Country reports
Die Palästinenser zeigen sich weitestgehend unbeeindruckt vom Ausgang der israelischen Knessetwahlen und wollen an ihrer Internationalisierungsstrategie festhalten. Die Regierung der Nationalen Einheit zwischen Fatah und Hamas, die nach wie vor nur auf dem Papier besteht, soll nun erst recht vorangetrieben werden. Zudem gibt es ernsthafte Überlegungen, die Sicherheitskooperation zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde und Israel auszusetzen. Das gute Abschneiden der arabisch dominierten Vereinten Liste sorgt derweil für einen Anflug von Euphorie auf palästinensischer Seite.
Bereits vor der Wahl in Israel waren die Erwartungen an die neue israelische Regierung auf Seiten der Palästinenser verhalten. Stattdessen blieb es bei der anhaltenden Ernüchterung über den Fortgang des Friedensprozesses. Bis zur Schließung der Wahllokale waren israelische Wahlforscher noch von einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem Zionistischen Lager mit ihrer Doppelspitze um Jitzchak Herzog / Tzipi Livni und dem Likud von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ausgegangen. Die Möglichkeit eines Regierungswechsels war in Israel mit Spannung erwartet worden. Nicht so von den Palästinensern, die aus ihrer Sicht zwischen Herzog und Netanjahu zwar Unterschiede in Bezug auf mögliche Friedensverhandlungen ausmachten, beide Kandidaten jedoch mit Skepsis betrachteten. Zwar äußerte sich Herzog durchaus positiv in Bezug auf die Wiederaufnahme von direkten Verhandlungen, vertrat im Wahlkampf jedoch Positionen, die die Aussicht auf einen souveränen Palästinenserstaat nicht zwingend wahrscheinlicher machten. So kam auch für die Zionistische Union weder eine Teilung Jerusalems noch der israelische Rückzug aus dem Jordantal in Frage. Aus Sicht der Palästinenser begründete sich die Skepsis gegenüber Herzog zudem, da er im Gegensatz zu Netanjahu die größere Unbekannte darstellte.
Kommentare auf den Wahlsieg von offiziellen palästinensischen Stellen
Am Ende gewann Netanjahu die Wahl überraschend deutlich mit einem in seiner Art und Weise jedoch fragwürdigen Endspurt. Um seine Wähler zu mobilisieren und Stimmen vom rechten Lager abzugreifen, ließ er sich nicht nur zu der Aussage hinreißen, dass es unter seiner Führung keinen unabhängigen Palästinenserstaat geben werde, sondern warnte am Wahltag in einer Videobotschaft die Bevölkerung auch vor „arabischen Wählern, die in Scharen in die Wahllokale strömen“ . Die Taktik war erfolgreich, sorgte jedoch international für erhebliche Verstimmung. Auch die palästinensische Führung kritisierte die Äußerungen scharf. Saeb Erekat, der palästinensische Chefunterhändler, äußerte: “At a time when we are gravely concerned about a culture of hate which brings with it unprecedented levels of incitement against the 1.6 million Palestinian citizens of Israel, the results of the Israeli elections show the success of a campaign platform based on settlements, racism, apartheid and the denial of the fundamental human rights of the Palestinian people.”
Nach der Wahl versuchte Netanjahu umgehend die Wogen zu glätten und ruderte verbal zurück. Er relativierte seine Aussage bezüglich der Schaffung eines Palästinenserstaates und entschuldigte sich zudem für seine Aussagen gegenüber palästinensischen Israelis. Für die meisten Palästinenser ist sein Meinungsumschwung jedoch unglaubwürdig. Netanjahus Aussagen im Wahlkampf stellen für viele Palästinenser die offene Verbalisierung dessen dar, was sie bereits seit Jahren fühlen. So sieht die Masse in Netanjahu keinen glaubwürdigen Verhandlungspartner mehr: "It is very clear that there is no partner in Israel for the peace process," so die offizielle Aussage von Saeb Erekat.
