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Krieg und Einheit vor 150 Jahren

by Christopher Beckmann

Neue Literatur über Wilhelm I., die Reichsgründung und das historische Erbe des Kaiserreiches - Teil II

Robert-Tarek Fischer: Wilhelm I. Vom preußischen König zum ersten Deutschen Kaiser, Böhlau, Wien/Köln/ Weimar 2020, 404 Seiten, 35,00 Euro. Michael Epkenhans: Die Reichsgründung 1870/71, C. H. Beck, München 2020, 128 Seiten, 9,95 Euro. Eckart Conze: Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe, dtv, München 2020, 288 Seiten, 22,00 Euro. Christoph Nonn: 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des deutschen Kaiserreichs 1871–1918, C. H. Beck, München 2020, 687 Seiten, 34,00 Euro.

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Der bekannte, 2005 hochbetagt verstorbene amerikanische Historiker Gordon A. Craig stellte in seinem 1997 erschienenen Buch Über Fontane in einer beiläufigen Bemerkung fest, wissenschaftliche Kontroversen seien „eine Herzensangelegenheit der Deutschen“. Auch die Geschichte des 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreichs ist – nicht nur von der deutschen Historiographie – breit erforscht worden und war auch Gegenstand von zum Teil heftigen Kontroversen. Dabei ging es unter anderem um die tatsächliche oder vermeintliche Existenz eines letztlich verderblichen deutschen „Sonderwegs“, um das Vorhandensein eines Primats der Innen- oder der Außenpolitik, um die Frage, ob sich das Reich auf dem Weg zu einem parlamentarischen System befand, ehe dieser Prozess durch den Beginn des Ersten Weltkrieges gestoppt wurde, schließlich darum, welchen Anteil das Reich am Entstehen dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) hatte und ob es den Konflikt gar bewusst auslöste, sowie um mögliche Kontinuitätslinien von Otto von Bismarck zu Adolf Hitler.

Mittlerweile liegt neben einer unüberschaubaren Fülle von Studien zu Einzelaspekten auch eine Reihe gewichtiger Gesamtdarstellungen – zum Teil schon Klassiker – zum Kaiserreich vor, etwa aus den Federn von Michael Stürmer, Thomas Nipperdey, Hans-Ulrich Wehler, Wolfgang J. Mommsen oder Volker Ullrich. Wer das nötige Maß an innerweltlicher Askese aufbringt, sich durch diese mehreren Tausend Seiten geballter Gelehrsamkeit zu kämpfen, gewinnt ein differenziertes, vielschichtiges und zum Teil auch widersprüchliches Bild der deutschen Geschichte von 1866/71 bis 1918. Nipperdey, der den Ambiguitäten der Epoche wohl die größte Aufmerksamkeit gewidmet hat, brachte dies nach rund 1.800 Seiten abschließend auf die Formel, die „Grundfarben“ des Kaiserreichs wie der Geschichte überhaupt seien nicht Schwarz und Weiß in klarer Abgrenzung, die „Grundfarbe der Geschichte“ sei vielmehr „grau in unendlichen Schattierungen“.

Die Magie – manche sagen auch: der Terror – der runden Zahl hat Publizisten und Wissenschaftler bewogen, aus Anlass des 150. Jahrestages seiner Gründung sich neben dem Deutsch-Französischen Krieg im engeren Sinne (vgl. Die Politische Meinung, Nr. 565, November/Dezember 2020, S. 117–121) erneut mit der Entwicklung des Kaiserreichs und vor allem seinem historischen Erbe auseinanderzusetzen. Die Ergebnisse changieren – um das Bild aufzugreifen – zwischen eher hell- und ziemlich dunkelgrau.

 

Kein „historischer Edelkomparse“

 

Aus der Feder des österreichischen Journalisten Robert-Tarek Fischer stammt die erste Biographie Wilhelms I., die wissenschaftlichen Anspruch erheben kann, da sie neben gedruckten in nennenswertem, wenngleich nicht umfassendem Umfang auch archivalische Quellen heranzieht. Fischer wendet sich gegen das gängige Klischee von einem im übermächtigen Schatten Bismarcks stehenden, auf die Stellung eines „historischen Edelkomparsen“ reduzierten Kaiser. Wilhelm sei zwar kein politisch-strategisch denkender Kopf gewesen, habe sich jedoch stets bemüht, sich umfassend zu informieren und auf dieser Grundlage zu wichtigen Fragen Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Zudem attestiert Fischer dem preußischen König und Deutschen Kaiser Lernfähigkeit und die Bereitschaft zum zumindest partiellen Umdenken. So konnte aus einem autokratischen Feuerkopf, der während der Revolution von 1848 als kompromissloser „Scharfmacher“ galt, der „jeden Widerstand mit Waffengewalt brechen wollte“ und daher vorübergehend das Land verlassen musste, auf seine alten Tage der „gütige Übervater der Nation“ werden.

