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Das Konzentrationslager darf nicht zum isolierten Symbol für die Shoah werden

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Auschwitz. Allein schon der Name löst Grauen aus. Das größte Vernichtungslager der Nazis. Mehr als eine Million Juden wurden hier ermordet. Auch unter nichtjüdischen Gefangenen gab es Hunderttausende von Toten. So ist es nicht verwunderlich, dass Auschwitz zum wichtigsten Symbol des Holocausts wie der NS-Verfolgung insgesamt wurde. Das ist keineswegs falsch. Gedenken – auch das Gedenken an Opfer der Shoah – braucht Symbole. Es braucht Stätten, an denen wir uns dem Andenken an die Toten widmen. Und Auschwitz ist keine abstrakte Gedenkstätte. Wer diese Fabrik des Todes besucht, weiß, spürt, dass er sich am Ort unfassbarer Verbrechen befindet. Auch das ist wichtig.

Es ist kein Zufall, dass Auschwitz der Ort des Gedenk- und Erziehungsprogramms „Marsch der Lebenden“ ist. Vor allem jüdische Jugendliche schreiten dort zu Fuß den Weg von Auschwitz, dem Stammlager, nach Birkenau, der Stätte der massivsten Morde in den Gaskammern, nach. Sie werden von Erziehern, erwachsenen Aktivisten und Holocaust-Überlebenden begleitet. Im September 2003 wurde Auschwitz zum Ort der vielleicht ungewöhnlichsten Gedenkaktion, die dort jemals stattgefunden hat. Drei Kampfflugzeuge der israelischen Luftwaffe überflogen die Stätte der Vernichtung. In den Cockpits der F-15-Maschinen befanden sich Listen aller bekannten Opfer, die am selben Datum sechzig Jahre zuvor in Auschwitz ermordet worden waren. Die Namen waren von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ermittelt und bereitgestellt worden.

Auschwitz wird nicht nur von Juden besucht, und die Gesamtzahl der Besucher steigt. Wie die Gedenkstätte Auschwitz im Januar 2015 vermeldete, wurde 2014 eine Rekordzahl von Besuchern, mehr als anderthalb Millionen, registriert. Siebzig Prozent von ihnen waren unter achtzehn Jahre alt. Dass so viele vor allem junge Menschen den Ort des Grauens besuchen, ist zu begrüßen.

 

Der Tod grassierte überall in Europa

Und doch sehe ich eine gewisse Gefahr, dass Auschwitz zu einem nahezu alleinigen Symbol für die Shoah zu werden droht – und zwar vor allem in der nichtjüdischen Öffentlichkeit. Juden wissen natürlich, dass der Tod während des Holocausts nahezu überall in Europa grassierte. Juden wurden an Massengräbern in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnorte erschossen, bei lebendigem Leibe verbrannt, erschlagen oder starben an Hunger, Zwangsarbeit, Kälte, Krankheiten – es gab viele grausame Wege in den Tod.

Nicht nur Holocaust-Überlebende, sondern auch ihre Nachfahren kennen die Namen der Menschen, Angehörige ihrer Familien, die an unzähligen Orten Europas ermordet oder eingesammelt wurden, um sie an eine andere Stätte des Mordens zu bringen. Als Juden wissen wir nur zu gut, dass der Holocaust ein kontinentweites Phänomen war. Dass sich die Täter nicht nur aus den Reihen der SS rekrutierten, sondern auch Soldaten der Wehrmacht, Polizisten oder auch freiwillige Helfer – zum Teil aus der Bevölkerung besetzter Länder – waren.

Genau dieser Aspekt der Shoah darf auch in der allgemeinen Öffentlichkeit nicht in Vergessenheit geraten: die alte Gegenwärtigkeit des Bösen, die alte Gegenwärtigkeit des Todes. Es wäre ein Leichtes, ein nur zu Leichtes, alles auf Auschwitz – sozusagen – zu schieben. Das wäre nicht nur historisch falsch, sondern auch didaktisch verheerend. Auschwitz war ja nicht der Beginn der Judenverfolgung. Übrigens war es auch nicht die sogenannte Reichskristallnacht. Der Beginn der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten ist – und zwar spätestens, nicht etwa frühestens – in die ersten Monate des Jahres 1933 zu datieren. Am Anfang der Verfolgung standen nicht die Gaskammern. Es begann mit trockenen Gesetzen, etwa zum Schutze des Berufsbeamtentums – sprich zur Vertreibung deutscher Juden aus dem öffentlichen Dienst. Weitere Gesetze, Verordnungen und Erlasse folgten.

