Dass ausgerechnet in Hessen seit ein paar Wochen die erste schwarz-grüne Landesregierung in einem deutschen Flächenstaat amtiert, hat viele überrascht. Immerhin war der Wiesbadener Landtag seit Jahrzehnten ein Ort heftigster politischer Auseinandersetzungen entlang der alten Blockkonfrontation zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb. Während anderswo in Deutschland alte Feindbilder verblasst und die Zeiten des schwarz-grünen Kulturkampfs längst vorbei waren, schien am Wiesbadener Schlossplatz die Zeit stillzustehen: Dort beharkten sich Union und Grüne noch immer wie zu den Zeiten von Dregger, Koch und Fischer.
Wer die politische Landschaft in Hessen allein an der Polemik der Wiesbadener Debattenkultur maß, konnte tatsächlich mit einer schwarz-grünen Annäherung gerade hier kaum rechnen. Doch hatte die Heftigkeit der politischen Kontroversen im Landtag seit Längerem verdeckt, dass in vielen Gemeinden und Landkreisen des Landes längst eine Auflockerung angestammter Gegner- und Feindschaften in Gang gekommen war. In der Mainmetropole Frankfurt etwa existiert seit 2006 ein schwarz-grünes Bündnis, das auch den Wahlsieg eines SPD-OB überstanden hat. Auch in Kassel und Wiesbaden haben Grüne und Schwarze zwischenzeitlich Bündniserfahrungen gemacht. In Darmstadt amtiert seit 2011 ein grüner Oberbürgermeister mit Unterstützung durch die Union. Auch auf Landkreisebene ist Schwarz-Grün lange schon keine Neuheit mehr: In Marburg-Biedenkopf bestimmt seit dreizehn Jahren ein allerdings derzeit gefährdetes Bündnis von Schwarz und Grün die politischen Geschicke.
Die anscheinend so festgefahrenen Lagerstrukturen im Landtag entsprachen jedenfalls länger schon nicht mehr den politischen Verhältnissen an der kommunalen Basis. Außerdem: Mit dem Wechsel von Roland Koch zu Volker Bouffier war zumindest eine Veränderung der politischen Tonlage verbunden, und die Landtagsgrünen hatten mit ihren Vorstellungen vom Schulfrieden in Hessen und von der Wahlfreiheit zwischen einer acht- und einer neunjährigen Gymnasialzeit eine politische Position in einer Kernfrage der Landespolitik formuliert, auf die sich die CDU in einer überraschenden Volte zubewegt hat; so betrachtet, ist das Zustandekommen dieses Bündnisses weniger überraschend.
Heimliche Sondierung
Die Entwicklung des letzten Jahrzehnts hat gezeigt, dass mit dem politischen Generationswechsel die Zeit zu Ende ging, in der die hessische CDU mit dem Begriff vom konservativen Kampfverband ausreichend beschrieben war. Der polarisierende Stil und das öffentliche Image von Roland Koch hat dies im öffentlichen Erscheinungsbild lange Zeit überdeckt. Mittlerweile ist ja auch bekannt geworden, dass es schon 2008 zu einem – allerdings ergebnislosen – klandestinen Sondierungsgespräch zwischen der landespolitischen Führung von Union und Grünen gekommen ist. Sogar mit Koch.
Hinzu kommt, dass an vielen Orten des Bundeslandes grüne Mandatsträger die Erfahrung gemacht haben, dass die traditionell bevorzugten rot-grünen Bündnisse nicht immer zu erfüllten Liebesehen gerieten, sondern nicht selten von Zoff und mitunter von Nervereien begleitet waren. So ist bei vielen Grünen über die Jahre zwar die stärkere programmatische Nähe zur SPD geblieben. Das Für und Wider von Bündnissen wird aber mehr und mehr ganz pragmatisch und nüchtern betrachtet; ein Automatismus zugunsten der Genossen existiert nicht mehr, ebenso wenig wie ein grundsätzliches Nein zur Union.
Dennoch war in der Wahlnacht nicht unbedingt davon auszugehen, dass die schwierigen Mehrheitsverhältnisse am Ende Schwarz-Grün hervorbringen würden. Lange Zeit schien eine rot-rot-grüne Allianz ebenso denkbar wie eine Große Koalition auch in Wiesbaden. Dass es anders gekommen ist, hatte mehrere Ursachen.
