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Islamisierung und Islamismus, die Staatsgründung Israels, Nationalismen und Staatszerfall – über Jahrhunderte hinweg wurde sie immer wieder neu herausgefordert und zu Anpassungen gezwungen.
Heute leben in Israel etwa 150 000 autochthone Christen; in den Palästinensischen Gebieten sind es 47 000 Glaubensanhänger. Während in Israel ihr Anteil stabil bleibt, weil Christen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus Osteuropa zuzogen, beziehungsweise ostafrikanische und asiatische Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter ihre Religion heute mit nach Israel bringen, nimmt ihre Präsenz in Gaza und dem Westjordanland (inklusive Ost-Jerusalem) sukzessive ab. Zugleich wachsen die anderen religiösen Gruppen schneller.
Zahl der „hebräischen Christen“ steigt
In Israel formen lokale Christen, die mehrheitlich im Norden des Landes leben, eine homogene Gruppe mit hohem Organisationsgrad. Dies versetzt sie in die Lage, sichtbar zu sein und ihren nationalen Anspruch politisch zu artikulieren. Den sogenannten „neuen“ Christen fehlt diese identitätsstiftende Klammer. Sie bemühen sich primär um Assimilierung und leben fragmentiert in jüdischen Nachbarschaften. Sie werden deshalb oft auch die „hebräischen Christen“ genannt, um sie linguistisch von den arabisch sprechenden autochthonen Christen zu unterscheiden. Experten schätzen, dass diese Christen möglicherweise schon heute zahlenstärker sind als die palästinensischen Christen im Land.
Israel wird auch weiterhin als Demokratie die Religionsfreiheit schützen. In den palästinensischen Gebieten ist die Lage diffiziler. Gaza wird seit elf Jahren von der Hamas kontrolliert. 1 100 der zwei Millionen Einwohner sind Christen. Fast zwei Drittel von ihnen fühlen sich nicht oder nur teilweise sicher. Menschenrechtsorganisationen können keinerlei Einschränkungen der Religionsfreiheit bestätigen. Man muss folglich davon ausgehen, dass die Hamas die christliche Präsenz missbraucht, um sich als Schützerin der Religionsfreiheit zu inszenieren, obgleich sie auf allen anderen Ebenen eine Islamisierung forciert.
Im Westjordanland regiert die Palästinensische Autonomiebehörde (PA). Sie und die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) bemühen sich um einen religionsinklusiven Diskurs: Feste Quoten in Exekutive und Legislative sowie ein Präsidentenkomitee für Kirchenangelegenheiten stellen sicher, dass Christen an politischen Prozessen beteiligt sind; das palästinensische Grundgesetz schützt religiöse Minderheiten und zu den prominenten Fürsprechern der palästinensischen Sache gehörten immer auch Christen.
Nichtsdestotrotz verlassen palästinensische Christen seit 100 Jahren ihre Heimat. Dies hatte zumeist politische und wirtschaftliche Ursachen: Angst vor dem osmanischen Wehrdienst, Flucht und Vertreibung (Nakba) im ersten israelisch-arabischen Krieg und erneut mit dem Sechstagekrieg, Wirtschaftsemigration und Wegzug in Folge politischer Perspektivlosigkeit mit dem gescheiterten Friedensprozess bilden die nahöstliche Migrationsgeschichte ab. Getragen wurde dieser Trend von einem positiven Bild des Auslands unter Christen. Dies resultiert primär aus einer Ausbildung in westlichen Missionarsschulen, dem Erlernen von Fremdsprachen, dem alltäglichen Umgang mit ausländischen Lehrern und dem frühen Kontakt mit Vertretern der palästinensischen christlichen Diaspora. Allein in Chile leben heute 500 000 Palästinenser. Stärker als früher sind sich Christen heute ihrer Minderheitenrolle bewusst und sehen sich in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den religiösen Mehrheitsgesellschaften. Perspektivisch fragt man sich, wie es ein unabhängiger Staat Palästina mit der Religionsfreiheit halten wird: Zu offensichtlich sind die Verfehlungen anderer arabischer Regime, wenn es um den Minderheitenschutz geht. Schon jetzt müssen palästinensische Christen auf neue Phänomene reagieren: In den Palästinensischen Gebieten bedroht sie die Islamisierung, während sie in Israel auf einen national-religiösen Fundamentalismus stoßen.
