Tetiana, du bist eine von derzeit 34 Stipendiatinnen der Konrad-Adenauer-Stiftung aus der Ukraine. Nach einem Urlaub in der Heimat musstest du aus der Ukraine fliehen. Wie geht es dir heute?
Tetiana: Es geht mir wieder besser, da ich mich endlich sicher fühle, seit ich am 10. März nach Deutschland zurückgekehrt bin. Ich konnte vom ersten Kriegstag an nicht schlafen, wegen der ständigen Bombardierungen und der Angst. Nachts ist die Angst ist immer noch da, und ich habe Albträume. Das wirkt sich negativ auf meine Produktivität tagsüber aus. Aber ich versuche mich zusammenzureißen, aktiv zu sein. Nur durch Aktivität und Arbeit schaffe ich es, mit all diesem Stress umzugehen.
Du hast dich an uns gewandt, weil du über deine Erlebnisse berichten möchtest. Welche Momente deiner Flucht sind dir am meisten in Erinnerung geblieben?
Tetiana: Es ist schwer, einzelne Momente zu beschreiben. Der größte Schock war aber wahrscheinlich der 24. Februar, 5 Uhr morgens: Ich wurde vom Krachen der Gradraketen geweckt. Mein Herz stand still vor Angst, ich zitterte, und mein Gehirn tat alles, um nicht zu glauben, was ich gerade gehört hatte. Der Krieg hatte begonnen. An diesem Morgen befand ich mich in einer kleinen Stadt namens Wowtschansk, nur eine Stunde östlich von Charkiw, direkt an der Grenze zur Region Belgorod in Russland. Ich besuchte dort einen meiner besten Freunde, Roman, und seine Familie. Schon am Nachmittag des ersten Tages hissten die russischen Soldaten auf dem zentralen Platz eine Flagge. Es war demütigend. Wir sind Ukrainer. Das ist unser Land! Wie kann es jemand wagen zu entscheiden, dass wir nun zu Russland gehören – dass ich nun in Russland bin?!
Es folgten Tage, in denen wir irgendwie versucht haben zu überleben. Essen, Heizen, Strom für die Handys – alles war schwer zu bekommen. Und immer wieder die Bomben – die Gebäude bebten bis in die Keller. Es war ein schreckliches Gefühl. Zu sitzen und zu warten. Entweder auf den Tod oder auf die Rettung. So vergingen die ersten 10 Tage. Und schließlich sahen wir Kolonnen russischer Militärfahrzeuge, die zurück zur russischen Grenze fuhren. Sie führten einen Haufen Schrott aus dem Kampfeinsatz mit sich und Lastwagen, die die Leichen russischer Soldaten transportierten –übereinandergeworfen, wie ein Haufen Abfall.
Wowtschansk war von Beginn an von russischen Truppen belagert. Die humanitäre Lage dort ist bis heute dramatisch. Wie hast du es aus der belagerten Stadt herausgeschafft?
Tetiana: Nach der zweiten Verhandlungsrunde erfuhren wir, dass humanitäre Korridore nach Charkiw und aus Charkiw raus geplant seien. Am Morgen des 5. März traf ich dann die mutigste Entscheidung meines Lebens. Mein Freund und seine Eltern versuchten, mich zu überreden, nicht zu gehen. Ein Fluchtversuch war sehr gefährlich. Wir hätten leicht von russischen Soldaten irgendwo auf einem Feld, an einem Waldrand, zwischen Dörfern oder an der Grenze zu Russland gefangen genommen werden können. Wir hätten vergewaltigt, gefoltert und getötet werden können. Inzwischen kennen wir alle die Bilder aus Butscha und den anderen ehemals belagerten Orten. Außerdem bestand die Gefahr, auf ein Minengebiet zu stoßen. Die russische Armee hatte sie auf ihrem Rückzug verlegt. Aber ich hatte mich entschieden.
Wie bist du nach Charkiw gekommen?
Tetiana: Die Fahrt über die Nebenstraßen dauerte vier Stunden. Vorbei an unzähligen Autowracks mit Ukrainern, die versucht hatten zu fliehen und weniger Glück hatten. Aber auch an vielen ausgebrannten russischen Militärfahrzeugen und den Leichen russischer Soldaten. Dass sie nicht wussten, was das Ziel dieses Einsatzes war, kann ich mir nicht vorstellen. Als wir an der Stadtgrenze von Charkiw endlich auf ukrainische Soldaten trafen, war ich überwältigt. Die waren wahre Helden für mich. Als sie unsere Ausweise kontrollierten, musste ich einfach nur weinen.
