Ein neuer Streit um den Westen ist entbrannt. Nach dem Irak-Krieg, am Ende des Afghanistan-Einsatzes und angesichts eines prekären „Arabischen Frühlings“ fragen sich viele: Wo sind da die westlichen Werte, und mit welchem Recht lassen sie sich in andere Regionen und Kulturen exportieren?[1] Die Ära der globalen westlichen Vorherrschaft, zunächst von Europa und im 20. Jahrhundert vor allem von Nordamerika aus durchgesetzt, könnte im 21. Jahrhundert ohnehin zu Ende gehen. Eine Zivilisation im Niedergang, angesichts des Aufstiegs Asiens, vor allem Chinas? Ein solches Szenario hat der britisch-amerikanische Historiker Niall Ferguson vor Kurzem, in der Kontinuität älterer Visionen vom nahen „Untergang des Abendlandes“, ausgemalt.[2] Auch die innere Einheit des Westens scheint zu bröckeln. Amerika und Europa, die USA und ihre „westlichen“ Verbündeten: Entwickeln sie sich nicht auseinander? Und sollten die Europäer, die Deutschen nicht zu den USA auch politisch besser auf Distanz gehen, weil sie mit Bellizismus und NSA-Staat nicht im selben Boot sitzen wollen?[3]
Ein alter Streit um den Westen setzt sich fort. Ein neues Kapitel einer alten Geschichte wird geschrieben, gerade auch aus deutscher Perspektive. Denn über Größe und Hybris, Verlockungen und Gefahren des Westens wird seit über hundert Jahren gestritten, mit immer wiederkehrenden Ängsten und Argumenten, ebenso wie über die Universalität seiner Werte – und über die Frage, wie Deutschland sich zu diesem „Westen“ verhalten sollte. Natürlich reichen die Wurzeln der kulturellen und normativen Codierung von Himmelsrichtungen viel tiefer, aber die moderne Debatte über den Westen, in der wir uns heute noch mühelos wiedererkennen können, begann um die vorletzte Jahrhundertwende, noch vor dem Ersten Weltkrieg: in einer intensiven Phase kapitalistischer Globalisierung und mit dem Eintritt der USA in eine westliche, auch europäische Führungsrolle, die ihr Kriegseintritt 1917 bestätigte und ausbaute. In Deutschland nahm damals, wirkungsvoll artikuliert durch Professoren, Journalisten und Intellektuelle, die Skepsis gegenüber dem Westen zu und steigerte sich oft bis zur Verachtung. Rationalität, Zivilisation, gar Demokratie: Das war etwas für die Engländer, die Franzosen, die Amerikaner, aber doch nicht für die Deutschen mit ihrer vermeintlich höherstehenden Kultur!
Die neue Skepsis ist keine Wiederkehr der alten
Nein, man kann die neue Skepsis gegenüber dem Westen nicht als bloße Wiederkehr solcher antiwestlichen Strömungen abfertigen, die sich in der deutschen Geschichte als politisch und kulturell verhängnisvoll erwiesen haben. Trotzdem schadet es nichts, diese Geschichte zu kennen, zumal wenn man registriert, dass die Frage nach dem „Westen“[4] in Deutschland oft immer noch inbrünstiger und grundsätzlicher gestellt wird als bei unseren europäischen Nachbarn, die damit pragmatischer und gelassener umgehen. Tatsächlich hat sich das Koordinatensystem des Westens verschoben – aber zu welcher Zeit wäre es je fix gewesen? Die Verschiebung der letzten zwei Jahrzehnte kam für viele überraschend. War der Westen nicht 1989/90 ein für allemal siegreich aus dem großen Streit der Systeme hervorgegangen? Die USA und das wiedervereinigte Deutschland sollten, so versprach es der ältere George Bush, „partners in leadership“ sein. Mit der Einmündung der Friedlichen Revolution in der DDR in die staatliche Einheit der vergrößerten Bundesrepublik hatte die unruhige Nation in der Mitte Europas ihren „langen Weg nach Westen“ glücklich vollendet. Bald darauf wurde klar, dass die Vorstellung von einer deutschen „Ankunft“ im Westen viel zu statisch war und dass von einem „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) unter westlichem Vorzeichen, gar politisch-militärisch unter dem Vorzeichen der NATO, nicht die Rede sein konnte.