Linke untauglich, Hängepartie bei der SPD
Sowohl Grüne als auch Sozialdemokraten haben in den Sondierungsgesprächen mit den Linken festgestellt, dass ein Bündnis mit dieser Partei zumindest derzeit nicht möglich ist. Die Linkspartei war nicht bereit, bei der Rückführung der Schuldenlast des Landes nach der in der Verfassung vorgegebenen Schuldenbremse eine mitverantwortliche Rolle zu übernehmen. Diese Erkenntnis ist gerade im Blick auf die neuesten Öffnungssignale der Sozialdemokraten im Bund auch von übergeordnetem Interesse. Denn wenn schon auf der Ebene eines westdeutschen Landes eine Regierungszusammenarbeit mit dieser Partei in absehbarer Zeit nicht denkbar ist, muss man sich natürlich fragen, wie sie sich diejenigen Sozialdemokraten vorstellen, die eine Zusammenarbeit im Bund 2017 für eine anzustrebende Option halten.
Das verbreitete Unbehagen an der sozialdemokratischen Basis gegenüber einer Großen Koalition hat die SPD-Parteiführung in Hessen zu einer langen Hängepartie genötigt. Hier sollte wohl die Entscheidung im Bund abgewartet werden. Dadurch ist eine Dynamik des Sondierungsprozesses entstanden, durch die Schwarz und Grün in eine Initiativrolle gelangten und die SPD auf die Zuschauerbank geriet.
Einfach den größeren Charme
Sowohl aus Sicht der Union als auch aus Sicht der Grünen sprachen die meisten Argumente für Schwarz-Grün; es hatte sich abgezeichnet, dass eine inhaltliche Einigung nicht unmöglich sein würde. Zwar wäre für die Union ein Zusammengehen mit den Sozialdemokraten in Fragen der Verkehrspolitik wie in der Zentralfrage der Entwicklung des Frankfurter Flughafens einfacher gewesen. Doch hatte aus Sicht vieler Christlicher Demokraten das Bündnis mit den Grünen einfach den größeren Charme – zumal man in der Schulpolitik leichter zusammenkommen konnte, ausgesprochene Anhänger der Großen Koalition sich auch in der Union in Grenzen halten, die Arithmetik natürlich für die kleineren Grünen sprach und auch aus perspektivischen Gründen ein Bündnis mit den Grünen die interessantere Variante sein musste. Schließlich braucht die CDU auf allen Ebenen, nicht zuletzt im Bund, strategische Optionen jenseits der Großen Koalition. Niemand kann derzeit wissen, ob und wie die FDP jemals wieder hinreichend erstarkt.
Konkrete Kompromisse und wolkige Absichtserklärungen
Aus Sicht der Grünen schuf das Bündnis mit der Union nicht nur die einzige Chance, nach fünfzehn Jahren Opposition wieder eine landespolitische Gestaltungschance in der Regierung zu bekommen. Hätten sie diese Chance ausgeschlagen, hätte sich die Partei nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche im Bund ein zweites Mal auf die Zuschauerbänke zurückgezogen, um von dort aus das schwierige Zustandekommen einer Großen Koalition zu beobachten. Strategisch betrachtet, wäre dies unklug gewesen – zumal die Mühen der Koalitionsbildung in der öffentlichen Meinung mit einigen Sympathien rechnen konnten.
All diese Überlegungen konnten natürlich nur deshalb eine Rolle spielen, weil eine inhaltliche Einigung nicht unmöglich war. Hier ist in der Sondierungsphase irgendwann auf beiden Seiten die Überzeugung entstanden, dass das möglich sei. Einfach war es nicht. Für die Grünen musste ein Kompromiss in der Flughafenfrage besonders heikel sein. Ob das, was dann gefunden wurde – eine Art Moratorium beim weiteren Ausbau und die Wahrnehmung aller rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten für eine Reduzierung der Lärmbelastung für die Anwohner –, tatsächlich trägt, wird sich zeigen müssen. Immerhin weist der Koalitionsvertrag an etlichen Stellen eine grüne Handschrift auf. Ob das überall da, wo es sich um eher wolkige Absichtserklärungen handelt, am Ende auch mit Leben erfüllt werden wird, muss freilich erst einmal offenbleiben.
Von den Bäumen herunter
Riskant ist die Entscheidung vor allem für die Grünen. Sie stehen nicht nur vor dem Problem, da und dort Positionen und kritische Töne zu revidieren, die sie als Oppositionspartei risikolos vertreten und anschlagen konnten. Das gilt zum Beispiel für den Rechtsstreit des Landes mit der RWE über die seinerzeit kritisierte, mangelhafte Stilllegungsverfügung der ehemaligen Umweltministerin Lucia Puttrich beim Atomkraftwerk Biblis. Die Grünen müssen die Skepsis widerlegen, mit der ein nicht geringer Teil ihrer Anhängerschaft und ihrer Wähler dieses Experiment begleiten. Das wird nicht leicht werden. Es ist immer einfacher, Menschen mit oppositioneller Rhetorik auf die Bäume zu treiben als von dort wieder herunter.