Auswirkungen der 20. Knesset-Wahlen aus Sicht der palästinensischen Bevölkerung
Wie die KAS-PSR Umfrage zeigt, befürchtet eine Mehrheit der Befragten durch den Ausgang der Knesset-Wahlen ein erhöhtes Sicherheitsrisiko für beide Seiten. So sind 47 Prozent der Meinung (bei 18 Prozent Ablehnung), dass der Wahlausgang zu verstärkten Konfrontationen und mehr Sicherheitsproblemen zwischen beiden Seiten führen wird. Gleichwohl – und das ist verwunderlich – glauben nur 36 Prozent das direkte Verhandlungen in Zukunft unwahrscheinlicher werden. Immerhin 38 Prozent und damit die Mehrheit der Befragten vermutet, dass der Wahlausgang keine Auswirkungen auf die Wahrscheinlichkeit erneuter direkter Friedensgesprächen hat; sogar 23 Prozent sind überzeugt, dass deren Chancen gestiegen sind. Zudem erhofft die Hälfte der Befragten (bei 43 Prozent Ablehnung), dass Israel jetzt nach den Wahlen wieder Steuereinnahmen an die Palästinensische Verwaltung transferieren wird.
Direkten Verhandlungen mit Israel will jedoch eine Mehrheit der Befragten (42 Prozent) nur dann zustimmen, wenn gleichzeitig von israelischer Seite der Siedlungsbau in der Westbank gestoppt wird.
Abbas und die Fatah gewinnen wieder leicht an Rückhalt
Nach annähernd neun Monaten gelingt es Präsident Abbas wieder mehr Rückhalt in der palästinensischen Bevölkerung zu erhalten. Dieser momentane Aufwind, der sich vor allem durch den palästinensischen Antragsgesuch beim Internationalen Strafgerichtshof und das Missmanagement der Hamas in Gaza bedingt, hat aber nur begrenzte Reichweite. So könnte Präsident Abbas im direkten Gegenüber wieder den Hamas Kandidaten Ismail Haniyeh bei möglichen Präsidentschaftswahlen knapp schlagen (48 Prozent für Abbas und 47 Prozent für Haniyeh). Gegen den ihn politisch nahestehenden, inhaftierten Marwan Barghouti hätte Abbas aber weder im direkten Duell noch bei einer Dreierkonstellation (Abbas, Haniyeh, Barghouti) eine Chance an der Wahlurne. Stünden alle drei Kandidaten zur Verfügung könnte Abbas, so die Umfrage, nur 25 Prozent der Stimmen erreichen während Barghouti und Haniyeh auf 37 und 35 Prozent kämen.
Bei Wahlen zum palästinensischen Legislativrat, an denen mehr als 70 Prozent der Befragten teilnehmen würden, könnte die Fatah wieder mit Zugewinnen rechnen. So würden 39 Prozent für Fatah und nur noch 32 Prozent für die Hamas stimmen. Damit befinden sich die Umfragewerte fast wieder auf dem „Vorkriegsniveau“ vom Juli 2014. Damals erreichte die Fatah rund 40 Prozent der Stimmen und die Hamas 32 Prozent. Die Zustimmung für die Hamas im Nachgang des letzten Gazakrieges ist somit annähernd gänzlich zurückgegangen.
Kein Rückhalt für den sog. „Islamischen Staat“ in der palästinensischen Bevölkerung
Wie schon in der letzten Umfrage im Dezember 2014 wird auch jetzt, im März 2015 deutlich, dass die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) über keine flächendeckende Zustimmung in der Palästinensischen Bevölkerung verfügt. Eine überwältigende Mehrheit von 86 Prozent bezeugt, dass der IS nicht den wahren Islam repräsentiert. Nur acht Prozent sind hier anderer Meinung. Dementsprechend sind auch 84 Prozent der Befragten dagegen, öffentliche Demonstrationen des IS in den Palästinensischen Gebieten zuzulassen. Im direkten Vergleich zwischen dem Gazastreifen und der Westbank wird jedoch ein Unterschied deutlich. So ist jeder fünfte Palästinenser in Gaza bereit, Demonstrationen des IS zuzulassen, während in der Westbank dies nur acht Prozent unterstützen.