Spätestens seit der Islamischen Revolution im Iran 1979 hatten sich neue Feinde des Westens unter dem Banner eines religiös ideologisierten Fundamentalismus gesammelt. Etwa gleichzeitig hatte der rasante wirtschaftliche Aufstieg Ostasiens, die Modernisierung der Volksrepublik China begonnen. Dass seitdem das globale Gewicht des Westens – im ökonomischen Sinne gesprochen also: der OECD-Welt – erheblich gesunken ist, steht außer Frage. Selbst wenn man die aufholenden postkommunistischen Länder Ostmitteleuropas wie Polen einbezieht, verlieren Europa und Nordamerika allmählich ihre wirtschaftliche Vormachtstellung, und zweifellos wird sich dieser Prozess in den nächsten Jahrzehnten fortsetzen. Die politische und militärische Durchsetzungskraft des Westens ist in den Kriegen, die nach dem 11. September 2001 geführt wurden, ebenfalls an klare Grenzen gestoßen.
Der atlantische Graben ist tiefer geworden
Aus dem festen Verbund beider Seiten des Atlantiks in den Jahrzehnten des Kalten Krieges, auch wenn man ihn sich nie allzu monolithisch vorstellen darf, wurde ein „gespaltener Westen“[5], mit mehrfachen Zerklüftungen. Die Risse verlaufen, auch wenn die polemische Formel vom „alten“ und „neuen“ Europa ihre Bedeutung weithin verloren hat, quer durch den alten Kontinent hindurch. Vor allem aber ist der Graben zwischen den USA und Europa seit einigen Jahrzehnten tiefer geworden. Der Siegeszug kapitalistischer und alltagskultureller Amerikanisierung in Europa (und beinahe der ganzen Welt) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass soziale und kulturelle Unterschiede seit den 1980er-Jahren gewachsen sind. Natürlich ist Europa selbst ein Flickenteppich, und natürlich sind die USA ein heterogenes Land, in dem sich ozeanische Küstenstreifen und „Heartland“ argwöhnisch beäugen. Und doch stehen sich deutlicher als früher ein aufgerüstetes Amerika und ein abgerüstetes Europa gegenüber; ein religiös erwecktes Amerika und ein säkularer gewordenes Europa; die suburbane, automobilistisch-dezentrale Siedlungsweise und Lebensform der USA und die urbane, stadtzentrumsfokussierte Lebensweise Europas. Und nicht zuletzt: Eine amerikanische politische Kultur der ideologischen Zuspitzung und beinahe dogmatischen Polarisierung kontrastiert mit einem überwiegenden, in Deutschland besonders klar ausgeprägten Zentrismus, einem Ende der alten Ideologieparteien, verschiedenen Varianten von Konsens oder Diffusität. Man muss keine Abkühlung des politischen Verhältnisses fordern, wenn eine viel tiefere gesellschaftliche Entfremdung längst Realität ist.
Der Westen ist nie statisch und nie eine unbestrittene Einheit gewesen. Vielleicht ist er am Anfang des 21. Jahrhunderts tatsächlich diffuser, brüchiger, weniger in Beton gegossen, als das eine Zeit lang, zumal zwischen 1947 und 1989, der Fall war. Aber vielleicht haben ihm das ideologische Abrüsten, der größere innere Pluralismus und nicht zuletzt die permanente kritische Befragung – als Selbstbefragung ebenso wie als Kritik von außen – durchaus gutgetan. Die „westlichen Werte“ haben sich – nicht erst seit gestern, nicht erst seit 1989, sondern in einer langen Veränderung seit den 1960er-/1970er-Jahren – weltweit verbreitet. Am Anfang des 21. Jahrhunderts sind sie von globalen Grundwerten kaum mehr unterscheidbar. Vergessen wir nicht: Das, was heute die west-skeptische, anti-universalistische Haltung ist, war früher Teil des arroganten Selbstbewusstseins des Westens selber – nämlich das Bestreben, eine Grenze zu ziehen zwischen dem, was für einige Völker und Kulturen angemessen ist und für andere nicht. Wir Europäer und Nordamerikaner haben Zivilisation, nicht aber die Völker Afrikas. Wir sind zu technischen, wirtschaftlichen, geistigen Spitzenleistungen befähigt, nicht aber die primitiveren Kulturen außerhalb des Abendlandes und der christlichen Welt, um den Äquator herum und südlich davon. Wir „können“ Demokratie, die anderen müssen beherrscht werden.
