Zeitenwende 1989/91: Mittelosteuropa hat seine demokratischen Revolutionen hinter sich, es strebt „nach Europa“. Die Sowjetunion zerfällt, die Russische Föderation und die übrigen selbstständig gewordenen Staaten fühlen sich gebunden an die Charta von Paris von 1990: „Wir verpflichten uns, die Demokratie als die einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken … Menschenrechte und Grundfreiheiten sind allen Menschen von Geburt an eigen; sie sind unveräußerlich und werden durch das Recht gewährleistet … Ihre Einhaltung und uneingeschränkte Ausübung bilden die Grundlage für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden.“ War es, wie viele dachten, der endgültige Sieg von Freiheit und Demokratie?
2008 ging die amerikanische Bank Lehman Brothers bankrott. Die Finanz- und Schuldenkrise grub sich in das Wirtschaftssystem der westlichen Staaten ein; ihre Folgen – Arbeitslosigkeit, Wohlstandsverlust, soziale Proteste – befielen die Gesellschaften der besonders betroffenen Staaten und führten zum Sturz zahlreicher europäischer Regierungen. Auch die politische und wirtschaftliche Führungsmacht USA durchlebte eine Zeit ungewöhnlich langer Depression mit anhaltender, besonders hartnäckiger Arbeitslosigkeit. Eine hohe Staatsverschuldung von fast siebzehn Billionen US-Dollar, wiederkehrende Blockaden des Staatshaushaltes und eine Doppelmoral bei Menschen- und Freiheitsrechten verschatteten die Ausstrahlung dieses Leuchtturms der Demokratie vergangener Jahrzehnte. Wen wundert es, dass namhafte Wissenschaftler und Publizisten zweifeln, ob die Vereinigten Staaten ihre globale Rolle als Weltmacht weiterhin wahrnehmen können. Mehr noch, sie sehen in Anbetracht des Aufstiegs autoritär geführter Schwellenländer die Tragfähigkeit und Strahlkraft des westlichen Modells von Demokratie und Marktwirtschaft, der westlichen Zivilisation insgesamt, infrage gestellt.
Dabei verstärkte die Krise des westlichen Finanz- und Wirtschaftssystems nur die bereits vorhandene Abwendung vom Modell der Demokratie. Osteuropäische Staaten, Russland und die OSZE-Staaten Zentralasiens fallen bereits seit Mitte der 1990er-Jahre erneut in autoritäre Strukturen zurück. Die zweite Welle der Demokratisierung nach 1945 ist längst abgeebbt, wenn nicht sogar auf dem Rückzug. Besonders in den Schwellenländern Asiens zeigte sich, dass autoritäre Regime die wirtschaftliche Entwicklung entschiedener vorantreiben können – ungehindert von schwerfälligen demokratischen Entscheidungsverfahren und Verwaltungsstrukturen. Nicht freie Marktwirtschaft und Demokratie als Voraussetzung erfolgreicher Entwicklung – oft bezeichnet als Washington Consensus – erscheinen als die Triebkräfte für wachsenden Wohlstand und politischen Einfluss, sondern Staatskapitalismus, enge staatliche Kontrolle und Zensur der Gesellschaft. Dem Washington Consensus steht nun die Behauptung des Beijing Consensus entgegen: Autoritäre Systeme sind erfolgreicher!
Bequeme Aussicht für Potentaten
Für jegliche Potentaten in Entwicklungsländern ist diese Aussicht bequem! Weder die Volksrepublik China noch Russland stört es, wenn sie mit Diktatoren kooperieren. Demokratie, Menschenrechte und gute Regierungsführung sind für sie kein Thema. Vom „Prinzip der Nichteinmischung“ ist die Rede. Kredite werden nicht an Klauseln zur Einhaltung von Menschenrechten und Good-Governance-Regeln gekoppelt, wie es die Weltbank und europäische Staaten inzwischen zunehmend tun.