Rückzug ins selbst gewählte Ghetto
Die Folge sind inkohärente Strategien, abzulesen beispielsweise bei einem Vergleich zwischen dem Verhalten der Kirchenführer und ihren Mitgliedern: Die Obrigkeit tritt politisch auf und bezieht deutlich Stellung. Im Kairos-Palästina-Dokument von 2009 wird die israelische Militärbesatzung kritisiert und Boykott sowie gewaltfreier Widerstand als probate Instrumente zur Verbesserung der Lage empfohlen. Die katholische Kommission für Frieden und Gerechtigkeit befindet, dass „normale Beziehungen“ zu Israel nicht möglich seien, solange der Alltag der Palästinenser von „Normalität“ entfernt sei.
Die einfachen Kirchenmitglieder wählen indes den Weg in ein selbst gewähltes Ghetto, um fußläufigen Zugang zu Kirche, Schule und Gemeinden zu erhalten. Derart geschlossene, abseits traditioneller christlicher Viertel gelegene Wohnkomplexe vertiefen die Kluft zu Andersgläubigen.
Vergleicht man Stimmungsbilder unter Christen und Muslimen, fällt auf, dass beide Gruppen nahezu identisch politische und gesellschaftliche Entwicklungen bewerten. Sie sind sich einig, dass der Konflikt mit Israel verunsichernd auf den Alltag wirkt (45 Prozent der Christen/60 Prozent der Muslime); erst mit Abstand folgt die wirtschaftliche Lage (16 Prozent/12 Prozent). Ausschließlich Christen in Gaza fürchten sich vor religiösem Extremismus. Beide Gruppen sind mehrheitlich davon überzeugt, dass der Zionismus das Ziel verfolge, Christen und Muslime aus dem historischen Palästina zu vertreiben.
Unter der eingeschränkten Bewegungsfreiheit leiden sowohl die Christen wie auch die Muslime. Für Christen ist besonders schmerzhaft, dass zwischen der Geburtskirche in Bethlehem und der Grabeskirche in Jerusalem heute die militärische Sperranlage verläuft.
23 Prozent der Christen kennen Familienangehörige, die im vorausgegangenen Jahr emigriert sind. Unter Muslimen sind es nur zwölf Prozent. Heute lebt die Hälfte aller 12,7 Millionen Palästinenser im Ausland. Somit ist anzunehmen, dass vermutlich jeder Palästinenser jemanden mit Migrationserfahrung kennt. Mit der Abwanderung verbindet man heute, wie schon in der Vergangenheit, die Hoffnung auf eine bessere wirtschaftliche Entfaltung.
63 Prozent der Christen und 89 Prozent der Muslime geben bei der Befragung an, israelische Aktionen beeinflussen ihre Präsenz im Heiligen Land. 27 Prozent der Christen sagen, die regionale Lage erhöhe noch ihren Emigrationswunsch. Indes geben nur zwei Prozent an, aus religiösen Gründen nicht auswandern zu wollen. Insgesamt spielen also politische und religiöse Faktoren eine nachgeordnete Rolle bei konkreten Auswanderungsabsichten.
Um dem Emigrationstrend der Christen zu begegnen, bedarf es kollektiver Anstrengungen. Politische Entscheidungsträger müssen für Religionsfreiheit und ein pluralistisches Gesellschaftsbild eintreten.
Hier ist vor allem die Palästinensische Autonomiebehörde gefordert, die derzeit autoritäre Herrschaftszüge kultiviert. Christen wiederum sollten selbstbewusst ihren Einsatz für die Gesellschaft unterstreichen: Als Minderheit zeichnet sie in den Palästinensischen Gebieten für insgesamt 70 Schulen und 260 soziale Organisationen verantwortlich. Im Westen wiederum gilt es, für einen fairen Pilgertourismus zu werben. Hier kann auch die aktive Diaspora Unterstützung bieten. Die Mehrzahl der christlichen Stätten liegt im Westjordanland und Ost-Jerusalem. Der Tourismussektor macht aber nur 1,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus.
Die Untersuchung zeigt: Eine Mehrheit der Befragten ist überzeugt, dass auch in Zukunft Christen in Palästina leben. Solange der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern nicht gelöst ist, muss sichergestellt sein, dass die religiöse Dimension keine Überhand gewinnt.
Der Autor leitet in Ramallah das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) für die Palästinensischen Gebiete. Der Beitrag bezieht sich auf eine Studie, die die palästinensische Organisation DIYAR mit Unterstützung der KAS 2017 durchgeführt hat.
Die Analyse ist am 25. Juli 2018 in der Tagespost erschienen.