Bei der rassistischen Diskriminierung von Juden, bei der Enteignung, beim Raub, bei den Verhaftungen gingen die selbst ernannten deutschen Herrenmenschen nach dem Prinzip vor: „Ordnung muss sein.“ Dabei stellten sie zu ihrer Freude fest, dass die immer schärferen, immer unmenschlicheren Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden in der deutschen Öffentlichkeit auf keinen nennenswerten Widerstand, sondern im Gegenteil auf nicht wenig Zustimmung stießen. Wo die jüdischen Nachbarn abblieben, war den meisten herzlich egal.

 

Auschwitz entstand aus Rücksichtnahme auf die Mörder

Auschwitz war aber nicht einmal der Beginn des Massengenozids an Juden. Die ersten Vergasungsexperimente in dem Vernichtungslager fanden im September 1941 statt. Erst danach wurde beschlossen, große, zuverlässige und funktionstüchtige Gaskammern zu errichten. Auf volle Touren kam die Todesmaschinerie 1942. Bis dahin hatte sich bereits eine andere Massenmordmethode „glänzend“ bewährt: das Wüten der Einsatzgruppen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Dort trieb man Juden einfach zusammen, ohne irgendwelche Geheimnistuerei, und erschoss sie. Das gleiche Schicksal traf Zigeuner, kommunistische Aktivisten und Kriegsgefangene.

Dass diese Methode dann durch Gaskammern „ergänzt“ wurde, hatte nicht zuletzt mit der Rücksichtnahme auf die Mörder zu tun. Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz, beschrieb in seinen Memoiren, wie dies zustande kam. Die Vernichtungsstellen im Osten, so Heinrich Himmler zu Höß, seien nicht in der Lage, die beabsichtigten großen Aktionen, also die von Hitler befohlene „Endlösung“, durchzuführen. Die Erschießung der zu erwartenden Massen wäre auch eine zu große Belastung für die SS-Männer, die dies durchführen müssten. Im Frühjahr 1943, beim Beginn des Rückzugs der Wehrmacht von sowjetischem Territorium, hatten die Einsatzgruppen 1,25 Millionen Juden und Hunderttausende anderer sowjetischer Staatsangehöriger einschließlich Kriegsgefangener ermordet. Gewöhnlich erschossen die Einsatzgruppen ihre Opfer in Schluchten, verlassenen Steinbrüchen, Minen, Panzerabwehrgräben oder riesigen Gruben, die zu diesem Zweck ausgehoben worden waren. Die Erschießungen, vor allem von Frauen und Kindern, hatten Auswirkungen auf die psychische Verfassung der Mörder, was auch durch hochprozentigen Alkohol, der in großen Mengen ausgegeben wurde, nicht zu unterdrücken war. Das war einer der Hauptgründe, bereits im Jahr 1941 nach einer anderen Exekutionsmethode zu verfahren: mit Gaswagen – schweren Lkw mit hermetisch geschlossenen Aufbauten, in die Auspuffgase des Motors geleitet wurden. Innerhalb kurzer Zeit wurden solche Wagen an alle Einsatzgruppen geliefert.