China erschließt sich globalen Einfluss durch Investitionen, insbesondere Infrastrukturausbau, was häufig von massiver Korruption begleitet wird. Russland gelingt es, den postsowjetischen Raum mit ökonomischen Erpressungen in seinen Machtbereich zu reintegrieren. Das westliche Modell von Demokratie und Marktwirtschaft wird dagegen als Auslaufmodell – alternde Gesellschaften ohne Innovationskraft und ohne Ausstrahlung – abgestempelt.
Nach den BRIC-Staaten stehen schon die „Next 11“ (Jim O’Neill von Goldman Sachs) in den Startlöchern, die als weitere erfolgreiche Wettbewerber ins Spiel gebracht werden, um den Niedergang der westlichen Zivilisation zu beschleunigen.
Ist das alles wirklich so? Unterliegen wir nicht der Selbsttäuschung und einem Denken, das kurzfristige Entwicklungen mit Langzeittrends verwechselt? Offenkundig werden die Transparenz der Demokratien auch bei negativen Entwicklungen und die Diskussion über eigene Missstände oft als Schwäche interpretiert. Dabei gehört auch manche Überzeichnung von Defiziten in den Medien und öffentlichen Diskussionen zu demokratischem Verhalten, denn so werden oppositionelle politische Standpunkte untermauert und geschärft. Erfolge werden dagegen leicht unterschätzt, schließlich kann es ja (fast) immer noch besser gehen.
Kritik und Kontroverse nur in homöopathischen Dosen
In autoritären Systemen finden Kritik und Kontroverse nur in homöopathischen Dosen statt, wenn überhaupt. Die inneren Zustände sind nur schwer einzuschätzen. Pressefreiheit und unabhängige Justiz vertragen autoritäre Systeme nicht, weil sie die Legitimität der nicht frei gewählten Herrscher untergraben. Erst wenn Revolutionen ausbrechen, wird klar, dass das vermutete Maß an Unzufriedenheit weit höher war als angenommen, dass die Wirtschaft schlechter lief, als es die veröffentlichten Zahlen zeigten, und Ungleichheit, Korruption und mangelnde Rechtsstaatlichkeit die Entwicklung weit stärker behinderten als angenommen.
Die Kleinmütigkeit des Westens ist nicht neu. In den Archiven der westlichen Außenämter ist nachzulesen, wie einig sich amerikanische Präsidenten und europäische Staats- und Regierungschefs in den 1950er-Jahren zunächst darüber waren, dass im Rahmen des sowjetischen Systems eine erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung letztlich keine Chance habe. Doch seit dem Sputnik 1957 schien es doch möglich, auch in einem diktatorischen und menschenverachtenden System eine innovative Wirtschaft zu etablieren. Der Westen mobilisierte seine Kräfte und bestand, nicht nur durch den Flug zum Mond. Mit der Entkolonialisierung und dem wachsenden Einfluss der Sowjetunion, später Kubas und anderer Verbündeter in den früheren Kolonialstaaten wuchsen wiederum Zweifel an der Ausstrahlung des Westens. Als sich der globale Machteinfluss Moskaus in den 1970erund 1980er-Jahren auch auf den Weltmeeren und auf anderen Kontinenten – in Afrika, in Lateinamerika – bemerkbar machte, fanden Niedergangs-Szenarien erneut großen Widerhall. Sie betrafen, wie heute, vor allem die USA, meinten aber auch den Westen in seiner Konstruktion eines Werte- und Wirtschaftssystems.
Richtig bedacht, sind die Selbstzweifel des Westens eine Stärke. Aus ihnen resultiert der Ansporn, es besser zu machen. Die westlichen Demokratien und Marktwirtschaften besitzen aufgrund ihrer freiheitlichen Verfassung eine große Regenerationsfähigkeit. Kein Zweifel, das Bruttoinlandsprodukt Chinas, auch Indiens, vielleicht Brasiliens wird das der USA überholen. Aber noch immer sind Demokratien die innovativsten Staaten: Alle wesentlichen neuen Entwicklungen gehen von ihnen aus. Diese Tatsache ist gekoppelt an Gedankenfreiheit und Pluralismus, die freie Meinungsäußerung und das Wissen um persönliche Sicherheit – das unterscheidet bereits Schulkinder, die das einüben dürfen und sollen, von ihren gedrillten Altersgenossen in autoritären Systemen.
