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Jona Thiel

Kinder der Weltgeschichte - Teil 2

19. und 20. Jahrhundert

Kinder haben viel zu sagen. Davon kann jeder, der welche hat, ein Lied singen. Und sie haben, trotz des körperlich und geistig unausgeschöpften Potenzials auch einiges zu bedeuten. Jedes von ihnen hat eine Persönlichkeit, und bei manchen fällt die größer aus als bei anderen. Wir stellen vier Kinder vor, die Geschichte geschrieben haben: im Sport, in der Politik, in der Wirtschaft.

Iqbal Masih

Wikipedia
Iqbal Masih mit dem Menschenrechtler Ehsan Ullah Khan (linke Bildseite), Bildaufnahmedatum: September 1992

* 1982, in Muridke, Pakistan  + 16. April 1995, in Muridke, Pakistan

 

1992, Punjab, Pakistan: Der 10-jährige Iqbal trifft eine Entscheidung. Dass sie ihn berühmt machen wird und er sie am Ende mit seinem Leben bezahlt, ahnt er nicht. Sein schmächtiger Körper, ausgemergelt und unterernährt, ist den täglichen 14 Stunden Arbeit in der Teppichfabrik nicht mehr gewachsen.

Iqbals Martyrium beginnt sechs Jahre zuvor. Sein Vater verkauft den Vierjährigen an einen Teppichfabrikanten – um Schulden zu begleichen. Von nun an bestimmt der Fabrikant über das Kind. Der kleine Junge knüpft Tag für Tag Teppiche. Er setzt sich zur Wehr, versucht zu entkommen. Prügel ist sein Alltag, während der Arbeit ist er angekettet – aus Iqbal Masih ist ein Sklave geworden.

Als ihm eines Tages zu Ohren kommt, das Oberste Gericht Pakistans habe Zwangsarbeit für illegal erklärt, fasst er den Entschluss, der sein Leben verändert. Iqbal flieht. Der zweite Versuch gelingt. Er kommt in die Obhut einer pakistanischen NGO, die Kinder aus sogenannter Schuldknechtschaft befreit. Iqbal geht in die Schule, er setzt sich für die Freilassung von Kindersklaven ein. Es heißt, er sei an der Befreiung von 3000 Kindern beteiligt gewesen.[3]

Sein Kampf gegen Kinderarbeit und Sklaverei macht ihn berühmt. Iqbal reist in die USA, erhält Menschenrechtspreise, und es scheint, als würde sich in Indien und Pakistan ein wirklicher Wandel abzeichnen. Dann geschieht das Unglück.

Am 16. April 1995 sind Iqbal und seine Freunde in ihrem Heimatdorf auf Fahrrädern unterwegs. Was genau passiert ist, wird nie geklärt. Am Ende ist Iqbal tot – erschossen mit einer Schrotflinte. Er wurde zwölf Jahre alt. Man sagt, es sei die sogenannte Teppich-Mafia gewesen: eine Gang, die entflohene Sklaven ermordet. Ob sein ehemaliger Peiniger in den Mord verwickelt ist, bleibt unklar. Seine Mutter glaubt nicht an ein Komplott der Teppich-Mafia.

Nach Iqbals Tod setzt die pakistanische Regierung jeden, der die Sklavenarbeit von Kindern bekämpft, unter Druck. Bereits errungene Fortschritte werden zunichtegemacht. Doch Iqbal Masih hat ein Vermächtnis hinterlassen: Im Gedenken an ihn werden unzählige Organisationen gegründet. Sie führen seinen Kampf fort. Bis heute.

Venus Williams

Anna Bialkowska | Flickr
Venus Williams 2006 beim Warschau Cup

* 17. Juni 1980, in den Vereinigten Staaten von Amerika

 

31. Oktober 1994, Oakland, USA: Die Sonne brennt. Die blau-weißen Reklametafeln rund um den Tenniscourt reflektieren sie und blenden die Zuschauer. Auf dem Platz steht die 14-jährige Venus Williams. Sie spielt ihr erstes Turnier in der WTA (Women’s Tennis Association). Die weiße Tenniswelt schaut mit einer Mischung aus Faszination und Reserviertheit auf sie: Noch ein Jahr zuvor hatte ihr Vater gewütet, es sei unverantwortlich, ein Kind in diesem Alter gegen Profis spielen zu lassen.

