Happening gehörten ebenso zu der arabischen „Street-Politics“ wie später zu Occupy, Fridays for Future und Black Lives Matter. Kairo und Tunis waren 2010/11 so cool und modern wie vermutlich wenige andere Städte der Welt.

Allerdings war damit allein keine Revolution zu machen. Schnell fiel der Konsens zusammen, als mit dem Ende der Autokraten das einigende Ziel erreicht war. Kaum einer der Initiatoren der Proteste hatte ein eigenes Governance-Modell oder eine institutionelle Vision einer neuen Politik. Führer und System sollten weg, Konzepte einer anderen Ordnung gab es nicht. Für den heutigen Beobachter verbieten sich Parallelen zu den aktuellen Formen des populistischen Aktivismus, wie etwa den Corona-Demonstrationen. Denn die, die hier auf die Straße gehen, haben mit den arabischen Aktivisten von damals weder Ziele noch Betroffenheit oder Legitimität gemein – aber in der Form, in der Führungs- und Konzeptionslosigkeit, in ihrer Heterogenität und in ihren Forderungen nach einem Abdanken der jeweiligen Regierungen ohne Aufzeigen einer glaubwürdigen Alternative gibt es durchaus Parallelen. Das Irhal! („Hau ab!“) oder Dégage!, das den Mubaraks und Ben Alis tausendfach entgegengeschleudert wurde, spiegelt sich heute antidemokratisch in den „Merkel muss weg“-Rufen von Verschwörern, Identitären und Reichsbürgern. Anders als die von Querdenkern und Verschwörungstheoretikern inszenierte Bedrohung durch das System war diese für die Menschen in Tunis, Kairo und Damaskus damals überaus real.

Und sie ist es noch heute. Wer vor zehn Jahren die Dynamiken in der Region miterlebt hat, reibt sich heute die Augen. Der Fall der Diktatoren hat politisch wenig bis gar nichts verändert. Im Gegenteil: Die alten Herrschaftsstrukturen sind weitgehend intakt. Vor allem in Ägypten ist die Menschenrechtslage schlimmer, als sie es unter Husni Mubarak je war. Gleichzeitig verfestigte sich die Neuordnung des nahöstlichen Staatensystems, das mittlerweile vom Gegensatz zwischen Status-quo-orientierten Autokratien wie Saudi-Arabien, Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten auf der einen und islamistisch geprägten Akteuren wie dem Iran, Katar, zum Teil auch der Türkei und den Muslimbrüdern auf der anderen Seite strukturiert wird. Dieser „dritte arabische Kalte Krieg“ (Nabeel Khoury) zeichnete sich bereits vor 2010/11 ab; erst danach wurde er aber politikbestimmend für die gesamte Region.

 

Gestärktes Narrativ

 

Die Geschichte hat also scheinbar den autoritären Regimen recht gegeben und damit ein Narrativ gestärkt, das angesichts von Pandemie und Klimakrise heute auch im Westen Widerhall findet. Sind Autokratien besser als Demokratien in der Lage, komplexe politische Herausforderungen zu managen und auf Veränderungen zu reagieren? Wer diese Frage mit „Ja“ beantworten will, dem sei der Blick auf die arabischen Umbrüche empfohlen.

Verursacht wurden diese vor allem von Systemversagen, Legitimitätsverlust und der Vernachlässigung staatlicher Institutionen. Es waren mit Marokko, Jordanien und den Golfmonarchien nicht zufällig jene Staaten, deren Führungen ein gewisses Maß an (wenn auch nicht demokratischer) Legitimation aufwiesen und die vergleichsweise funktionale politische Institutionen aufgebaut hatten, welche die Umbrüche weitgehend unbeschadet überstanden. Für sie bewährte sich 2010/11 eine Mischung aus Legitimität und Funktionalität, nicht das autokratische Herrschaftsmodell.

 

Einstieg in eine globalpolitische Epoche

 

Was bleibt vom „Arabischen Frühling“ außer Enttäuschung? Einiges, wenn man die Ereignisse von 2010/11 nicht ausschließlich als „nachgeholten Mauerfall“ verklärt oder als Wegbereiter von Terror und Chaos verdammt. Die Umbrüche im arabischen Raum waren primär Reaktionen auf jahrzehntealte innenpolitische Missstände.

Aber sie wurden befeuert durch globale Entwicklungen, die heute noch viel deutlicher hervortreten als vor zehn Jahren. Die sozialen Medien waren damals noch jung und konnten gerade deshalb eine Wirkung entfalten, die niemand vorausgesehen hatte. Heute weiß man, dass Daten, Algorithmen und der menschliche Drang nach Geltung, Unterhaltung und Vernetzung gesellschaftsprägend und politikbestimmend sein können. Oft mit negativen Folgen. In Kairo, Tunis und Damaskus konnte man schon vor zehn Jahren beobachten, wie solche Bewegungen entstehen und sich zusammenfügen. Und man konnte auch sehen, was gegen Entfremdung und Politikverdrossenheit hilft: funktionierende politische Verfahren und Prozesse. Irgendwann werden kluge Beobachter einen Namen für die globalpolitische Epoche gefunden haben, in die wir uns momentan hineinbewegen. Nicht unwahrscheinlich, dass der „Arabische Frühling“ dann als einer der Vorboten dieser Epoche gelten wird.

 

Andreas Jacobs, geboren 1969 in Kleve, von 2007 bis 2012 Leiter des Auslandsbüros Kairo der Konrad-Adenauer-Stiftung, seit 2020 Leiter Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

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