Die Regierung der Nationalen Einheit steht weiter unter Zugzwang
Die von Premierminister Hamdallah geführte Regierung der Nationalen Einheit kann zwar wieder leicht an Zuspruch gewinnen, ist in der Summe jedoch weiterhin bei den Palästinensern unbeliebt. Nur 28 Prozent sind mit den Leistungen der Regierung zufrieden; eine deutliche Mehrheit von 62 Prozent äußert ihre Unzufriedenheit. Direkt nach ihrer Etablierung im Juni 2014 vertrauten immerhin 61 Prozent der Befragten der neuen Regierung. Gegenwärtig glauben nur 42 Prozent an ihren Erfolg, während eine Mehrheit von 54 Prozent sich skeptisch zeigt.
Die Lage in Gaza – und keine Besserung in Sicht
Die Lage der Menschen in Gaza ist weiterhin dramatisch. Auch rund sieben Monate nach dem Ende des letzten Gazakrieges geht der Wiederaufbau nur äußerst schleppend voran. Zwar wurde im Oktober von internationaler Seite finanzielle Unterstützung versprochen, aufgrund der fehlenden politischen Einheit und der weiterhin de-facto regierenden Hamas in Gaza zögern westliche Geldgeber bei der Umsetzung ihrer Versprechen. In der Folge müssen weiterhin viele Menschen in den Notunterkünften der UNWRA ausharren, können nicht in ihre Häuser zurückkehren und haben weiterhin ganze Stadtteile bisher keine Aufbauhilfe empfangen. Sollte sich die Lage über den Sommer nicht erheblich verbessern, so ist nicht auszuschließen, dass es noch vor dem nächsten Winter zu deutlichen sozialen Protesten kommen wird.
Gleichzeitig verliert die Hamas in Gaza weiter an Zustimmung. So bezeichnet nur noch eine hauchdünne Mehrheit von 51 Prozent der Menschen in Gaza die Hamas als „Kriegsgewinner“ der Auseinandersetzungen im Juli/August 2014. Und nur noch 37 Prozent der befragten Palästinenser sind zufrieden wenn sie die „Kriegserfolge“ mit dem erlittenen menschlichen Leid und den materiellen Verlusten vergleichen.
Dementsprechend sinkt gegenwärtig die Zustimmung zum bewaffneten Kampf. Knapp 60 Prozent glauben, Verhandlungen oder der gewaltlose Widerstand seien die beste Methode zur Schaffung eines palästinensischen Staates, während „nur noch“ 37 Prozent den bewaffneten Kampf als beste Option bezeichnen.
Die Zweistaatenlösung – ein palästinensischer Wunsch aber ohne Aussicht auf Erfolg?
Obwohl eine knappe Mehrheit von 51 Prozent die Zweistaatenlösung unterstützt (bei 48 Prozent Ablehnung) glauben die Palästinenser nicht mehr an ihre faktische Durchführung. Dies beruht weniger auf den Aussagen von Premierminister Netanjahu im Wahlkampf, sondern mehr auf den Realitäten vor Ort. So sind sechs von zehn Palästinensern überzeugt, dass aufgrund des anhaltenden Siedlungsbaus eine Zweistaatenlösung praktisch einfach nicht mehr umsetzbar ist. Demzufolge sind auch 71 Prozent überzeugt, dass in den nächsten fünf Jahren die Chancen zur Schaffung eines eigenen Palästinenserstaates gering bis nicht existent sind.
Internationalisierung als Ausweg?
In dieser Zeit ohne greifbare politische Hoffnung und ohne direkte Verhandlungen bei gleichbleibend hoher Bautätigkeit in den illegalen israelischen Siedlungen im Westjordanland erhält die Internationalisierungsstrategie von Präsident Abbas hohe Zustimmungsraten. So unterstützen 82 Prozent die Initiative der Palästinensischen Führung mehr internationalen Organisationen beizutreten. Auch der Gang zum internationalen Strafgerichtshof ist trotz der israelischen Reaktionen (Einbehaltung der palästinensischen Zölle) äußerst beliebt. Mehr als Zweidrittel der Befragten (69 Prozent) unterstützen die Entscheidung der palästinensischen Führung; nur 26 Prozent lehnen sie ab. Sollten die Palästinenser dem Internationalen Strafgerichtshof am 1. April offiziell beitreten und damit die Möglichkeit erhalten, Israel für Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen anzuklagen, würde eine deutliche Mehrheit diesen Schritt unterstützen. Im Raum stehen palästinensische Klagen gegen Israels Siedlungspolitik und mögliche Kriegsverbrechen während des Gaza-Krieges. Rund 86 Prozent der Palästinenser erwarten sogar von Präsident Abbas die Einreichung einer Klage gegen Israel aufgrund der Siedlungsbautätigkeiten in der Westbank.