Dein Weg zurück an deinen Studienort in Deutschland war noch weit. Was hast du auf deiner Reise erlebt?
Tetiana: Ich habe unendlich viel Zeit in Warteschlangen und auf Bahnhöfen verbracht. Und habe viele Menschen kennengelernt. Vor allem Frauen mit Kindern. Sie taten mir leid. Mit ein, zwei Tüten bei sich, oft mit zwei oder drei Kindern. Sie waren den Tränen nahe, und sie waren erschöpft. Ich habe versucht, ihren Schmerz zu verstehen. Wenn das eigene Heim zerstört ist, man jemanden verloren hat und nun mit seinen Kindern und den Angehörigen aus dem Heimatland in eine ungewisse Zukunft flieht.Ich bin den Polen sehr dankbar für ihre Hilfe. Polnische Soldaten helfen sogar beim Babysitten, während die Mütter nach der Einreise den notwendigen Papierkram erledigen. Von Polen nach Bonn waren es noch einmal zwei schlaflose Tage und Nächte. Ich war trotz der Erschöpfung dankbar. Ich konnte irgendwo hin, während viele der Geflüchteten in großer Ungewissheit waren und die kaputte Kindheit ihrer Kinder betrauerten.
Und doch war es eine der schwersten Entscheidungen meines Lebens, in den Zug nach Polen zu steigen. Und die schmerzhafteste. Schließlich verließ ich das Land nicht aus freien Stücken, sondern weil ein russischer Tyrann beschlossen hatte, dass ich in meinem eigenen Land nicht friedlich leben darf.
Wie geht es deiner Familie und deinen Freunden?
Tetiana: In den ersten Tagen des Krieges waren meine Mutter und mein Bruder in Charkiw entweder im Luftschutzbunker oder Zuhause – unter den schrecklichen Geräuschen der Explosionen und von zitternden Fenstern. Sie schliefen kaum. Es fiel ihnen schwer, überhaupt zu essen. Mein 11-jähriger Bruder weinte die ganze Zeit und hatte vor allem Angst. Sie schafften es relativ schnell, in ein sichereres Dorf in der Region Charkiw zu evakuieren, und später nach Italien. Dort leben sie jetzt bei Freunden meiner Mutter. Am 23. März wurde mein Vater von einer feindlichen Kugel ins Bein getroffen. Obwohl er in einer schwierigen körperlichen Verfassung ist, leistet er immer noch Militärdienst. Und auch mein Stiefvater hat sich entschieden, der ukrainischen Armee bei der technischen Wartung von militärischer Ausrüstung zu helfen. Sein Freiwilligendienst ist sehr gefährlich: Er arbeitet an Militärposten, die bevorzugte Ziele der russischen Luftwaffe sind. Meine beiden Väter riskieren jede Sekunde ihres Lebens dafür, dass in ukrainischen Städten keine russische Flagge hängt.
Zwei meiner Soldatenfreunde sind im Kampf um Kyiw und Charkiw gestorben. Mein Freund Roman und seine Familie sind immer noch in Wowtschansk. Es fehlt ihnen oft an Strom und mobilen Daten, und ich bekomme nur alle fünf, sechs Tage Nachricht, dass sie am Leben sind. In Wowtschansk hungern viele Menschen: Es gibt keine humanitären Korridore, und Essen ist Mangelware. Die vielen Verletzten kann man nicht ausreichend medizinisch betreuen. Und die Betriebe und Fabriken werden geplündert. Doch kürzlich erzählte mir Roman, dass die Anwohner von Wowtschansk immer noch Widerstand leisten. Eines Nachts fackelten die Einheimischen mit Molotow-Cocktails sogar ein russisches Kriegsgerät ab.
Viele Konstipendiatinnen und -stipendiaten fühlen sich angesichts des grausamen Angriffs auf die Ukraine hilflos. Sehr viele engagieren sich aber auch an Bahnhöfen oder bei privaten Initiativen. Auch du arbeitest neben deinen Uni-Prüfungen als ehrenamtliche Helferin. Was können wir aus deiner Sicht als Konrad-Adenauer-Stiftung tun, um am besten zu helfen?
