Country reports
Die ehernen Fundamente nationaler Sicherheit, ja die gesamte Architektur altbekannter Nachkriegsbeziehungen Ostasiens scheinen sich im Zeitraffer markant zu verschieben.
Im Vorfeld des interkoreanischen Gipfeltreffens zwischen Pjöngjangs Kim Jong-un und Seouls Moon Jae-in wurde die optionsmagere Position Tokios offenkundig: neben den (bei Licht besehen eher enttäuschenden) Verhandlungen des japanischen Premiers Shinzo Abe mit seinem Golfpartner und Duzfreund Donald vor Kurzem, sowie der scheinbar spontanen ersten Reise des Nordkoreaners Kim nach Peking, sowie dem Geheimtreffen des ehemaligen amerikanischen CIA-Chefs Pompeo mit dem Pjöngjanger Diktator und dessen Ankündigung einer Denuklearisierung ganz Koreas erlebte Japan nach Aussage einheimischer Kommentatoren eine „zweite amerikanische Besatzungszeit ohne Mitsprache“.
Mit anderen Worten, wichtige bilaterale Korea-Entwicklungen, Absprachen und Pläne gingen an Nippon vorbei, ja mehr noch: verunsicherten und verstörten sichtlich die Regierung Shinzo Abes, kreierten Episoden gravierender Ohnmachtspolitik und verwiesen alle Beteuerungen der USA, nichts Wesentliches, d.h. keine Macht- und Einflussverschiebungen ohne japanische Informiertheit zu unternehmen, ins Reich von Wunschdenken, Angst und Zweifel. Eine harte Lektion für den Japaner, dessen Kabinett (und er selber sowie seine gesamte Familie) aktuell von einer Krise in die nächste, von einem Skandal in einen weiteren taumelt.
Der Schock sitzt tief
Bereits vor 46 Jahren erfuhr Japan im Verlauf des sog. Nixon-Schocks, als die USA 1972 die außenpolitischen Beziehungen zum kommunistischen China normalisierten, ohne Tokio vorher auch nur zu informieren, seine wahre „Wertschätzung“ durch den scheinbar unverbrüchlich zu Japan stehenden großen Bruder. Dies Trauma nagt unvergessen am kollektiven politischen Bewusstsein, und auch die im Vorfeld des US-Korea-Gipfels nun durchgeführte Geheimmission eines designierten amerikanischen Außenministers gleicht den damals ebenso inoffiziellen und der Öffentlichkeit vorenthaltenen Sondierungsflügen Henry Kissingers nach Peking, um Gespräche zwischen Richard Nixon und Mao Zedong vorzubereiten, deren epochales Ergebnis den Verlauf der Weltgeschichte bis heute bestimmt.
Obwohl Trump weder Nixon, noch Nordkorea China ist: die schmerzhaften Erinnerungen an die „peinliche“ Vergangenheit und daraus wachsende Befürchtungen über eine zukünftige Behandlung der – wenn es zum Schwur kommt, fragilen – Allianz zwischen Washington und Tokio nagt wieder stärker am Bewusstsein der Japaner, erschwert deren ohnehin wechselhafte Selbstvergewisserung zwischen Wohlbefinden und Depressivität und hat mittlerweile eine sorgenvolle Suche nach bleibenden Sicherheiten entfacht, die auch die mannigfaltigen Kommentare in den japanischen Medien nicht (mehr) schönschreiben können.
In Wirklichkeit befindet sich Japan hinter den Kulissen und dem Rampenlicht der Weltöffentlichkeit, die gebannt nach Korea und eben nicht auf Tokio schaut, in einem Krisenmodus.
Das einst übergeordnete Narrativ von Amerika, dem früheren Kriegsgegner und nun besten Freund Nippons und dessen uneingeschränkter Bündnistreue hat große Risse bekommen.
Eine kooperativ entscheidende Mitgestaltung etwaiger Annäherungs- und zukünftiger Aussöhnungsprozesse ostasiatischer Entspannungspolitik und die verstärkte aktive Integration Japans in eine dann reformierte, möglicherweise gar neue multipolare Ordnung unter entscheidender Begleitung oder gar Inspiration Tokios scheinen heute entfernter denn je.
Zum Zusehen gezwungen
Korea gehört zu den bedeutendsten ungelösten Sicherheitsproblemen, nicht nur der Region, mit einem extrem bedrohlichen nuklearen Eskalationspotenzial. Auf der koreanischen Halbinsel treffen die zentralen außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Interessenkonflikte der konkurrierenden Supermächte USA und China direkt aufeinander.
Die militärstrategischen Nachwirkungen des Koreakonfliktes 1950/53 sind bis heute erhalten geblieben und haben ein Pulverfass hochexplosiver Risiken geschaffen, deren Schicksal (oder Entschärfung, wenn es gut geht) nun, wie vor fast 70 Jahren, in den Händen der einstigen Kriegsgegner Amerika (Allianz Südkorea) und Nordkorea (Allianz China) zu liegen scheint.