Fischer spricht Wilhelm vor allem im militärischen Bereich erheblichen und eigenständigen Einfluss zu: Nicht nur sei er der letzte europäische Monarch gewesen, der – während der Kriege gegen Österreich und gegen Frankreich – ein Armeeoberkommando ausgeübt habe, „das mehr als eine reine Fiktion darstellte“, sondern Wilhelm I. habe auch im Vorfeld der Einigungskriege wichtige Voraussetzungen für die preußisch-deutschen Siege geschaffen, indem er die Aufrüstung und Modernisierung des preußischen Heeres vorantrieb und als Instrument der strategischen Planung und Lenkung den Generalstab und dessen Chef Helmuth von Moltke aufwertete. Letzteres ging zulasten des Kriegsministeriums und war in langfristiger Perspektive ein Beitrag zur – höchst problematischen – Durchsetzung des Primats des Militärs gegenüber der Politik. Nach der Reichsgründung habe der nunmehrige Kaiser allenfalls noch punktuellen Einfluss auf das politische Tagesgeschäft genommen, dieses aber aufmerksam verfolgt und sich eingehend informieren lassen. Allerdings habe er eine für das Zusammenwachsen der Deutschen unverzichtbare Rolle als „Symbolgestalt des gesamten Reiches“ gespielt und dabei „ein hochprofessionelle[s] Kommunikationsverhalten“ an den Tag gelegt, „das auf feinem Instinkt und sozialer Intelligenz basierte“.

 

Mit Augusta über Kreuz

 

Zu dem Aspekt des Kaisertums Wilhelms I. hätte man sich eine eingehendere Analyse des erwähnten Kommunikationsverhaltens und der Rezeption durch die Öffentlichkeit gewünscht. Gleiches gilt für Wilhelms Rolle beim Kampf gegen die katholische Kirche und die Sozialdemokratie als vermeintliche „Reichsfeinde“. Auch das Verhältnis zu seiner Frau Augusta hätte größere Aufmerksamkeit verdient gehabt. Nicht nur, dass Wilhelm immer wieder außereheliche Liebesbeziehungen pflegte – auch politisch lag er mit der Kaiserin häufig über Kreuz. So lehnte diese den Kulturkampf, in dem ihr Mann eine durchaus treibende Rolle einnahm, nicht nur vehement ab, sondern versuchte, im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch den Bestrebungen des Kaisers und Bismarcks entgegenzuwirken (vgl. hierzu die Beiträge von Jan Markert und Caroline Galm, Historisch-Politische Mitteilungen, Band 27 [2020]). Trotz solcher Lücken ist die Biographie von Robert-Tarek Fischer über Wilhelm I. ein informatives, lesenswertes und zudem flott und anschaulich geschriebenes Buch.

Wer eine knappe, kompetente und gut lesbare Darstellung zur Reichsgründung sucht, kann – wie beim Thema Deutsch-Französischer Krieg – auf einen schmalen Band von Michael Epkenhans zurückgreifen. Stets abgewogen urteilend, schildert er die Vorgeschichte seit 1848, die Entstehung des Reiches im Zuge der Einigungskriege und die von der Gründung „von oben“ ausgehenden Wirkungen. Epkenhans betont die Janusköpfigkeit des neuen Staates, in dem der Reichstag nur eingeschränkte Rechte hatte und die Regierung allein vom Monarchen abhing, das Wahlrecht für das Zentralparlament aber fortschrittlicher und demokratischer war als das im „Mutterland der parlamentarischen Demokratie“ – Großbritannien – praktizierte.