Insofern ist es keineswegs eine „uralte“ westliche Arroganz, wenn die Amerikaner sagen: Auch die Menschen in Afghanistan und im Irak sollten und können frei leben, rechtsstaatliche Strukturen aufbauen und lernen, Pluralismus und Konflikte friedlich auszutragen. Vielmehr musste der Westen dafür umdenken, sich von Vorurteilen befreien; wenn man so will: selbst erst lernen, seine eigenen Ideale nicht für exklusiven Besitz zu halten. Auch nach dieser Einsicht konnte die Universalisierung westlicher Werte nicht nach dem Muster von Lehrer und Schüler, von Export und Import erfolgen. Denn die Transformation der westlichen Werte zu grundlegenden globalen Menschenrechten war oft schmerzhaft und konfliktreich, und die westlichen Länder erfuhren das auch in ihren eigenen Grenzen. Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung seit den 1950er-Jahren zum Beispiel, also der Anspruch der Afro-Amerikaner, der Nachkommen der Sklaven, auf zivile und politische Gleichberechtigung veränderte die Ideale des Westens und damit nicht nur die Gesellschaft der USA. Wichtige Wurzeln der Bürgerrechtsbewegung, des gewaltlosen Widerstands, der neuen Protestformen lagen sogar außerhalb des Westens, ja im anti-westlichen, im anti-kolonialen Protest – man denke nur an Mahatma Gandhi und seine Rolle in Südafrika und in Indien.[6]
Aus westlichen Werten wurden universelle Menschenrechte
In den 1970er-Jahren begann, zum Beispiel vor dem Hintergrund des Biafra-Konflikts, der Aufstieg der globalen Menschenrechtsbewegung. Nur ein westliches Projekt? Die Werte des Westens wurden in der Dritten Welt ja häufig gegen den Westen, gegen seine weiter bestehenden Vormachtstrukturen zur Geltung gebracht. Freilich auch gegen heimische Diktatoren. Der europäische KSZE-Prozess seit der Schlussakte von Helsinki 1975 zeugt davon: Menschen im kommunistischen Osteuropa, Arbeiter und Intellektuelle, nahmen die Versprechen beim Wort und strebten nach Freiheit und Selbstbestimmung nicht nur in Washington, London und Bonn, sondern auch in Warschau und Prag, in Budapest und Ost-Berlin. Aus den westlichen Werten sind universelle Menschenrechte geworden. Demokratie im Irak, in Ägypten, vielleicht irgendwann in China? Nicht, weil das eine Zumutung der USA und ihrer NATO-Verbündeten an Menschen mit anderen Kulturen und Traditionen wäre, sondern genau umgekehrt: weil es sich bei Freiheit, Demokratie und elementar sicherem Leben um universelle Werte handelt, auf die Menschen in allen Kulturen einen Anspruch haben. So jedenfalls argumentiert der indisch-amerikanische Ökonom und Sozialphilosoph Amartya Sen.[7]
Der Westen ist nie fertig
Deshalb lässt sich das, was der „Westen“ sei, längst auch räumlich nicht mehr in so klaren Grenzen bestimmen, wie das nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweilig der Fall sein mochte. Die plakativen, oft auf kurzfristige mediale Wirkung bedachten Untergangsfantasien übersehen gern die fortwirkende Attraktivität des westlichen Werte- und Lebensmodells, das deshalb noch lange nicht en bloc, „eins zu eins“, übernommen werden musste. Von Ostmitteleuropa war schon die Rede – es ist manchmal verblüffend, wie schnell manche West-Defätisten gerade in Deutschland den Nachbarn Polen vergessen, dessen Sehnsucht nicht nur nach Unabhängigkeit von Deutschland und Russland, sondern auch nach innerer Freiheit und Selbstbestimmung 1989 endlich in Erfüllung gegangen ist. Längst gibt es einen Westen außerhalb des nordatlantischen Raumes, nicht nur in ehemaligen Siedlerkolonien wie Australien.