Seoul und vor allem Peking wollen nicht tatenlos am Rand stehen und als passive Beobachter gelten, bzw. in der Geschichte unbewältigter Regionalprobleme eine unrühmliche Rolle spielen. Dies erklärt zum einen die überraschende Willkommenskultur Pekings gegenüber dem jahrelang mit offensichtlicher Missachtung sanktionierten Regime der DVRK, zum anderen aber auch die nach außen hastig anberaumten Gipfeltreffen zwischen Kim/Moon und Kim/Trump (wenn dieser denn, wie geplant, in den nächsten Monaten stattfindet).
Dass es bisweilen keinen akkreditierten amerikanischen Botschafter in Seoul gab - eigentlich qualifizierte unterschiedliche Personalideen sollen vor allem von Trump immer wieder mit dem Hinweis auf ihre „zu friedliche Haltung“ der Kandidaten gegenüber Nordkorea abgelehnt worden sein - zeigt die sträfliche Vernachlässigung international üblicher diplomatischer Kanäle zu Ungunsten von politischer Berechenbarkeit und nichtmilitärischer Lösungssuche. Die mögliche Folge: kaum ausräumbare Missverständnisse, hektische Schlussfolgerungen und, im Extremfall, fatale und irreversible Entscheidungen zum Schaden der gesamten Welt, die vor nicht einmal einem halben Jahr den Atem anhielt, weil das Undenkbare, ein Atomkrieg, plötzlich wieder vorstellbar geworden war.
Durch kein verbindliches Wertesystem (Beispiel EU) gebändigt, liegen Erfolg oder Scheitern, Krieg und Frieden nicht allein der ostasiatischen Region gegenwärtig in den Händen von drei narzisstischen und – mit beträchtlichen Unterschieden, die im Staatssystem liegen – überaus machtorientierten Regenten (Donald Trump, Kim Jong-un, Xi Jinping) mit dem Anspruch auf unbedingte Führerschaft auf der einen und dem erklärten Willen zu uneingeschränkter, loyaler Gefolgschaft auf der anderen Seite.
Shinzo Abes Japan aber bleibt außenpolitisch schwach, spielt im Konzert der Welt- und Regionalmächte lediglich eine finanzpolitische Rolle und muss nun seine Bemühungen um Gehör und Einfluss gar auf die Nachforschungen der in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts von nordkoreanischen Agenten entführten japanischen Staatsbürger reduzieren. Selbst für diese Belange aber braucht Tokio Fürsprecher, allen voran die USA.
Ob der erratische amerikanische Präsident jedoch allen Ernstes im Verlauf eines zentralen Gipfelgesprächs „für den Frieden in der Welt“ (D. Trump) mit Kim Jong-un dann die an Pjöngjang gerichteten Forderungen Tokios nach Aufklärung und Entschuldigung nationaler Einzelfälle ausrichten wird, muss stark bezweifelt werden.
Japan leidet zudem an den historisch erwachsenen, diplomatisch weitgehend gestörten Beziehungen zu wichtigen Nachbarländern (vor allem Taiwan, Korea, China). Nicht mit allen sind Friedensverträge abgeschlossen, sondern stattdessen neben Dauerfehden um ungeklärte Territorialansprüche auch unsensible Politikpraktiken (Kriegsgedenkstätte Yasukuni-Schrein, ultranationalistische Auftritte/Aussagen japanischer Politiker aus innenpolitischen oder wahltaktischen Motiven) bis auf den heutigen Tag unversöhnlich weiterverfolgt worden.
Andererseits bindet Artikel 9 der japanischen Verfassung das Land an eine rein defensive Militärpolitik. Im theoretisch denkbaren Falle einer tatsächlichen „Verschrottung“ nordkoreanischer Nuklearwaffen wäre das Land nach wie vor einem gigantischen konventionellen DVRK-Waffenarsenal ausgeliefert, dessen nicht lang zurückliegende ballistische Raketentests Tokio im vergangenen Jahr mehr als einmal aufgeschreckt und Premier Abe recht handfeste Argumente für eine Verfassungsänderung geliefert haben.
Doch noch lehnt eine Mehrheit der einheimischen Bevölkerung die Novellierungsversuche der Regierung als unnötige und nachbarschaftliche Missverständnisse provozierend ab. Man sei auch ohne konstitutionelle Neuformulierung verteidigungsfähig.
Seit der Wiederbewaffnung im Jahre 1954 unterhält Japan eine ca. 250.000 Mann starke und technisch bestens ausgerüstete Berufsarmee. Im Gefüge des amerikanisch-japanischen Sicherheitsbündnisses bleiben gegenwärtig 30.000 US-Marines vor allem auf Okinawa stationiert, das bis 1972 unter amerikanischer Verwaltung stand, gemeinsam mit den hoch umstrittenen Senkaku-Inseln.
Tokio bringt jährlich umgerechnet bis zu 2 Mrd. Euro für Logistik der Amerikaner auf. Eine offensive Neuausrichtung der japanischen Sicherheitsstrategie bleibt der Regierung Abe wohl bis auf Weiteres verwehrt.