 

Mehr Diskontinuitäten als Kontinuitäten

 

Die Sozialgesetzgebungspolitik sei von „ungeheurer Modernität“ gewesen und habe die „Grundlagen für den modernen Interventions- und Wohlfahrtsstaat geschaffen“. Eine Umgestaltung des Reiches im liberalen Sinne sei neben dem „Machiavellismus“ Bismarcks auch am „Opportunismus der Liberalen“ gescheitert, die es vorgezogen hätten, „sich so lange als möglich im Glanz des Reichsgründers zu sonnen“. Mit Blick auf den Ort des Kaiserreichs in der deutschen Geschichte betont Epkenhans, dass trotz der Belastungen durch die Form der Reichsgründung weder der Weg in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs noch der in die nationalsozialistische Diktatur vorgezeichnet gewesen sei: „[…] die Diskontinuitäten zwischen Bismarck und Hitler überwogen die unleugbar vorhandenen Kontinuitäten.“

Auch Eckart Conze sieht die Widersprüche wie die Potenziale des Kaiserreichs, betont aber stärker die Sackgassen und Fehlentwicklungen seiner Geschichte. Er möchte sein Buch als „historische Analyse und geschichtspolitische Intervention“ verstanden wissen, angesichts eines von ihm konstatierten Aufkommens eines „neuen Nationalismus, der außenpolitische Bindungen, nicht zuletzt in Europa, infrage stellt […] und einer völkisch bestimmten nationalen Identität das Wort redet“. Dies werde dadurch gefördert, dass in Teilen der Geschichtswissenschaft – Conze nennt etwa Christopher Clark, an dessen populär gewordenem Buch Die Schlafwandler er sich in einem eigenen Kapitel kritisch abarbeitet – das Kaiserreich, das doch bis zum Schluss ein autoritärer Nationalstaat gewesen sei, zunehmend in einem milderen Licht betrachtet werde. Dabei – so heißt es gleich zu Beginn der „Intervention“ – könne allein die Weimarer Republik „einen Platz im Demokratiegedächtnis der Bundesrepublik beanspruchen“, während im Verhältnis zum Kaiserreich in dieser Hinsicht nur „Distanz und Diskontinuität“ vorhanden seien.

 

Vernachlässigung gegenläufiger Tendenzen

 

Mit Blick auf den zitierten Befund von Michael Epkenhans zur (auch von Conze erwähnten) Rolle des Kaiserreichs bei der Entstehung deutscher Sozialstaatlichkeit, die sich später als ein Anker unseres demokratischen Systems erwiesen hat, kann man hier sicherlich ein Fragezeichen setzen. Das gilt auch für einige andere Punkte. So weist Conze zwar wiederholt darauf hin, dass Nationalismus, Militarismus, Antisemitismus und ein – rassistisch aufgeladener und vielfach mörderischer – Kolonialismus gemeineuropäische Phänomene waren, führt dies jedoch kaum näher aus, um den deutschen Fall entsprechend einordnen zu können.

Auch werden gegenläufige Tendenzen vernachlässigt; etwa die Tatsache, dass das brutale Vorgehen der deutschen Schutztruppe gegen die Herero und Nama auf dem Gebiet des heutigen Namibia zwischen 1904 und 1908 – Norbert Lammert sprach 2015 dezidiert von „Völkermord“ – im Deutschen Reich durchaus erhebliche Proteste hervorrief. Alles in allem bietet das Buch eine ganze Reihe von Anregungen für Diskussionen – und das ist letztlich wohl die Funktion einer „geschichtspolitischen Intervention“.

 

Betonung zukunftsweisender Potenziale

 

Wer auf der Suche nach einem Buchgeschenk für eine historisch interessierte Person ist, kann mit dem Band von Christoph Nonn eigentlich nichts falsch machen. Es folgt offenkundig dem Grundsatz, dass, wer Geschichte vermitteln will, Geschichten erzählen sollte. Ausgehend von zwölf bekannten oder auch weniger bekannten Ereignissen, behandelt der Autor zentrale Aspekte der Geschichte des Kaiserreiches und stellt dabei auch manche vermeintlich gesicherte Erkenntnis infrage. Besonders gelungen ist seine Darstellung der konfessionellen Verhältnisse im Kaiserreich, für die er die Schilderung der durch eine angebliche Erscheinung der Mutter Gottes im saarländischen Marpingen am 3. Juli 1876 ausgelösten Ereignisse als Ausgangspunkt nimmt. Dabei attestiert Nonn den liberalen Kräften in den Parlamenten, die den Kulturkampf – wenn auch aus anderen Motiven als Bismarck und die Konservativen – unterstützten und teilweise forcierten, sie hätten dabei nicht nur eigene Prinzipien mit Füßen getreten, sondern ihre Auffassungen mit „Fanatismus“ und „ideologischer Inbrunst“ vorgebracht.

