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Ursula Lehr am 27. August 2012 auf der Veranstaltung der KAS zum 30. Jahrestag der Wahl von Helmut Kohl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. (Quelle: Marie-Lisa Noltenius/KAS-ACDP) Ursula Lehr am 27. August 2012 auf der Veranstaltung der KAS zum 30. Jahrestag der Wahl von Helmut Kohl zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. (Quelle: Marie-Lisa Noltenius/KAS-ACDP) © Marie-Lisa Noltenius/KAS-ACDP

Ursula Lehr

Psychologin, Gerontologin, Bundesministerin, o. Professorin Dr. phil. June 5, 1930 Frankfurt/Main April 25, 2022 Bonn
by David Maaß
Die Pionierin auf dem Gebiet der Gerontologie in Deutschland war von 1988 bis 1991 Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit sowie von 1990 bis 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages. Sie trug in ihrer Amtszeit als Ministerin, aber auch als Wissenschaftlerin maßgeblich zur Etablierung der Seniorenpolitik als eigenständigen Politikbereich in Deutschland bei.

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Familie und Ausbildung

Ursula Lehr wurde am 5. Juni 1930 als Tochter eines Bankkaufmanns und einer Hausfrau in einem katholisch geprägten Elternhaus in Frankfurt am Main geboren. Dort wuchs sie als ältestes von drei Geschwistern auf. 1949 absolvierte sie ihr Abitur auf einem Offenbacher Mädchengymnasium.

Im Alter von 19 Jahren heiratete Lehr ihren ersten Mann Helmut. Dieser war beruflich im Sekretariat der Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU tätig. 1949 begann Lehr ein Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Frankfurt. Aufgrund der Wahl Bonns zur Bundeshauptstadt und des damit beruflich bedingten Umzuges ihres Mannes von Frankfurt nach Bonn setzte Lehr ihr Studium 1950 in Bonn fort und konzentrierte sich dabei auf die Fächer Psychologie und Germanistik. 1954 erfolgte die Promotion zum Thema: „Beiträge zur Psychologie der Periodik im kindlichen Verhalten.“

 

Karriere in der Wissenschaft

1955 begann Lehrs akademische Karriere als Forschungsassistentin an der Universität Bonn. Im Rahmen eines Projektes der Deutschen Forschungsgemeinschaft untersuchte sie die Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer.

Ab 1960 arbeitete sie auf einer Planstelle als wissenschaftliche Assistentin, ab 1968 als Akademische Rätin am Psychologischen Institut der Universität Bonn. 1968 wurde sie an der Philosophischen Fakultät mit einer Arbeit über „Die Frau im Beruf- eine psychologische Analyse der weiblichen Berufsrolle“ habilitiert. 1970 erfolgte die Ernennung zur Wissenschaftlichen Rätin und Professorin. Zugleich leitete sie die Abteilung Entwicklungspsychologie an der Bonner Universität. 1972 wurde Lehr auf den Lehrstuhl für Pädagogik und Pädagogische Psychologie an der Universität Köln berufen und amtierte zugleich als Direktorin des Pädagogischen Seminars.

1976 übernahm Lehr den neugeschaffenen Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie an der Universität Bonn. Mit Unterstützung des damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth, zu dessen Beraterkreis sie zählte, erhielt Ursula Lehr 1986 an der Universität Heidelberg den bundesweit ersten Lehrstuhl für Gerontologie. Damit verbunden war die Gründung eines Instituts für Gerontologie, dessen Leitung Lehr übernahm und das 1987 den Lehrbetrieb aufnehmen konnte.

 

Schwerpunkte und Politikberatung

Als Forschungsschwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Karriere kristallisierten sich zwei Bereiche heraus. Intensiv beschäftigte sie sich mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. So begriff Lehr Ehepaare grundsätzlich als gleichberechtigte Partner in allen Lebenslagen und lebte dieses Modell selbst, sowohl im Berufsleben als auch im Haushalt und bei der Erziehung der Kinder. Eine „Glorifizierung der Mutter- und Gattinnenrolle“ lehnte sie ab und sah unter diesem Aspekt die vollzeitliche Erziehung der Kinder im häuslichen Rahmen kritisch. Zudem war sie davon überzeugt, dass eine außerhäusliche Betreuung von Vorschulkindern ihrer sozialen Entwicklung dienlich sei.