Tetiana: Jede ehrenamtliche Tätigkeit zählt, sei es die Hilfe für Geflüchtete, humanitäre Hilfe für die Ukraine oder die Teilnahme an Demonstrationen. Viele Ukrainer haben wegen des Krieges ihre Arbeit verloren, Studenten wissen nicht, wie sie ihr Studium fortsetzen sollen. Es wäre großartig, Voraussetzungen für die rasche Aufnahme ukrainischer Studierender in Deutschland zu schaffen und den geflüchteten Studentinnen und Studenten aus der Ukraine den Zugang zu BAföG zu gewähren. Auch die Stiftung könnte mit ihrem Stipendienprogramm den Fokus auf Studierende und Promovierende aus der Ukraine richten. Die Mehrheit der jungen Leute in der Ukraine engagiert sich ehrenamtlich, lebt finanziell aber prekär: So könnte die Stiftung ein neues Stipendium für sozial engagierte Jugendlichen auflegen, die sich in der Ukraine aufhalten und vom Kriegsgeschehen besonders betroffen sind. Doch es braucht nicht nur entschlossenere Maßnahmen, um den Krieg zu beenden, sondern auch um – in die Zukunft gesehen – die europäischen und die ukrainischen Beziehungen zu Russland zu verbessern. Etwa mit Veranstaltungen für ukrainische und russische Stipendiaten, aber auch für normale ukrainische und russische Jugendliche: Veranstaltungen, die sich mit der Analyse der russischen Propaganda befassen, mit der Geschichte unserer Länder, den europäischen Werten und der europäischen Integrationspolitik.
Du bist Ukrainerin, bist vor dem Krieg geflohen. Deine Väter sind noch in der Ukraine. Gleichzeitig hast du viele russische Freunde und Bekannte. Was erhoffst du dir von der russischen Bevölkerung?
Tetiana: Ich wünsche mir sehr, dass die russische Bevölkerung die Ereignisse in der Ukraine auch aus unserer Perspektive wahrnimmt, sich informiert und etwas tut, um der russischen Aggression und dem Krieg in der Ukraine zu begegnen. Doch die russischen Medien haben die Bevölkerung zu Zombies gemacht: Sie haben sie davon überzeugt, dass die Ukrainer keine Nation seien, sondern ein Haufen Nazis, und dass die ganze Welt gegen sie sei. Doch nichts davon stimmt! Mir ist schon klar, dass es sehr peinlich ist, einer Nation anzugehören, deren Regierung Blutvergießen und Völkermord betreibt. Aber sie sind ja nicht blind! Ein russischer Soldat hat immer die Wahl, sich der ukrainischen Armee zu ergeben oder die Häuser der Zivilbevölkerung zu bombardieren. Und die russischen Soldaten haben sich bewusst entschieden, die Bewohner der Kiewer Vorstädte zu foltern und zu erschießen, junge Mädchen und Kinder zu verhöhnen und zu vergewaltigen. Jedem russischen Bürger steht es frei, das, was in der Ukraine geschieht, von unterschiedlichen Warten aus zu betrachten und zu demonstrieren. Oder er beharrt weiter darauf, dass es Ukrainer sind, die Ukrainer töten, und Putin das russische Volk vor der NATO und die Ukrainer vor den Nazis rettet. Denn genau das denken die meisten Russen. Wie kann die Welt behaupten, dass dies nur Putins Krieg sei? Nein, es ist Russlands Krieg. Aus meiner Sicht ist jeder Russe mitverantwortlich für die Grausamkeiten, die er, seine Angehörigen und Bekannten jetzt in der Ukraine begehen. Und ein großes moralisches Verbrechen ist die Untätigkeit! Sie haben Angst vor ihrer Regierung und wollen nicht wahrhaben, was geschieht. Aber ihre Untätigkeit ruiniert nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland und die Russen als Gesellschaft. Ein Volk, das Angst hat, für Frieden, Demokratie und seinen Wohlstand zu kämpfen. Ich weiß, dass es in der russischen Bevölkerung Menschen gibt, die etwas tun, die in den sozialen Netzwerken aktiv sind und die sich ehrenamtlich engagieren. Und ich bin ihnen aufrichtig dankbar! Aber es sind eben nur wenige; und das ist eine Tatsache.
Was wünschst du dir von der deutschen Gesellschaft?
Tetiana: Dass sie mit den Ukrainern solidarisch ist, und dass die Deutschen etwas tun. Der Krieg in der Ukraine ist eine direkte Bedrohung der europäischen Sicherheit. Daher müssen wir alle gemeinsam für eine sichere und erfolgreiche Zukunft kämpfen. Im Augenblick ist die Ukraine, ihre Armee und ihre tapfere Bevölkerung, ein Schutzschild, das die russischen imperialen Absichten vereitelt, die Ukraine einzunehmen und weiter nach Westen vorzudringen. Ich als Ukrainerin und das ganze ukrainische Volk brauchen die Unterstützung der Deutschen. Man kann demonstrieren, sich in sozialen Netzwerken engagieren, diskutieren oder ukrainische Freunde und Bekannte unterstützen, man kann Geld sammeln und Bedürftigen in der Ukraine zukommen lassen, man kauft ein ukrainisches Produkt und unterstützt Flüchtlinge. Es gibt viele Möglichkeiten. Das Wichtigste ist aber, nicht zu vergessen, warum man es tut: Damit man auch in Deutschland gut und sicher lebt. Je stärker und schneller die deutsche Gesellschaft sich zu diesem Krieg verhält, desto eher gewinnen wir ihn und können uns auf die Entwicklung in unseren Ländern konzentrieren.