Doch nun ist sie hier. In weißem Poloshirt und hellviolettem Tennisrock wirkt das schmächtige Mädchen nicht besonders imposant. Ihre Gegnerin steht auf Platz 59 der Weltrangliste, Venus geht noch zur Schule. Doch als sie anfängt zu spielen, wird dem Publikum sehr schnell klar, dass auf dem Court gerade Sportgeschichte geschrieben wird. So bleibt die Vierzehnjährige zwischen den Sätzen stehen, statt sich wie alle anderen hinzusetzen und kurz zu verschnaufen. Dass das bei den Profis übliche Praxis ist, hat ihr keiner gesagt. Im Training darf sie sich auch nicht setzen.

Venus gewinnt das Spiel – ihr erstes Match bei den Profis! Drei Jahre später steht sie im Finale der US Open. Ihre Erfolge und ihre Spielweise haben den Umgang mit sehr jungen Talenten im Profitennis grundstürzend verändert. Auch wenn ihre Schwester Serena ihr später den Rang ablaufen wird, war es Venus Williams, die die Tenniswelt auf den Kopf gestellt hat.

Venus, das schwarze Mädchen aus Compton, einer armen Stadt mit dem Ruf, ein gefährliches Pflaster zu sein. Ihr Vater trainiert sie von klein auf darauf, rassistische Zwischenrufe von weißen Zuschauern zu ignorieren. Denn Tennis war bis in die 1990er Jahre ausschließlich der weißen Oberschicht vorbehalten. Als Venus Williams im Oktober 1994 den Platz betritt, weiß sie noch nicht, dass sie mit ihrem Spiel auch ihren Sport verändern wird.

Claudette Colvin

Wikipedia

* 5. September 1939, in den Vereinigten Staaten von Amerika
 

1. Dezember 1955, Montgomery, USA: Eine Näherin fährt nach einem langen Arbeitstag mit dem Bus nach Hause. Der Bus hält, ein Fahrgast steigt ein. Er ist weiß – wir sind in den USA der 1950er Jahre: Der Zugestiegene fordert die Schwarzen in der vorderen Reihe auf, sich nach hinten zu setzen. Alle räumen ihren Platz. Alle – bis auf die Näherin. Ihr Name ist Rosa Parks.

Rosa Parks Widerstand löst den Montgomery-Bus-Boykott aus und verhilft einem bis dahin unbekannten Prediger zu späterem Weltruhm: Martin Luther King. Ihre Tat ist aus der Geschichte der schwarzen Bürgerrechtsbewegung nicht wegzudenken. Was viele jedoch nicht wissen: Rosa Parks war nicht die Erste.

Neun Monate zuvor ist die fünfzehnjährige Claudette Colvin auf dem Heimweg aus der Schule. Sie steigt an derselben Station ein wie später Rosa Parks. Eine weiße Frau betritt den Bus, und der Fahrer befiehlt Claudette, sich nach hinten zu setzen. Das Mädchen weigert sich aufzustehen. Später sagt sie: „Wir hatten die Verfassung studiert …, und ich wusste, dass ich Rechte hatte.“ Der Busfahrer ruft die Polizei, und Claudette wird festgenommen. Man klagt sie wegen „Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung“ an[2]. Claudette erhält eine Bewährungsstrafe und einen Eintrag im Strafregister – erst 2021 wird er gelöscht.

Ein fünfzehnjähriges Mädchen wird durch ihre mutige Tat zum Vorbild der Bürgerrechtsbewegung. Sie stößt eine Entwicklung an, in deren Folge die Segregation zu bröckeln beginnt. Claudette Colvin und Rosa Parks werden zu Symbolen des zivilen Widerstands und haben seither unzählige Menschen inspiriert, gegen Ungerechtigkeit aufzubegehren.