Allerdings überwiegt bei der Mehrheit der Palästinenser die Skepsis, was die Erfolgsaussichten eines solchen Prozesses angeht. So sind 54 Prozent davon überzeugt, dass der Gang zum Internationalen Strafgerichtshof den Siedlungsbau in der Westbank weder verlangsamen noch gänzlich stoppen wird.
Die Sicherheitskooperation mit Israel auf dem Prüfstand
Innerhalb der letzten Monate haben sich die Anzeichen vermehrt, dass die palästinensische Führung die Aufkündigung der Sicherheitskooperation mit Israel ernsthaft in Erwägung ziehen könnte. Seit der Sitzung des PLO-Zentralkomitees am 4. und 5. März verfügt Präsident Abbas über ein direktes Mandat, notfalls diesen Schritt im Alleingang durchführen zu können. Wie die Umfrage zeigt, würde eine Mehrheit der Bevölkerung dies befürworten; 60 Prozent unterstützen den Vorstoß - nur 35 Prozent lehnen ihn ab. Indes ist eine Mehrheit von 57 Prozent der Meinung, dass die PA diesen Schritt letztlich nicht vollziehen wird, da das implizierte Risiko eines Zusammenbruchs der PA für alle Beteiligten zu groß erscheint.
Die Boykottbewegung erhält deutlichen Zulauf
Im Nachgang des letzten Gazakrieges hat in den Palästinensischen Gebieten ein Umdenken eingesetzt, was die Einfuhr und den Umgang mit israelischen Produkten angeht Noch vor dem Gazakrieg war vor allem die Westbank ein wichtiger Absatzmarkt für in Israel (und oftmals in den Siedlungen) produzierten Nahrungsmittel. Inzwischen sprechen sich 85 Prozent der Palästinenser für einen Boykott israelischer Produkte aus. Eine Mehrheit von 54 Prozent gibt dementsprechend an, gewisse israelische Lebensmittel (vor allem Milchprodukte) nicht mehr zu konsumieren. Zweidrittel (65 Prozent) sind sogar der Meinung durch den Boykott ein gewaltloses Mittel gefunden zu haben, Israel zu einem Ende der Okkupation zu drängen.
Der Blick in die Zukunft
Der Ausgang der israelischen Wahlen lässt vermuten, dass sowohl in Jerusalem und Ramallah in der nächsten Zeit bekanntes politisches Personal an der Spitze stehen wird. Damit steigen nicht unmittelbar die Chancen zur Lösung des Nahostkonflikts. Für die Palästinenser bietet der Wahlausgang und die neue israelische Regierung unter Führung von Benjamin Netanjahu die Möglichkeit, den „Schuldigen“ für das Stocken des Friedensprozesses in Jerusalem zu suchen. Gleichwohl wird diese Taktik auf Dauer nicht erfolgversprechend sein. Denn nur durch eigene Erfolge der Palästinensischen Führung kann der angestaute Frust der Bevölkerung gemildert werden. Da ein Friedensvertrag mit Israel gegenwärtig kaum möglich erscheint, muss Abbas sein zweites großes Projekt mit großer Vehemenz vorantreiben, und das ist die innerpalästinensische Einheit. Dieses Projekt erwartet die Bevölkerung von ihm in annähernd gleichem Maße wie die Schaffung eines eigenen Staates. Hierzu muss es Präsident Abbas und der PA gelingen, endlich auch in Gaza Fuß zu fassen und den Wiederaufbau zu koordinieren. Gerade jetzt, bei deutlich zurückgehenden Zustimmungswerten für die Hamas bietet sich für die Fatah die Chance auch dort ihre Machtbasis auszudehnen. Ein politisches Vakuum in Gaza würde niemanden nützen – außer extremen Kräften, die sich noch radikaler positionieren als die Hamas. Dies kann weder im Interesse der Fatah noch der internationalen Gemeinschaft sein.