Die eigene Rolle wird noch gesucht
Was also kann, was wird Tokio tun, um dem Fanal eines gedemütigten Landes zu entkommen, die Selbstachtung wiederzugewinnen und seine Stimme erneut hörbar zu erheben? Bekanntlich können selbst kleine Kränkungen, noch dazu vor aller Öffentlichkeit, zu verzweifeltem Größenwahn führen; doch dieser Gefährdung scheint Japan nicht zu erliegen. Denn obwohl das Land, ungeachtet der Bilanz beider Gipfeltreffen sowohl durch die inter- als auch US/koreanischen Ergebnisse auf jeden Fall zentral in Mitleidenschaft gezogen wird, könnte Tokio zumindest durch fiskalpolitische „flankierende“ Maßnahmen zum Erfolg der Bemühungen Anderer beitragen - oder auch diese verschleppen und behindern. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Tokio hat seinen angestammten Platz als Betroffener und Vermittler bei den legendären Sechsparteiengesprächen (USA, VRCh, SK, NK, Jp, Ru) verloren. Eine diplomatische Gratwanderung Japans zwischen Russland und „dem Westen“ (USA) wird folgen, um zumindest nach außen den Eindruck einer fremdbestimmten Politik ohne Ziel und Kompass zu revidieren.
Japan wird einen hohen Preis zahlen müssen, um als bedeutender Katalysator gelungener Abrüstungsverhandlungen auf der benachbarten Halbinsel zu erscheinen, und viele - früher als unumstößlich deklarierte - Forderungen über Bord werfen oder zumindest verringern, von denen die Stand- und Prinzipienfestigkeit der Regierung abhing.
Vor allem die Frage nach den einst von feindlichen Agenten auf eigenem Grund und Boden entführten Landsleuten (bis heute Tokios conditio sine qua non für eine Annäherung an die DVRK) wäre in diesem Zusammenhang zu nennen, gefolgt von Japans Bereitschaft, im Konfliktfall Flüchtlinge in großer Zahl aufzunehmen oder auch Nordkorea technische und finanzielle Unterstützung zu gewähren, um die unerwünschte Weiterverbreitung dort gelagerter Nuklearwaffen und des eingelagerten Atommaterials zu verhindern.
Japan wird auf absehbare Zukunft nichts anderes übrigbleiben und weiterhin die diplomatische und militärische Nähe zur einstigen Besatzungsmacht Amerika suchen. Verbände der 7. US–Flotte werden nach wie vor in der Bucht von Tokio vor Anker liegen und die amerikanische Marine auf Okinawa stationiert bleiben. Daran ändert auch der Wunsch Abes nichts, eine nationalbewusstere Politik zu gestalten. Japan wird sich einem primär auf Entspannung ausgerichteten Kurs der koreanischen Teilstaaten und der USA nicht verschließen können. Nachhaltige, radikale Veränderungen durch und in Japan, das hat die Geschichte des Landes und aller Kriege (bis auf eine Jahrhunderte zurückliegende Mongoleninvasion) bewiesen, geschahen immer nur aufgrund äußeren Drucks. Militärische Konflikte, in die Nippon verwickelt war, gingen stets vom Land der aufgehenden Sonne aus. Es scheint, als hätten sowohl Japans ost- und südostasiatische Nachbarn als auch die USA (Pearl Harbor!) dies nie wirklich vergessen.
Prophylaktisch scheint Japan sich in den vergangenen Wochen als Opfer zu gerieren; denn statt als Teilhaber regionalpolitischer Entwicklungen zu erscheinen, stilisiert sich Tokio als Kollateralschaden interkoreanischer Hegemonialstreitigkeiten zwischen China und den USA. Das Land versucht in einer Art Viktimisierungskampagne zu retten, was zu retten scheint: Nationalgefühl, Selbstbewusstsein, Bedeutung.
Die bündnispolitische Militärallianz mit den vormundschaftlich agierenden Vereinigten Staaten bleibt zwar das einzig mögliche Fundament nationaler Sicherheit, bietet Tokio aber dadurch kaum echte Gestaltungsspielräume für konzeptionelles Umsteuern und sicherheitsrelevante Neuausrichtung.
Doch Japan könnte die historisch oktroyierte Selbstbeschränkung seines nationalen Verteidigungsmonopols, gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen auf der koreanischen Halbinsel, im Konzert der Mächte dort umwandeln in einen „proaktiven Pazifismus“. Nur dann, und unter Einschluss südkoreanischer, chinesischer und natürlich amerikanischer Zustimmung, dürfte Tokio wieder an regionalem, vielleicht gar internationalem Gewicht gewinnen; zumal in einer Situation, die sich zwar grundlegend von der dramatischen Ausgangskonstellation im Spätsommer 2017 unterscheiden, dem mittlerweile innerlich stark verunsicherten Staat aber gleichzeitig auch einen weltweiten Imagegewinn einbringen und die friedliebenden Absichten des modernen Nachkriegsjapan einmal mehr glaubhaft untermauern würde.