In deiner Bachelorarbeit hast du dich mit dem Integrationsprozess der Ukraine in die EU beschäftigt. Welche Chancen siehst du für eine weitere europäische Integration der Ukraine?
Tetiana: Es braucht mehr Zusammenarbeit, in allen Belangen. Die Ukraine ist für Investitionen sehr attraktiv, sowohl im Agrarsektor als auch in der Industrie und im Dienstleistungssektor. In den vergangenen acht Jahren ist das Land wirtschaftlich und sozial sehr vorangekommen. Es wurde eine Reihe sehr erfolgreicher Reformen durchgeführt: die Gebietsreform, Gesundheitsreformen, das elektronische Ausschreibungssystem Prozzoro, die Schaffung des Obersten Antikorruptionsgerichts und vieles mehr. Mit diesen Reformen nähern wir uns immer mehr den europäischen Standards an. Eines Tages wird man die Ukraine zu den erfolgreichen europäischen Ländern zählen. Aber noch gibt es eine Reihe von Faktoren, die die Entwicklung der Ukraine und ihre europäische Integration behindern. Dazu zählen die immer noch sehr starke Korruption, die Oligarchisierung und die verhältnismäßig schlechte Qualität der Institutionen wie etwa der Gerichte. Dazu kommen noch die ungelösten territorialen Fragen, die mit der Annexion der Krim, dem Krieg im Donbass und dem Angriffskrieg Russlands zusammenhängen. Das sind die Probleme, die nach schnellen und tragfähigen Lösungen verlangen. Und wie schon gesagt, derzeit sind wir ein Schutzschild für die Länder der EU, und wir sind ein Land mit hohem wirtschaftlichen Potential, das ständig nach neuen und effektiveren Instrumenten für die Annäherung an die EU sucht.
Was wünschst du dir für Zukunft deines Landes?
Tetiana: Die Ukraine wird von den Entscheidungen und dem Handeln ihrer Bürger getragen. Deshalb wünsche ich ihnen mehr Kraft, mehr kritisches Denken – und natürlich Frieden. Ich bin stolz auf mein Land, ich bin dazu erzogen worden, mein Land zu lieben. Und wie sich jetzt zeigt, sind viele Ukrainer aus Liebe zur Ukraine bereit, bis zum Ende für ihre Freiheit zu kämpfen. Doch unsere Städte werden von der russischen Armee bombardiert, Russland fordert militärische Neutralität und die Anerkennung der Annexion der Krim – eine Missachtung der demokratischen Grundlagen unseres Landes. Daher muss uns heute und auch in Zukunft ein für alle Mal klar sein, dass wir viel und hart arbeiten müssen. Es braucht Solidarität und Respekt füreinander, Verantwortung für unser Handeln, Ehrlichkeit, gesunden Menschenverstand und kritisches Denken, wenn wir Ukrainer unsere Probleme lösen und ein starkes, entwickeltes, unabhängiges, demokratisches Land werden wollen. Eine Ukraine, die Mitglied der EU ist, eine Ukraine, in der jeder Bürger danach strebt, sein Leben und das Leben seines Volkes zu verbessern – während er Wahl- und Meinungsfreiheit hat.
Die Ukraine ist einer der Schwerpunkte der Konrad-Adenauer-Stiftung bei der Förderung engagierter junger Studenten und Studentinnen. Insgesamt 34 Stipendiatinnen und Stipendiaten aus der Ukraine befinden sich aktuell in der Förderung. Seit 1990 hat die Konrad-Adenauer-Stiftung über 200 Menschen aus der Ukraine gefördert. Ähnlich hoch ist die Zahl der Geförderten aus Russland. Wie die Stipendiatinnen und Stipendiaten dem Angriffskrieg Russlands gegenüber der Ukraine begegnen, lesen Sie in dem Dossier "Krieg in den Köpfen" www.kas.de/de/web/begabtenfoerderung-und-kultur/einzeltitel/-/content/krieg-in-den-koepfen der Kollegen in der Abteilung Begabtenförderung und Kultur.