Mit ihrem Standardwerk „Psychologie des Alterns“ wurde sie 1972 zur Pionierin der Gerontologie in Deutschland. Lehr sprach dabei stets von der „Alternsforschung“. Sie betrachtet das Altern nicht als statischen Zustand, sondern als lebenslangen Prozess des Lernens und der Veränderung. In ihren Studien war sie unter anderem zu dem Ergebnis gekommen, dass starre Grenzen des Pensionsalters und Vorruhestandsregelungen diesem Prozess nicht gerecht werden. Mit ihrer Forschungsarbeit wollte sie dazu beitragen, die Lebensqualität für Senioren zu verbessern. Das Schlagwort von der „Überalterung der Gesellschaft“ lehnte sie dabei ab. Stattdessen sprach sie von der „Unterjüngung“. Beide Forschungsschwerpunkte standen bei Lehr in enger Verbindung miteinander, etwa bei der Frage der Berufstätigkeit der Frau und ihrer damit gesicherten Versorgung im Alter.

Lehrs wissenschaftliche Expertise war gefragt. Bundesfamilienministerin Käthe Strobl berief sie 1970 in die Sachverständigenkommission zur Erarbeitung des 2. Familienberichts „Familie- und Sozialisation – Leistungen und Leistungsgrenzen der Familie hinsichtlich des Erziehungs- und Bildungsprozesses der jungen Generation“. Der Bericht sprach sich unter anderem für die Unterstützung von außerhäuslicher Betreuung im Kleinkindalter aus.

Im Auftrag des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung verfasste Lehr einen Beitrag zu dem Thema „Familie in der Krise? Ein Plädoyer für mehr Partnerschaft in Ehe, Familie und Beruf“, in dem sie sich für eine modernere Familienpolitik aussprach.

Auf Vorschlag von Bundesfamilienminister Heiner Geißler übernahm Lehr 1983 den Vorsitz der Sachverständigenkommission zur Erarbeitung des 4. Familienberichts „Situation der älteren Menschen in der Familie“. Darin ging es insbesondere um die Förderung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf.

1987 übertrug Ministerpräsident Späth Lehr die Leitung einer Kommission zur Durchführung des Zukunftskongresses des Landes Baden-Württemberg im Jahr 1988, der sich mit dem demographischen Wandel beschäftigte und mit dazu beitrug, dieses Thema im öffentlichen Bewusstsein zu verankern.

In den achtziger Jahren erstellte Lehr im Auftrag des Bundeskanzleramtes eine Expertise zur Situation der älter werdenden Frauen. In diesem Rahmen eröffnete sich die Möglichkeit zu einem ersten persönlichen Kontakt mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl.

 

Die Zeit als Bundesministerin

Zwar verstand Lehr sich parteipolitisch stets als CDU-nah, verzichtete jedoch lange Jahre auf einen Beitritt zur Partei. Allerdings formulierte sie 1985 als Beraterin von CDU-Generalsekretär Geißler die „Leitsätze der CDU für eine neue Partnerschaft zwischen Mann und Frau“ mit und trat als Expertin auf dem im gleichen Jahr stattfindenden Bundesparteitag der CDU in Essen mit einem Redebeitrag auf.

1986 trat sie in die CDU ein, ohne jedoch eine aktive Rolle zu übernehmen. So kam es für sie selbst wie auch für die Öffentlichkeit überraschend, dass Kohl ihr im Dezember 1988 die Leitung des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit als Nachfolgerin von Rita Süssmuth anvertrauen wollte. Mit Verweis auf ihre Leidenschaft für die universitäre Lehre und den Aufbau ihres Instituts erbat sich Lehr zunächst Bedenkzeit. Sie willigte jedoch in die Übernahme des Ministeriums ein, als Kohl sie bat, das neue Amt dafür zu nutzen, den Belangen der Senioren Geltung zu verschaffen und damit ihre Forschungsergebnisse in praktische Politik umzusetzen.