Demgegenüber hat die Union weitaus weniger zu fürchten. Zum einen wird sie davon profitieren, dass ihre Anhängerschaft in aller Regel schon das skandalfreie und möglichst glatte Regieren selbst goutiert. Das öffnet ihr allerhand Möglichkeiten zu Konzessionen gegenüber den Grünen, jedenfalls da, wo keine wirklich empfindlichen Punkte in der eigenen Anhängerschaft berührt sind. Da der neuen Koalition keine neuen Grundsatzstreitereien, etwa über Schulformen, ins Haus stehen, ist nicht zu befürchten, dass diese schwarz-grüne Koalition den Weg ihrer Hamburger Vorgängerin geht, die am Bürgerwiderstand gegen die sechsjährige Gemeinschaftsschule gescheitert ist.
Grüne Pfadfinder
Für die CDU schafft dieses Bündnis neue Chancen. Dass gerade die hessische CDU nun beweisen kann, wie Ökonomie und Ökologie in einem wirtschaftlich führenden Land der Bundesrepublik zusammenkommen können, schafft neben der Chance auf ein eigenes Profil als moderne Partei der Energiewende auch die Möglichkeit, das Image vom „konservativen Kampfverband“ endgültig hinter sich zu lassen. Natürlich wird bei einem Erfolg von Schwarz-Grün in Hessen diese Koalitionsoption auch im Bund 2017 eine Rolle spielen – trotz aller Nähe zwischen Rot und Grün. Die Grünen werden sich kaum ein weiteres Mal alternativ- und bedingungslos auf Rot-Grün festlegen wie im letzten Herbst.
Die hessischen Grünen sind in ihrer Bundespartei mit diesem Bündnis schlagartig in einer Rolle, in der sie seit Joschka Fischer und den Anfängen von Rot-Grün nicht mehr waren. Während die Bundesgrünen die Chance für schwarz-grüne Koalitionsverhandlungen in den Sondierungsgesprächen nicht nutzen konnten, weil sie darauf vollkommen unvorbereitet waren, haben die Hessen diese Chance ergriffen und damit auch eine Art Pfadfinderrolle übernommen. Und weil neben Tarek Al-Wazir noch sechs andere grüne Minister im Bundesrat energiepolitische Zuständigkeiten besitzen, wird den Grünen jetzt eine neue bundespolitische Gestaltungsmacht über den Bundesrat zukommen. Und gerade weil sie in unterschiedlichen politischen Konstellationen mitregieren, werden sie stärker als grüne Gestaltungsmacht hervortreten können.
Auftrieb für Realos
Das hat freilich Folgen für die Bundespolitik: Im Kern ist die Rolle der Grünen in den Bundesländern jetzt so stark geworden, dass bloße Fundamentalopposition gegen die Große Koalition in Berlin kaum möglich ist. Das wird die Gewichte zwischen Bundestagsfraktion und Bundespartei einerseits und den Grünen in den Ländern verschieben.
Verschiebungen werden sich auch bei den parteiinternen Kräfteverhältnissen ergeben: Ein schwarz-grüner Vize-Ministerpräsident in Wiesbaden und ein grüner Ministerpräsident in Stuttgart, der als Erzrealo lange als Vordenker für Schwarz-Grün galt – das muss den in den letzten Jahren farbloser gewordenen Realos in der Partei Auftrieb geben.
Bei aller Vorsicht gegenüber der Überhöhung politischer Farbenlehren in der heutigen Zeit des raschen Wandels politischer Konstellationen lässt sich dennoch sagen, dass die Wiesbadener Entscheidung eine erhebliche bundespolitische Bedeutung besitzt. Ist das schwarz-grüne Bündnis hier erfolgreich, wird es mit Sicherheit keine alternativlose Festlegung auf Rot-Grün im grünen Bundestagswahlkampf 2017 geben. Sollte es im Laufe der Legislaturperiode zu heftigen Erschütterungen in der Berliner Großen Koalition kommen, ist nicht einmal auszuschließen, dass der Blick auf Wiesbaden schon vorher eine politische Rolle spielt – und sei es nur als Disziplinierungsmittel.
Helden oder Trottel?
Geht es schief, riskieren die Grünen allerhand. Dann droht ihnen das, was ihr Vormann Tarek Al-Wazir im Spiegel-Interview auf den Punkt gebracht hat, als er meinte, es könne wohl sein, dass die Koalitionsentscheidung eine historische Dimension habe. Es sei noch nicht ausgemacht, ob er und andere später einmal als Helden oder als Trottel dastünden. Schaun wir mal.
Hubert Kleinert, geboren 1954 in Melsungen, von 2000 bis 2002 Landesvorsitzender der Grünen in Hessen, Professor für Politikwissenschaft an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung, Abteilung Gießen.