Die jüngere Geschichte Südkoreas ist ein weiteres Beispiel für die osmotische Adaption des „Westens“ in andere Weltregionen und Kulturen während des halben Jahrhunderts. Was ist dort in den 1980er-Jahren zu Ende gegangen? Doch nicht die koreanische Tradition und Kultur, sondern eine Militärdiktatur. Wofür sind die Studenten dort auf die Straße gegangen? Für freie Wahlen, für die Achtung von Menschenrechten, für selbstbestimmtes Leben – ob wir das nun die Werte des Westens nennen oder nicht. Eines militärischen Exports bedarf es gar nicht, denn überall auf der Erde artikulieren Menschen jene Forderungen, die auch wir als vermeintlich „geborene“ Westler erst mühsam lernen und durchsetzen mussten, mit weiterhin offenem Ende. Denn der Westen ist nie fertig. Wer andere Kulturen vor dem Westen zu schützen vorgibt, hält an einem alten Trennungsdenken fest, das den Realitäten einer offenen Welt nicht mehr entspricht. Der Kulturalismus, der Anti-Universalismus wird zum Vorwand. Was sollen die normativen oder rationalen oder fundamental-menschenrechtlichen Kriterien sein, unter denen die chinesische Parteimonokratie und Rechtsunsicherheit den westlichen „checks and balances“ und dem „rule of law“ vorzuziehen wäre? China ist eben anders, konformer, konfuzianischer? Deutschland war auch einmal anders: konformistischer, germanischer.
Ein Anti-Universalismus, der die Welt vor dem Imperialismus westlicher Werte und Lebensordnungen warnt, läuft im 21. Jahrhundert immer mehr ins Leere. Die Welt ruft nach Freiheit und Demokratie, nach Bildungsrechten für Mädchen und nach freien Wahlen, nach unabhängigen Gerichten und freier Presse, nach zivilem Leben in pluraler Gesellschaft. Sind das westliche Werte? Wenn sie historisch zuerst in dem Raum entstanden sind, den wir gewöhnlich als Westen bezeichnen – warum nicht?[8] Das ist nicht unser persönliches Verdienst, sondern höchstens der Zufall unserer Geburt, und warum sollte das ein Grund sein, anderen diese Rechte zu bestreiten? Der Stolz sollte sich ohnehin in Grenzen halten, denn der „Westen“ ist den anderen, aus der Vogelperspektive gesehen, oft nur eine Nasenspitze voraus. Frauen- und Mädchenrechte, ziviles Leben in pluraler Gesellschaft – wie lange gibt es das schon in Deutschland, selbst in den USA? Der Westen, wie er einmal war, wird im 21. Jahrhundert schwächer werden. Aber das muss keine schlechte Nachricht sein. Freiheitliche Werte und Menschenrechte können anderswo vertreten, erkämpft, erweitert werden. Damit sortieren sich auch die innerwestlichen Verhältnisse, einschließlich der deutsch-amerikanischen Beziehungen, neu. Doch das Streben nach westlicher Selbstverbesserung sollte uns gemeinsam bleiben.
Paul Nolte, geboren 1963 in Geldern, Historiker, Publizist, Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität Berlin.
[1] Vgl. zum Beispiel Volker Steinkamp: „The West and the Rest“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Oktober 2013, Seite 7.
[2] Vgl. Niall Ferguson: Der Niedergang des Westens. Wie Institutionen verfallen und Ökonomien sterben, Berlin 2013.
[3] Vgl. zum Beispiel Jens Jessen: „Das ist nicht Freundschaft. Plädoyer für eine kontrollierte Abkühlung der deutsch-amerikanischen Beziehungen“, in: Die Zeit, 14. August 2013.
[4] Vgl. Heinrich August Winkler: Der lange Weg nach Westen, zwei Bände, München 2000.
[5] Jürgen Habermas: Der gespaltene Westen. Kleine Politische Schriften X, Frankfurt a. M. 2004.
[6] Zu diesen globalen Überlappungen siehe John Keane: The Life and Death of Democracy, London 2009; Paul Nolte: „Jenseits des Westens. Überlegungen zu einer Zeitgeschichte der Demokratie“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61, 2013, Seite 275–301.
[7] Amartya Sen: „Democracy as a Universal Value”, in: Journal of Democracy 10, 1999, Heft 3, S. 3–17.
[8] Vgl. die grundlegende historische Darstellung von Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens, bisher zwei Bände, München 2009/2011.