Am Beispiel der bekannten Geschichte um den Hauptmann von Köpenick stellt Christoph Nonn die gängige, nicht selten mit dieser Episode illustrierte Behauptung vom „Militarismus“ des Kaiserreichs auf den Prüfstand. Zum einen seien der Bürgermeister von Köpenick und die im Rathaus anwesenden Beamten keineswegs in Ehrfurcht vor der Uniform des vermeintlichen Hauptmanns erstarrt, sondern hätten dessen Legitimation durchaus zu hinterfragen versucht und seien erst vor einer Gewaltandrohung zurückgewichen. Zudem sei das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Militär in den anderen europäischen Staaten vor dem Ersten Weltkrieg durchaus ähnlich und die Pro-Kopf-Ausgaben für das Militär in Großbritannien und Frankreich deutlich höher gewesen als im Deutschen Reich. Im Gegensatz zu Conze betont Nonn stärker die zukunftsweisenden und demokratischen Potenziale des Kaiserreichs, etwa dessen Rechtsstaatscharakter.

 

Parteien und Wähler ohne Verantwortung

 

Die parallele Lektüre der Bücher von Christoph Nonn und Eckart Conze ermöglicht es nicht nur, unterschiedliche Interpretationen wichtiger Aspekte der Geschichte des Kaiserreiches und solche, über die Konsens besteht, kennenzulernen. In manchen Punkten ergänzen sich die Darstellungen auch: So sind sich die Autoren einig darin, dass die ausgebliebene Parlamentarisierung des Reiches die politische Kultur in Deutschland dauerhaft belastet hat, und zwar über das Kaiserreich hinaus. Die „Kombination aus demokratischem Wahlrecht und undemokratischer Verfassungsstruktur“ habe, so Nonn, „eine Praxis politischer Demagogie“ begünstigt.

Während Conze hervorhebt, dass dies vor allem im rechten Lager der Entstehung von nicht selten stark nationalistischen Verbänden Vorschub geleistet habe, die unmittelbaren Einfluss auf die Bürokratie und die Öffentlichkeit auszuüben versuchten, betont Nonn die Folgen für die Parteien. Da deren Bedeutung zwar wuchs, aber nicht mit der Übernahme von Regierungsverantwortung verbunden war, seien 1919, als der Reichstag zum politischen Machtzentrum wurde, weder die Wähler noch die von einer „in einem halben Jahrhundert angeeignete[n] Mentalität der politischen Verantwortungslosigkeit“ geprägten Parteien darauf vorbereitet gewesen.

 

Fontane lesen!

 

Nochmals zurück zum eingangs zitierten Gordon A. Craig und seinem Werk über Theodor Fontane: Die nicht schlechteste Möglichkeit, sich anlässlich des 150. Jahrestages seiner Gründung wieder mit der Geschichte des Kaiserreichs auseinanderzusetzen, ist die (erneute) Lektüre der Romane Fontanes.

Ihm bescheinigte Craig zu Recht, tiefer in die gesellschaftliche Wirklichkeit seiner Zeit eingedrungen zu sein und sie anschaulicher dargestellt zu haben, als es dem Historiker in der Regel möglich ist.

 

Christopher Beckmann, geboren 1966 in Essen, Historiker, Referent Wissenschaftliche Dienste / Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

Soeben erschienen:

Tilman Mayer (Hrsg.): 150 Jahre Nationalstaatlichkeit in Deutschland. Essays, Reflexionen, Kontroversen, Nomos Verlag, Baden-Baden 2021, 338 Seiten, 49,00 Euro.

Mit Beiträgen von Eberhard Diepgen, Michael Gehler, Christian Hillgruber, Eckhard Jesse, Hanns Jürgen Küsters, Hans-Christof Kraus, Ulrich Lappenküper, Reiner Marcowitz, Tilman Mayer, Henning Ottmann, Werner Plumpe, Wolfram Pyta, Ulrich Schlie und Brendan Simms.

 

 

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