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Den Auftakt machte als Hauptredner Kadi Abdulhakim Samara, Richter am Obersten Scharia-Appellationsgerichtshof in Jerusalem, mit einem Vortrag über „Religion und Moralität im Islam: Die Befolgung islamischer Traditionen und die Wahrung moralischer Prinzipien“. Eine von Samaras Kernthesen lautete, dass Moralität als ein System konzentrisch angeordneter Kreise gedacht werden müsse: Im Zentrum stehe der Mensch. Das ergebe sich aus dem Glauben an die Gleichheit aller Menschen vor Gott. Dieser Gleichheitsgedanke präge auch den zweiten, gesellschaftlichen Kreis; hier begegneten sich alle Menschen als Brüder und Schwestern. Den äußeren, alles umschließenden Kreis, bilde die Religion.
Samara betonte, dass keiner der drei Kreise sich zu Lasten der anderen ausdehnen dürfe. Am Beispiel des Fastens erläuterte er, wie ein religiöses Gebot sich positiv auf den zweiten und den ersten Kreis auswirke: Fasten bedeute bewusste Kontrolle der Leidenschaften: „Du sollst aus Ehrfurcht vor Gott Deine Leidenschaft beherrschen.“ Fasten sei also im Kern der Verzicht darauf, moralische Gebote zu brechen, um die eigenen Leidenschaften zu befriedigen: „Wer fastet, tut nichts Böses. Er ist nicht aggressiv, er hält Maß, er übt höheres ethisches Verhalten ein.“
Rabbi Naftali Rothenberg vom Van Leer Jerusalem Institute antwortete auf den Vortrag von Kadi Samara, indem er Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Islam hervorhob – vor allem den gemeinsamen Glauben an die Gleichheit aller Menschen und die Ehrfurcht vor Gott als Quelle moralischen Handelns. Bereits in der Torah werde deutlich, dass kein Mensch – nicht einmal Moses – über dem Gesetz stehe. Die Gleichheit vor dem Gesetz sei nach jüdischer Auffassung geradezu „das Wesen göttlichen Rechts“. Zwischen Religion und Moral dürfe es keinen Widerspruch geben – eine Entscheidung religiöser Autoritäten, die gegen die Moral verstoße, sei in sich widersprüchlich und daher nichtig.
Pater Dr. Elias Daw, Präsident des Melkitischen Griechisch-katholischen Appellationsgerichtshof in Israel und Juraprofessor an der Universität Haifa, betonte in seinem Beitrag die zentrale Bedeutung des Liebesgebots. Er berief sich dabei vor allem auf die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes „über die Kirche in der Welt von heute“, die das Zweite Vatikanische Konzil 1965 verabschiedet hatte. Diese Konstitution fußt auf einem Gedanken, der an diesem Abend bereits von muslimischer und jüdischer Seite vorgetragen worden war: „dass alles auf Erden auf den Menschen als seinen Mittel- und Höhepunkt hinzuordnen ist.“ Die zuerst vom Judentum gelehrte Gottebenbildlichkeit des Menschen stelle an den Menschen die hohe, ja unerfüllbare Forderung der „imitatio dei“. Bei dieser „imitatio“ gehe es darum, Gott in seiner Barmherzigkeit und Schöpfungszugewandtheit nachzufolgen.
Der zwischen allen drei Referenten herrschende Konsens, dass Religion und Moral untrennbar zusammenhingen, provozierte die Frage, ob man wirklich an Gott glauben müsse, um ein guter Mensch zu sein. Ferner wurde problematisiert, dass Religion auch eine Quelle des Bösen sein könne – nicht nur, weil einzelne Gläubige sie falsch verstünden oder missbrauchten, sondern weil sie ihrem Wesen nach dazu verführe, Gewalt gegen Andersdenkende und -handelnde zu legitimieren. Diese Diskussionsbeiträge führten zu einer äußerst angeregten Diskussion, an der sich das Publikum intensiv beteiligte. Die drei Referenten hielten zwar an ihrer These fest, wurden aber durch kritische Rückfragen dazu gebracht, sie wesentlich differenzierter zu formulieren.