 

 

Joseph-Armand Bombardier

Wikipedia

* 16. April 1907, in Kanada  + 18. Februar 1964, in Kanada        

 

1934, Quebec, Kanada: Joseph-Armand Bombardier ist verzweifelt. Sein zweijähriger Sohn hat starke Bauchschmerzen. Die Schmerzen werden schlimmer. Seine Frau und er entschließen sich, das Kind ins Krankenhaus zu bringen. Doch draußen tobt ein Schneesturm. Das Krankenhaus ist nicht erreichbar. Joseph-Armands Sohn stirbt noch in derselben Nacht an einer Blinddarmentzündung.

Von nun an widmet der französischsprachige Kanadier all seine Kraft nur einem Ziel: Ein Fahrzeug zu entwickeln, das Schneestürmen trotzt.

Doch eigentlich hat die Geschichte bereits Jahre zuvor ihren Anfang genommen: Joseph-Armand ist 15 Jahre alt, als er das erste Schneemobil seiner Zeit baut. Auf die Idee kommt der junge Kanadier, weil zu jener Zeit kleinere Straßen nicht vom Schnee geräumt werden und die Menschen im Winter gezwungen sind, auf ihre Autos zu verzichten. Er entwickelt einen Prototyp namens Ski-dog: Doch der ist noch nicht ausgereift genug. Und so kann er sein Kind in der verhängnisvollen Nacht nicht ins Krankenhaus bringen.

Joseph-Armand gelingt es, sein sich selbst gegebenes Versprechen einzulösen: 1937, drei Jahre nach dem Tod seines Sohnes, stellt er den ersten Prototyp eines Halbkettenfahrzeugs vor. Es fährt sowohl auf Rädern als auch auf Ketten – und es durchquert jeden Schneesturm. Noch heute nutzen Firmen, die vornehmlich in frostigen Regionen operieren, Fahrzeuge, die auf Bombardiers Konzept fußen. Das in der Folge entwickelte Snowmobil ist in Kanada eines der beliebtesten Sportfahrzeuge.

Bombardier produzierte später für das kanadische Militär und gründete eine Firma, die bis heute existiert. Sie stellt inzwischen ausschließlich Flugzeuge her, mit einem jährlichen Umsatz von 6,4 Milliarden US-Dollar.[1]

 

Hier gelangen Sie zum ersten Teil der kleinen Reihe, von Christus bis in 19. Jahrhundert!

Hier gelangen Sie zum dritten Teil der Reihe, 21. Jahrhundert.

 

Jona Thiel, geboren 1999 in Troisdorf (Nordrhein-Westfalen), ist studierter Geschichts- und Politikwissenschaftler. Er publiziert als freier Journalist und fungiert als Sprecher, sowie Autor der Forschungsgruppe "Afrika" des Think Tanks "Kölner Forum für Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik". Zudem ist der Historiker ebenfalls als Autor für die Forschungsgruppe "Friedens- und Konfliktforschung" tätig. Thiel führt einen Blog, welcher sich primär historischen und außenpolitischen Themen zuwendet (Instagram: @gepo.global).

 

[1] Bombardier, Financial Results Fourth Quarter and Full Year 2020.

[2] Gray, Eliza, A Forgotten Cintribution: Before Rosa Parks, 15-year-old Claudette Colvin refused to give up her seat on the bus, Newsweek, 2009, [Zugriff am 09.04.2023], unter: https://web.archive.org/web/20131103072920/http://mag.newsweek.com/2009/03/01/a-forgotten-contribution.html.    

[3] Silvers, Jonathan, Child Labor in Pakistan, The Atlantic, 1994, [Zugriff am 09.04.2023], unter: https://www.theatlantic.com/magazine/archive/1996/02/child-labor-in-pakistan/304660/.

                                      

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