 

Perfekte Gaskammern, hocheffizientes Gift

Man darf annehmen, dass die „Endlösung“ auch ohne die Industrialisierung des Mordes „erfolgreich“ vonstatten gegangen wäre. Nun aber durfte sich die überragende deutsche Industrietechnik in Auschwitz austoben. Perfekte Gaskammern. Hocheffizientes Gift. Gut organisierte Zulieferung von Menschen und Entsorgung von Leichen. Eine Arbeitsteilung, in der es jüdische Sonderkommandos waren, die sich mit den Leichen zu befassen hatten. War der Genozid je perfekter aufgestellt? Ich will nicht zynisch sein. Gewiss, die technische Vollkommenheit von Auschwitz war ungeheuerlich pervers. Das darf uns aber nicht dazu verleiten, die wirkliche Perversität des Holocausts zu übersehen: die Tatsache nämlich, dass ein ganzes Volk aus keinem anderen Grund als aus purem Hass zum Tode verurteilt wurde und dass dieses Urteil auch zur Vollstreckung gelangte, soweit und solange es den Mördern möglich war. Bei der Betrachtung von Auschwitz dürfen wir uns daher nicht – im Wortsinne – im technischen Detail verlieren.

Daher sollte, ja muss die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau ein zentraler Ort des Lernens und der Begreifens bleiben, ohne dabei die anderen Tatorte zu vergessen. Das demokratische Deutschland ist aufgerufen, die Arbeit der Gedenkstätte zu unterstützen, sich vor allem aber auch dafür einzusetzen, dass möglichst viele Menschen auch aus Deutschland Auschwitz besuchen. Ein Beladen der jungen Generation mit der Schuld der Großväter und Urgroßväter ist das wohlgemerkt nicht. Wer solches behauptet, irrt oder führt andere in die Irre. Schuldig sind nur diejenigen, die damals Täter waren. Aus dem Wissen um das Unvorstellbare wächst aber die Verantwortung für jeden von uns in der Gegenwart und Zukunft, dafür einzutreten, dass sich Gleiches niemals wiederholt. Nicht nur, wenn es dabei um Antisemitismus geht, sondern um jede Form von Rassismus, Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit, gleich welche Minderheit es betrifft. Die Konsequenz aus Auschwitz kann nur heißen, dass die Menschenwürde unteilbar ist.

Die Shoah muss Teil des internationalen Bewusstseins bleiben. Und zwar nicht einmal wegen uns Juden. Wir werden die Tragödie des Holocausts ohnehin nicht vergessen und haben daraus die historischen Lehren für uns längst gezogen. Parallel dazu muss aber deutlich werden, dass Auschwitz kein anderer Planet war. Es wurde nicht von Außerirdischen gebaut, die am 27. Januar 1945 wieder in den Tiefen des Raums verschwanden. Auschwitz war Menschenwerk und Teil eines ungeheuerlichen Netzwerks von Tod und Grausamkeit. Das ist eine Wahrheit, die als Mahnung und als Warnung vermittelt werden muss.

 

Pegida, AfD und NSU

Uns geht es bei unseren Mahnungen auch nicht vordringlich um mehr Namen auf Gedenksteinen oder mehr Grabstätten, sondern schlicht um die Warnung für die Zukunft vor dem Ungeist der Vergangenheit. Gerade aktuell erleben wir mit, dass nicht alle aus der Vergangenheit die nötigen Lehren gezogen haben. Fremdenfeindlichkeit, Antiziganismus, Homophobie, Hass gegen Muslime und Antisemitismus sind brutal wieder auf der Tagesordnung. Eine Welle des rechtsextremen Nationalismus überzieht ganz Europa und gefährdet unsere gemeinsamen europäischen Grundwerte einer freien, demokratischen, kulturell vielfältigen und aufgeklärten Gesellschaft.

Wenn wir von Menschenrechten sprechen, so müssen das Menschenrechte für alle sein, und wir müssen mehr Respekt vor der Würde eines jeden bezeugen. Auch, wie es die Bibel ausdrückt, „für den Fremden in Eurer Mitte“. Gerade in dem sich neu bildenden größeren Europa mit all seinen Zweifeln und Sorgen ist es wichtig, diese Lehren zu ziehen und bei der friedlichen Gestaltung der Zukunft die geschichtliche Vergangenheit, unter der Europa so viel gelitten hat, weder zu verdrängen noch zu vergessen. Hierbei sind wir alle und gemeinsam gefordert.

 

Stephan J. Kramer, geboren 1968 in Siegen, Jurist und Volkswirt, von 2004 bis Januar 2014 Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland und Leiter des Berliner Büros des European Jewish Congress.