In der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte Lehr zu Beginn ihrer Amtszeit keinen leichten Stand. Als Seiteneinsteigerin fehlte ihr das politische Netzwerk. Zudem machte sich bei den weiblichen Abgeordneten der Fraktion Unmut darüber bemerkbar, dass Kohl sich bei der Ministerwahl für eine Frau von außen entschieden hatte und die Frauenpolitik zugunsten der Seniorenpolitik vernachlässigt werden könnte. Aus der Fraktion sowie von Mitarbeitern des Ministeriums gab es Kritik an ihrem Auftreten und Führungsstil. Konkret wurde ihr vorgeworfen, dass sie sich bei der Frage der Umsetzung ihrer Forschungsergebnisse in praktische Politik zu wenig kompromissbereit zeigte und die Frage der politischen Opportunität zu wenig beachtete. Im Rückblick bekannte Lehr selbst, dass sie den Eindruck gewonnen hatte, dass „einige der (weiblichen) Abgeordneten geradezu darauf warteten“, dass sie „ins Fettnäpfchen“ trete.

Zum Teil heftige Kritik zog Lehr insbesondere mit ihren familienpolitischen Positionen auf sich. Lehr setzte sich für die Möglichkeit der Betreuung von Kindern ab dem zweiten Lebensjahr in Kindergärten als Ergänzung zur familiären Umgebung ein. Für sie diente dies dem Kindeswohl, da „Kinder … Kinder für ihre Entwicklung“ benötigten. Zugleich führe die außerfamiliäre Betreuung auch angesichts vieler Alleinerziehender zu einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Mit dieser für die achtziger Jahre progressiven Positionierung sah sich Lehr einer breiten öffentlichen Gegenkampagne ausgesetzt. Es rumorte nicht nur im konservativen Parteiflügel der Union, sondern auch in Teilen der Bevölkerung und der Medien. Lehr sah sich dem ehrenrührigen Vorwurf ausgesetzt, sich in Fragen der Kinderbetreuung an den Verhältnissen in der DDR zu orientieren. Dabei betrachtete sie die Kinderbetreuung in Frankreich als Vorbild. Auf Initiative von Helmut Kohl musste Lehr schließlich auf die weitere offensive Vertretung ihres Standpunktes verzichten.

Für Fortschritte sorgte Lehr in der Seniorenpolitik. So gab sie im Februar 1989 die Erarbeitung des 1. Altenberichtes „Die Lebenssituation älterer Menschen“ in Auftrag. Dabei wurden Themen wie „Erhaltung und Steigerung der Kompetenz im Alter“ sowie „Prävention und Rehabilitation zur Verhinderung von Pflegebedürftigkeit“ erörtert. Auch engagierte sie sich erfolgreich für die steuerliche Berücksichtigung von Pflegeleistungen in Familien und die Bezahlung von Pflegezeiten an betreuende Angehörige. Ferner setzte sie 1990 die Novellierung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes durch und verbesserte damit die Hilfen zur Unterstützung der Erziehungsarbeit in den Familien.

 

Abgeordnetentätigkeit und Rückkehr in die Forschung

Zum Ende der Legislaturperiode bat Lehr den Bundeskanzler schriftlich um ihre Entlassung als Ministerin, da sie ihre Professur in Heidelberg und das damit verbundene Institut wieder wahrnehmen wollte. So schied sie nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 aus dem Kabinett aus.

Sie blieb jedoch der aktiven Politik erhalten und zog über die Landesliste der CDU in Hessen in den Deutschen Bundestag ein. Als Bundestagsabgeordnete gehörte Lehr dem Ausschuss „Bildung und Wissenschaft“ an. Zudem arbeitete sie als stellvertretende Vorsitzende in der von ihr beantragten und 1991 vom Bundestag eingesetzten Enquête-Kommission „Demographischer Wandel“ mit. Parallel zu ihrer Abgeordnetentätigkeit stieg sie wieder in die Forschung und Lehre an der Heidelberger Universität ein. Am dortigen Institut für Gerontologie übernahm sie erneut die Leitung.

Zur Bundestagswahl 1994 trat Lehr nicht wieder an und widmete sich stattdessen wieder ganz ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit. 1995 wurde die „Grande Dame der Alternsforschung“(General-Anzeiger Bonn) zur Gründungsdirektorin des Deutschen Zentrums für Alternsforschung an der Universität Heidelberg berufen.