Moderne Innovations- und Produktionsprozesse, Verwaltungsvorgänge und zeitgemäße Ausbildung setzen Menschen voraus, die zu einem Großteil eigenverantwortlich arbeiten, nicht nur in engen Befehlshierarchien. Historisch gesehen, ging die Verbreitung von Freiheitsrechten in der Gesellschaft einher mit größerer Eigenverantwortung des Einzelnen in der Wirtschaft. Das Streben nach Mitsprache und Mitentscheidung lässt sich nicht säuberlich und ausschließlich im Bereich der Wirtschaft einhegen. Oberschichten sind in autoritären Systemen zumeist eng mit den politischen Eliten verbunden oder sogar mit ihnen identisch. Die Mittelschicht jedoch wird Mitentscheidung verlangen – hier stehen autoritäre Staaten vor einem Dilemma, das sie nicht lösen können: Je besser gebildet, je stärker auf die eigene Kompetenz verwiesen, desto mehr werden Menschen Missstände und Nachteile anprangern. Sie werden über kurz oder lang nach der Mitgestaltung auch in der Politik, also über ihre Lebenschancen, verlangen. Ohne selbstständig denkende und handelnde Menschen wird letztlich auch die wirtschaftliche Entwicklung stagnieren. Wenn sich, wie in Russland, unternehmerische Potenziale nicht entfalten können, wenn Defizite, seien es Umweltzerstörung oder soziale und gesellschaftliche Entwicklungen, nicht benannt und nicht kritisch diskutiert werden können, stagniert die Entwicklung.
200.000 Demonstrationen und Revolten jährlich
Chinesische Quellen nennen die Zahl von jährlich 200.000 Demonstrationen und Revolten im eigenen Land. Indien, Brasilien, die Türkei – überall verlangen die entstehenden städtischen Mittelschichten nach guter Regierungsführung, Beendigung von Korruption und Misswirtschaft und wollen am politischen Prozess mitwirken. In Großdemonstrationen und mit sozialen Protesten verlangen sie die Verantwortlichkeit der Regierenden und stellen damit die Systemfrage. Was ist der Unterschied zu den zahllosen Demonstrationen und Streiks in Griechenland, Spanien und anderswo in der westlichen Welt? Sie werden dort bisher nicht zur Systemfrage; selbst das gebeutelte Griechenland ist politisch vergleichsweise stabil. Systeme, die Freiheit und Menschenrechte missachten, sind dagegen nur scheinstabil – bis der berühmte Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt. Demokratien hingegen sind adaptiv und elastisch, es kommt nicht zum endgültigen Bruch zwischen Regierenden und Bürgern. Demokratien gehen – wie zögernd auch immer – meist auf Herausforderungen ein. Erfolglose Regierungen werden abgewählt; Bürger nutzen ihr Privileg, Veränderungen herbeiführen zu können. Im Wissen um ein regelmäßiges Wählervotum und um die Möglichkeit, aus dem Amt geworfen zu werden, droht nicht der Systemwechsel, sondern Gewählte handeln mit Wählern Reformen aus.
Auch diktatorischen Regimen kann ein Bemühen, Missständen abzuhelfen, nicht grundsätzlich abgesprochen werden. Allerdings stellt sich schnell die Frage nach dem Machterhalt – also die Systemfrage. Hier kommt die Spirale von grundlegenden Reformhemmnissen in Gang: Eine Korruptionsbekämpfung ohne Transparenz und freie Medien ist zum Scheitern verurteilt. Rechtsstaatlichkeit setzt eine unabhängige Justiz und kritische Medien voraus. Mitsprache der Bürger endet in Volkssouveränität, die Pluralismus, freie Wahlen und deren Gewährleistung durch freie Medien und Rechtsstaatlichkeit zur Folge hat. Auch Staaten, die heute mit Staatskapitalismus und Einschränkung der menschenrechtlich garantierten Prinzipien Erfolg haben, werden sich reformieren müssen, wollen sie weiter stabil bleiben. Dies gilt umso mehr, als bei ihnen ein nun geringeres Wirtschaftswachstum den Druck erhöhen wird.
