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Tanzende Teenager, knuffige Tierbabys und ungefilterte Kriegspropaganda

Hamas-Terroristen haben Israel überfallen. In den sozialen Netzwerken kursieren Fake News & Kriegspropaganda – unzählige junge Menschen schauen zu. Wie damit umgehen?

Im August 2014 launchte der chinesische Konzern bytedance die App Musical.ly. Niemand ahnte, dass sie vier Jahre später unter dem Namen TikTok das – mit Abstand – wichtigste soziale Netzwerk unserer Zeit sein würde. TikTok hat weltweit fast zwei Milliarden Nutzer. Etwa 20 Millionen in Deutschland. Wurde früher auf TikTok getanzt und unterhalten, ist dort inzwischen jedes erdenkliche Thema vertreten: Sport und Gaming, Kunst und Kultur, Wirtschaft und Politik. So auch Krieg. Nach Russlands Angriff auf die Ukraine wurde auf TikTok eine schier unübersehbare Zahl von Kriegsvideos veröffentlicht. Einige wurden viele Millionen Mal aufgerufen. Die New York Times sprach vom ersten „TikTok-Krieg“.

Nun der Terror der Hamas gegen Israel. Der 7. Oktober 2023 ist einer der dunkelsten Tage der neueren Geschichte. Spätestens im Geschichtsunterricht der Oberstufe sollte jeder begriffen haben, warum es deutsche Staatsräson ist, an der Seite Israels zu stehen. Doch was ist mit den 12- bis 16-Jährigen? Sie verbringen unzählige Stunden auf TikTok. Ihr Wissen über Geschichte ist, wenn überhaupt vorhanden, noch nicht gefestigt. Wie sollen sie verstehen, was sie auf TikTok sehen?

Auf TikTok entscheidet der Algorithmus, was der Nutzer sieht. Die wenigsten suchen gezielt nach Inhalten. Da TikTok will, dass man viel Zeit auf der Plattform verbringt, werden Videos ausgespielt, die bei vielen beliebt sind. Und das sind die, die starke Emotionen auslösen: Tierbabys, aufsehenerregende Talente – und brutale Kriegsszenen. Der Hashtag #Israel wurde seit dem Hamas-Überfall am vergangenen Samstag über 25 Milliarden Mal aufgerufen.

„Die Clips sind ein gefährlicher Cocktail aus ungefilterten Bildern aus den betroffenen Gebieten, Fake News und haufenweise Propaganda.“

Finn Werner

Die Clips sind ein gefährlicher Cocktail aus ungefilterten Bildern aus den betroffenen Gebieten, Fake News und haufenweise Propaganda. Schaut sich der Nutzer einen Clip nach dem anderen an – oft für nur wenige Sekunden – fällt es ihm schwer, Fake News zu erkennen. Ob der rasanten Entwicklung der Künstlichen Intelligenz in den vergangenen Monaten sind sie technisch immer besser geworden. Generative AI-Tools wie Elevenlabs, Firefly & Co. erstellen in Sekundenschnelle optische und akustische Fakes, die kaum noch von der Realität zu unterscheiden sind.

Gedankenexperiment: Eine Zwölfjährige scrollt durch TikTok und bekommt ein Video vorgeschlagen: eine Wüstenlandschaft, amateurhaft aufgenommene Szenen, die sich unmittelbar nach einer mutmaßlichen Tötung abzuspielen scheinen. Auf Seiten der vermeintlichen Mörder sieht sie Landesflaggen. Die Zwölfjährige ist geschockt und wischt weiter. Was sie nicht weiß: Das Video wurde editiert. In der echten Aufnahme waren die Flaggen eines anderen Landes zu sehen. Das Beispiel ist fiktiv. Die Gefahr dahinter sehr real: Auf TikTok & Co. kursieren unzählige solcher Fakes, und Millionen junger Menschen konsumieren sie.

Das Junge Forum der Deutsch-Israelischen Gesellschaft warnte dieser Tage vor der Nutzung sozialer Medien. Israelischen Eltern wird dringend empfohlen, den Zugang ihrer Kinder zu TikTok & Co. einzuschränken, da die Hamas ihre Bedrohung wahrmachen könnte, Folter- und Hinrichtungsvideos zu posten. Es heißt: „Auch aktuell kursieren bereits äußerst grausame Aufnahmen. Passt im Umgang mit Sozialen Medien auf und achtet besonders auf Minderjährige!“

„Auch deutsche Eltern berichten, dass Lehrer empfohlen hätten, TikTok & Co. auf den Smartphones der Kinder vorerst zu deinstallieren, da in Schulen zunehmend Hamas-Propagandavideos im Umlauf seien.“

Finn Werner

Auch deutsche Eltern berichten, dass Lehrer empfohlen hätten, TikTok & Co. auf den Smartphones der Kinder vorerst zu deinstallieren, da in Schulen zunehmend Hamas-Propagandavideos im Umlauf seien.

Hier ist wichtig zu wissen, dass die Betreiber von TikTok alles daransetzen, die Verbreitung unwahrer, gefährlicher oder propagandistischer Inhalte zu unterbinden. Es gibt kein strengeres soziales Netzwerk als TikTok: Politische Entitäten dürfen keine bezahlte Werbung schalten, Abbildungen von Zigaretten, Alkohol oder Schusswaffen führen zu zeitnahen Sperrungen der Videos. Unlängst wurde einem unverfänglichen Hersteller von Softdrinks ein Werbedeal untersagt, da man – so TikTok – die Getränke des Herstellers mit Alkoholkonsum assoziiere. Doch Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Ist ein Video erst einmal viral gegangen, ist der Geist aus der Flasche. Schon wegen des Spillovers in andere soziale Netzwerke und Plattformen: So legen übereinstimmende Berichte nahe, dass in viele WhatsApp-Gruppen junger Menschen gezielt Hamas-Propaganda gestreut werde, die dort jetzt kursiert.

„Ist ein Video erst einmal viral gegangen, ist der Geist aus der Flasche. Schon wegen des Spillovers in andere soziale Netzwerke und Plattformen.“

Finn Werner

Das Internet hat eine unüberschaubare Zahl sozialer Netzwerke ermöglicht: Facebook, Instagram, X, TikTok, Reddit, Snapchat, YouTube, Discord, Twitch, Pinterest, LinkedIn und viele mehr: Sie waren Fluch und Segen zugleich: Der globale Austausch ist weitestgehend barrierefrei, Informationszugänge wurden demokratisiert. Und die Schattenseiten? Plattformen haben ihre spezifischen Logiken. Und derer sind wir Menschen noch nicht Herr geworden – und werden es vielleicht nie.

Am 3. Oktober haben wir den 33. Tag der Deutschen Einheit gefeiert. Auf X hat das Land Israel gepostet: „Dear Germany, Happy German Unity Day! Wishing you all the best on this special day. Your friend, Israel.“ Israel nennt uns seinen Freund – ein Geschenk von unermesslichem Wert. Verspielen wir es nicht. Und wenn Sie an der digitalen Front mithelfen wollen: Löschen Sie TikTok & Co. vorerst von den Handys Ihrer Kinder.

 

Niklas Hintze / Zoomer
Finn Werner ist Politikwissenschaftler, arbeitet im Bundestag und ist Inhaber der Gen Z Agentur Digitalien.

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