 

Im Unruhestand

Auch nach ihrer 1998 erfolgten Emeritierung fungierte sie weiterhin als „Anwältin der Senioren“. So übernahm sie bereits 1997 die Präsidentschaft der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie. 2003 arbeitete sie in der von der CDU eingesetzten und vom früheren Bundespräsidenten Roman Herzog geleiteten Kommission „Soziale Sicherheit“ mit, in deren Abschlussbericht u.a. die Einführung der Rente mit 67 Jahren empfohlen wurde. 2009 wurde sie zudem zur Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) gewählt. 2012 erfolgte ihre Wiederwahl für drei weitere Jahre.

Den Abgeordnetenkollegen aus ihrer Zeit als Mitglied des Deutschen Bundestages blieb Lehr ebenfalls verbunden. So wurde sie von 2004 bis 2008 zur Präsidentin der Vereinigung der ehemaligen Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlamentes gewählt.

Ursula Lehr hatte zwei Söhne und war zweifach verwitwet. Sie war Trägerin des Bundesverdienstkreuzes (Großes Verdienstkreuz mit Stern). Verliehen wurden ihr auch die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg sowie die Große Universitätsmedaille der Universität Heidelberg. Ferner war sie Trägerin der Ehrendoktorwürde der Universität Fribourg sowie der Hochschule Vechta. Im Juni 2020 verlieh der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) Ursula Lehr die Goldene Ehrennadel für ihr Lebenswerk auf dem Gebiet der Alternsforschung.

Zu ihren Hobbies zählten unter anderem Literatur und die Malerei.

Am 25. April 2022 verstarb Ursula Lehr in Bonn. Sie wurde 91 Jahre alt.

Curriculum vitae

  • 5. Juni 1930 geboren in Frankfurt am Main
  • 1949 Abitur
  • 1949-1954 Studium der Psychologie, Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte an den Universitäten Frankfurt und Bonn
  • 1954 Promotion
  • 1955-1960 Forschungsassistentin an der Universität Bonn
  • 1960-1968 wissenschaftliche Assistentin der Universität Bonn
  • 1968 Habilitation
  • 1969 apl. Professorin der Abteilung Entwicklungspsychologie
  • 1972-1976 Lehrstuhlinhaberin für Pädagogik und Pädagogische Psychologie sowie Direktorin des Pädagogischen Seminars an der Universität Köln
  • 1976-1986 Lehrstuhlinhaberin für Psychologie und Leitung des Psychologischen Instituts der Universität Bonn
  • 1986-1998 Lehrstuhlinhaberin für Gerontologie und Gründerin des Instituts für Gerontologie an der Universität Heidelberg
  • 1986 Eintritt in die CDU
  • 1988-1991 Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
  • 1990-1994 Mitglied des Deutschen Bundestages
  • 1995-1998 Gründungsdirektorin des Deutschen Zentrums für Alternsforschung (DZFA)
  • 1997-1999 Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG)
  • 2001 Marie-Curie-Lehrstuhl an der Universität Yuste/Spanien
  • 2004-2008 Präsidentin der Vereinigung der ehemaligen Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments
  • 2009-2015 Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisation (BAGSO)

Veröffentlichungen

  • Lehr, Ursula: Der Beginn einer umfassenden Seniorenpolitik, in: Beate Neuss und Hildigund Neubert (Hg.): Mut zur Verantwortung. Frauen gestalten die Politik der CDU, Weimar 2013, S. 97-116.
  • Dies.: Familie – ein dynamischer Prozess. Der demographische Wandel und seine Konsequenzen für eine Familien- und Frauenpolitik, in: Rita Süssmuth (Hg.): Mut zur Macht in Frauenhand, Herford 2001, S. 145-154.
  • Dies.: Psychologie des Alterns, 11. Aufl. Wiebelsheim 2007.

 

Literatur

  • Schendel, Silke: Ursula Lehr-„Ich muss ja nicht ewig Ministerin bleiben“. Die gescheiterte Seiteneinsteigern, in: Lorenz, Robert / Micus, Matthias (Hg.): Seiteneinsteiger. Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie, Wiesbaden 2009, S. 140-159.

 

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