Diese Zusammenhänge werden von der Mittelschicht in schlecht und autoritär regierten Staaten verstanden: Die Proteste in Russland, China, der Türkei, in Ägypten, Marokko, Tunesien und in anderen Ländern zeigen es. Die oft gewaltsame Ablösung der Diktatur führt allerdings nicht automatisch zu demokratischen Zuständen. Demokratie ist eine Regierungsform, die Menschen viel abverlangt: Bildung, politisches Wissen, die Verinnerlichung von politischen Verfahrensregeln und verantwortlichen Umgang mit Freiheit sowie Solidarität und Toleranz. Dies ist ein Lernprozess oft über zwei Generationen.
Flüchtlinge wollen nicht in die reichen Golfstaaten
Der Beijing Consensus hat bereits an Ausstrahlung eingebüßt. China verliert seinen Glanz: In Asien und Afrika wird es zunehmend als neo-koloniale Macht verstanden. Um sich dem Westen annähern zu können, lockert Myanmars politische Elite lieber sein diktatorisches System, als sich noch weiter von seinem übermächtigen Nachbarn abhängig zu machen. Die asiatischen Staaten öffnen sich für die USA als Sicherheitsgaranten und Gegengewicht zu China. Gegen chinesische Manager und die circa eine Million chinesischen Arbeiter in Afrika gibt es vielerorts Proteste – auch gewalttätige.
Was hat das westliche Modell zu bieten, wird es an Unterstützung zurückgewinnen? Zunächst ist zu konstatieren, dass seine universalen Normen und seine gesellschaftlich-politische Offenheit weniger an Anziehungskraft verloren haben, als wir selbstkritisch meinten: Die arabischen Revolutionen starteten mit dem Verlangen nach westlichen Werten und Good Governance. Flüchtlinge wollen nicht in die reichen Golfstaaten, sondern suchen ihre Zukunft in den USA oder in Europa. Die westliche Art des gesellschaftlichen Zusammenlebens hat also noch immer Ausstrahlung, wir müssen uns dem Wettbewerb mit anderen Systemen nur stellen, so wie eh und je. Wir sollten dies selbstkritisch, aber auch mit Nachdruck betreiben – letztlich geht es doch nur um das Einfordern von vertraglich eingegangenen Verpflichtungen der globalen Staatengemeinschaft: der Menschenrechtscharta und der Bürgerrechtscharta der Vereinten Nationen.
Selbstfesselung überwinden
Die Führungsmacht USA wird ihre Selbstfesselung durch die Tea Party und ihre Schuldenlast überwinden – Fracking wird ihr helfen, wirtschaftlich zu prosperieren. Auch nach Westeuropa kommen Unternehmen aus Asien zurück. Moderne Technologien, die die bedrückende Umweltbelastung in den Entwicklungsländern angehen können, sind hier angesiedelt. Freier Wettbewerb von Ideen wird seine Anziehungskraft auf die gebildeten Eliten dieser Länder ausüben. Insbesondere Europa hat ein Modell anzubieten, das einzigartig ist: verschiedene Formen der Sozialen Marktwirtschaft. Keine andere Region der Welt bietet eine vergleichbare Absicherung menschlicher Existenz bei gleichzeitiger individueller Freiheit, Offenheit, Chancengerechtigkeit und gleichzeitigem Wettbewerb um Ideen! Mit diesem Pfund wuchert Europa zu wenig!
Der Westen wird seine Schulden-, Finanz- und Eurokrise überwinden und sich wieder kraftvoll als freiheitlicher Wohlstandsraum präsentieren, wenn er seine Reformen entschlossen fortsetzt und aufhört, um sich selbst zu kreisen. Dann werden wir die Krise im besten Fall als Fieber betrachten, das ordnungspolitische Fehlentwicklungen der Marktwirtschaft ausschwitzte. Vielleicht sind die eigentliche Bedrohung des westlichen Modells ein überzogener Selbstzweifel und die Unfähigkeit, zu erkennen, was es anderen Gemeinwesen anbietet.
Beate Neuss, geboren 1953 in Essen, Professorin für Internationale Politik an der Technischen Universität Chemnitz und stellvertretende Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung.