Country reports
Bei einem von der Konrad-Adenauer-Stiftung und der südafrikanischen Wochenzeitung Mail & Guardian am 9. Oktober veranstalteten Diskussionsforum zur im Dezember anstehenden Wahl des ANC-Vorstandes äußerte ein ANC-Mitglied seinen Unmut: „Wir haben den ANC dorthin gebracht, wo er heute ist. Und jetzt lasst ihr auf uns schießen.“ In der südafrikanischen Öffentlichkeit wurde vom „schlimmsten Massaker seit Ende der Apartheid“ gesprochen. Ein Vorfall wie dieser schien selbst kritischen Beobachtern der politischen Entwicklung des Post-Apartheid Südafrika nicht vorstellbar. Umso mehr wurde die junge Demokratie durch die Ereignisse erschüttert.
Nach einem einwöchigen Streik der Minenarbeiter, die für höhere Löhne und gegen schlechte Arbeits- und Wohnbedingungen demonstrierten, war am 16. August die Situation eskaliert. Die mit scharfer Munition bewaffneten Polizisten eröffneten das Feuer auf die Kumpel, die laut Polizeiangaben ebenfalls mit Feuerwaffen, Speeren und Macheten bewaffnet waren. Bei der Schießerei kamen insgesamt 34 Minenarbeiter ums Leben, 78 Kumpel wurden zum Teil schwer verletzt. Im Zuge der blutigen Auseinandersetzung nahm die Polizei rund 270 Minenarbeiter fest.
Bevor die tödlichen Schüsse fielen, hatten die Minenarbeiter des an der Londoner Börse notierten Lonmin Konzerns bereits am 10. August ihre Arbeit niedergelegt und für höhere Löhne protestiert. Bereits vor dem 16. August waren zehn Menschen bei Zusammenstößen getötet worden. Unter den Opfern befanden sich zwei Polizisten, die von Bergleuten brutal erschlagen, sowie zwei Lonmin-Sicherheitskräfte, die in ihrem Auto angezündet worden waren.
Ein Autopsiebericht einer unabhängigen Untersuchungskommission stellte fest, dass die meisten Todesopfer vom 16. August Einschüsse in den Rücken aufwiesen, also vermutlich auf der Flucht vor der Polizei erschossen wurden. Die Bezeichnung des Vorfalls als Massaker machte die Runde. Nach diesem brutalen Vorgehen der Polizei weigerten sich die Minenarbeiter der Lonmin-Mine, die Arbeit wieder aufzunehmen. Sechs Wochen lang blieb der Minenbetrieb wegen des Protests und der folgenden Gehaltsverhandlungen liegen. Die finanziellen Einbußen des Lonmin Konzerns werden auf mehr als 80 000 Feinunzen Platin geschätzt, bei einem Preis von momentan ca. 1650 US Dollar pro Feinunze. So müsse Lonmin nach eigenen Angaben ca. 1 Mrd. US Dollar aufnehmen, um die Schulden zurückzahlen zu können. Die Gesamtkosten der Streiks für die südafrikanische Volkswirtschaft beziffert Staatspräsident Jacob Zuma auf 4,5 Milliarden Rand (ca. 420 Millionen Euro).
Gesetzgebung aus der Apartheidszeit
Nach der Eskalation des Protests erhob die südafrikanische Staatsanwaltschaft Mordanklage gegen 270 Kumpel - sie sollen den Tod ihrer 34 Kollegen verschuldet haben. Die Klage basierte auf einem aus dem Jahre 1956 stammenden Gesetz, wonach Personen einer Gruppe verhaften werden können, die bei einer Schießerei unter Beteiligung der Polizei vor Ort festgenommen werden. Während der Apartheid benutzten die Behörden das Gesetz, um bei Ausschreitungen führende Bürgerrechtler verhaften und Kollektivstrafen aussprechen zu können.“
Anfang September wurde die Mordanklage aufgrund nationalen und internationalen Protests vorerst zurückgezogen und der Großteil der inhaftierten Kumpel wurde freigelassen. Die restlichen Inhaftierten sollten Mitte September freigelassen werden.
Der Vorfall hat in der Regenbogennation viele Fragen aufgeworfen. Erklärungsversuche und Schuldzuweisungen prägen die Titelblätter der südafrikanischen Zeitungen. Die Deutung der Ereignisse geht weit über die konkreten Streiks hinaus und erlaubt Einblicke in eine südafrikanische Gesellschaft, deren alte Wunden noch längst nicht verheilt sind und in der sich neue Brüche von großer Sprengkraft auftun.
Machtkampf der Gewerkschaften
Die Suche nach möglichen Schuldigen führt zu zwei rivalisierenden Gewerkschaften, der National Union of Mineworkers (NUM) und der jüngeren und radikaleren Association of Mineworkers and Construction Union (Amcu), eine Abspaltung der NUM. Der 1982 gegründeten NUM wird vorgeworfen, sie hätte darin versagt, im Vorfeld einen akzeptablen Lohn mit der Lonmin-Führung auszuhandeln. Hinzu kommt, dass im Februar 2012 in einer anderen Mine ein Streik der Bohrhauer (rock driller) zu einer enormen Lohnerhöhung führte. Diese Gründe sollen laut dem Institute for Security Studies (ISS) unter anderem zum Streik der Minenarbeiter in Marikana geführt haben. Ein Streik, der von der Amcu unterstützt wurde, die auch die Streikenden zur Gewalt angestachelt haben soll.
Zusammen mit Amcu forderten die Arbeiter eine Lohnsteigerung von rund 4000 Rand monatlich (etwa 380 Euro) auf rund 1180 Euro. Gemäß Angaben von Lonmin lag der Lohn mit allen Zuschlägen jedoch bereits vor der Beendigung des Streiks bei knapp 1000 Euro. Auch für die früheren zehn Todesopfer, darunter die Lonmin-Sicherheitsleute und Polizisten, wird die Verantwortung bei den rivalisierenden Gewerkschaften gesucht. Die beiden Gewerkschaften kämpfen um Mitglieder und deren Mitgliedsbeiträge, um Sitze im Aufsichtsrat der Minenkonzerne und um politischen Einfluss.
Um die alleinige Kompetenz bei Lohnverhandlungen mit dem Minenmanagement zu haben, muss eine Gewerkschaft einen Rückhalt von mindestens 49 Prozent bei den Arbeitern finden. Die NUM, welche über den Congress of South African Trade Unions (Cosatu) mit dem African National Congress (ANC) verbündet ist, fiel in Marikana kürzlich unter diese 49 Prozent-Grenze , was der Amcu zu Gute kommt.
Dennoch ist die NUM weiterhin die wichtigste und mitgliederstärkste Gewerkschaft innerhalb des Dachverbands Cosatu. Dieser wiederum ist neben dem ANC und der Kommunistischen Partei Teil der südafrikanischen Regierungskoalition.
ANC-Regierung am Pranger
Das schwindende Vertrauen in die NUM mag an der immer größer werdenden Distanz zwischen der NUM-Führung und ihrer Basis, den Minenarbeitern, liegen.
Für viele Kritiker ist die Person Cyril Ramaphosa’s ein Spiegelbild dieser wachsenden Kluft zwischen Establishment und Arbeiterklasse. Ramaphosa hat seine politischen Wurzeln in der Arbeiterbewegung. Er ist ehemaliger Erster Generalsekretär der NUM und aktueller Vorsitzende der Disziplinarberufungskommission des ANC und hat sich überdies in den vergangenen Jahren als erfolgreicher Geschäftsmann profiliert, der unter anderem auch im Aufsichtsrat des Lonmin Konzerns sitzt. Populistischen Deutungen der Ereignisse zu Folge wurden die streikenden Minenarbeiter getötet, um die Aktienanteile von Cyril Ramaphosa zu schützen.
Mit Aussagen wie dieser befeuert Julius Malema die politische Auseinandersetzung, die im Zusammenhang mit der Tragödie von Marikana steht. Malema, der im Frühjahr 2012 aus dem ANC ausgeschlossen und seines Amtes als Führer der ANC Jugendliga enthoben worden war, prangert nun „Zumas mörderische Regierung“ an und liefert dem Machtkampf um den nächsten Staatschef Zündstoff. Obwohl die nächsten Parlamentswahlen erst im Jahre 2014 stattfinden werden, wird die Frage um den nächsten südafrikanischen Präsidenten bereits im Dezember beim ANC-Parteitag in Mangaung entschieden. Wer dort zum ANC-Vorsitzenden gewählt wird, wird damit auch zum Kandidaten für das Präsidialamt, was angesichts der erdrückenden Macht des ANC in Südafrika beinahe schon eine Garantie für die Übernahme des Amtes bedeutet. Der amtierte Staatspräsident Jacob Zuma, der für eine zweite Amtsperiode bereit steht, braucht dafür die Unterstützung des Gewerkschaftsverbandes Cosatu, zu dem die NUM gehört und der Teil der Regierungsallianz ist. Es wurden Stimmen laut, die Regierung Zuma habe aus diesem Grund den Arbeitskämpfen der Minenarbeiter tatenlos zugesehen.
Um die Vorfälle des 16. Augusts aufzuklären, hat Zuma eine Untersuchungskommission eingesetzt. Diese hat am 1. Oktober mit dem Verlesen der Namen der Getöteten und einer Schweigeminute ihre Arbeit aufgenommen und hat vier Monate Zeit, die tragischen Ereignisse aufzuklären. Der Bericht wird im Januar, einen Monat nach dem ANC-Parteitag, veröffentlicht.
Doch der politische Machtkampf zwischen den Gewerkschaften und die Unfähigkeit derselben, die Interessen der Minenarbeiter kollektiv gegenüber dem Management zu vertreten, sind nicht die einzigen Faktoren, die zur Tragödie bei der Lonmin-Mine führten.
Frustration über Lebens- und Arbeitsbedingungen
Als mitursächlich für die Ereignisse vom 16. August muss auch die wachsende Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes gesehen werden, die sich vor allem auf die schwarze Bevölkerungsgruppe auswirkt und von dieser zunehmend artikuliert wird. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in Südafrika stetig größer. Das weitere Auseinanderdriften der Lebenschancen führt immer häufiger zu öffentlichen Protesten. Viele der Minenarbeiter, die fast ausschließlich der schwarzen Bevölkerungsschicht angehören, fühlen sich ausgebeutet. Denn es sind gerade sie, die am wenigsten vom Reichtum an Bodenschätzen profitieren.
Afzul Soobedaar, National Senior Commissioner der Commission for Conciliation, Mediation and Arbitration (CCMA), eine Kommission, die mit am Verhandlungstisch saß, als den Minenarbeitern am 18. September eine Lohnerhöhung zugesagt wurden, bestätigt dies. Für ihn war der Streik kein Arbeitskampf, sondern Ausdruck der wachsenden Frustration hinsichtlich der Lebensbedingungen, der sozialen Ungleichheit und der herrschenden Armut.
Eine von Kirchen unterstützte Organisation, die Bench Marks Foundation, hatte kurz vor dem 16. August einen Bericht veröffentlicht, der zu dem Schluss kam, dass die „Wohnbedingungen, unter denen Arbeiter von Lonmin leben, entsetzlich sind“. Bereits im Jahre 2007 warnte die Stiftung die Regierung sowie die Platinminen-Betreiber davor, dass es zu Aufständen kommen könne, würden sich die sozioökonomischen Bedingungen vor Ort nicht ändern.
Obwohl der Lonmin Konzern Kliniken, Arbeiterunterkünfte sowie Klassenzimmer für die Kinder der Minenarbeiter errichten ließ, müssen sich Tausende von Arbeitern selbst um eine nur unzureichende Unterkunft kümmern. Sie leben meist in sogenannten Informal Settlements - illegale Siedlungen aus Blechhütten, die meist keinerlei Anschluss zum Stromnetz, respektive Wasser- sowie Abwasserversorgung haben.
In der Tat ist wohl kein anderes Land wirtschaftlich so stark gespalten wie das Land an der Südspitze Afrikas. Offiziell ist jeder vierte Südafrikaner arbeitslos, die tatsächliche Zahl dürfte sogar noch darüber liegen.
Diese Resignation darüber, dass sich für viele Südafrikaner die Hoffnung auf ein besseres Leben auch 18 Jahre nach Beendigung der Apartheid nicht erfüllt hat, resultiert in Frustration und Gewaltbereitschaft, die fast schon als fester Bestandteil von Protesten in Südafrika gilt. So nahmen laut dem Institut für Sicherheitsstudien ISS gewalttätige Proteste bei Arbeitskämpfen oder gegen Lokalverwaltungen seit 2006 um 75 Prozent zu.
Die Lohnforderungen sowie die allgemeine finanzielle Situation der Minenarbeiter werden von Frederik Willem de Klerk, Südafrikas letztem weißen Präsident und Mandelas Vorgänger, jedoch völlig anders bewertet. Anfang September kritisierte er vor dem Kapstädter Presseklub die gegenwärtige Wirtschaftspolitik des ANC scharf. Seiner Meinung nach dürfe kein Vergleich zwischen dem Einkommen der Minenbosse und deren Arbeitern gezogen werden, „wichtiger sei, dass die Arbeiter in Marikana das Zwanzigfache dessen zum Leben hätten, was ihren arbeitslosen Nachbarn zur Verfügung stehe“; so seien deren Löhne nicht zu gering sondern würden dem entsprechen, was ein weißer südafrikanischer Arbeiter im Durchschnitt verdiene. Bei seinen Aussagen bezog sich der ehemalige südafrikanische Präsident auf einen Bericht des Statistischen Amtes von 2010.
Polizeiapparat nicht Herr der Lage
Mit der Frage, ob beziehungsweise inwieweit die Polizisten, die am 16. August auf die Minenarbeiter schossen, zur Verantwortung gezogen werden, beschäftigt sich die von Präsident Zuma eingesetzte Untersuchungskommission. Schon jetzt wird deutlich, dass auch strukturelle Probleme des Sicherheitsapparates für das Unglück mitverantwortlich sind. Demnach mangelt es der Polizei an der nötigen Ausbildung zum Umgang mit Situationen, die ein hohes Gewaltpotenzial mit sich bringen. Noch in den 90er Jahren gab es Polizeieinheiten, die extra dazu ausgebildet wurden, gewalttätige Ausschreitungen bei Demonstrationen zu verhindern. Da diese Einheiten jedoch als zu kostspielig angesehen wurden und zu selten zum Einsatz kamen, wurden sie abgeschafft.
Von anderen wiederum wird die Polizei in Schutz genommen; sie habe in Notwehr gehandelt, nachdem die bewaffneten Minenarbeiter im Angriff auf sie zu rannten.
Marikana als „Wake-up call“
Am 20. September haben die Arbeiter der Lonmin-Mine ihre Arbeit wieder aufgenommen und damit den sechswöchigen Streik beendet, der insgesamt 46 Menschen das Leben kostete. Den Arbeitern wurde eine Lohnerhöhung von 22 Prozent sowie eine Einmalzahlung von 2.000 Rand zugesagt. Gleichzeitig rückten jedoch weitere Arbeitsniederlegungen von Minenarbeitern anderer südafrikanischer Minen in den Fokus der Öffentlichkeit. So fordern Arbeiter von Anglo Platinum in Rustenburg sowie der Gold Fields’ KDC West Mine nahe Carletonville ähnliche Lohnerhöhungen wie ihre Kollegen der Lonmin-Mine. Auch hier wurde die Polizei eingesetzt, die unter Verwendung von Tränengas und Gummigeschosse eine Versammlung von streikendenden Arbeitern der Anglo Platinum-Mine auflöste.
Am 4. Oktober hat dieser seit dem 12. September andauernde Streik dann sein erstes offizielles Todesopfer gefordert - ein Minenarbeiter, erschossen von der Polizei. Als Folge der Streiks entließ Anglo American Platinum Anfang Oktober 12.000 Minenarbeiter.
Bewährungsprobe für die politische Führung
18 Jahre nach dem politischen Wechsel müssen sich die politischen Entscheidungsträger Südafrikas immer häufiger die Frage gefallen lassen, wie erfolgreich sie beim Aufbau des Landes nach der Überwindung der Apartheid waren. Die politische Legitimation des regierenden ANC als Befreier des Landes wird dauerhaft nicht ausreichen, um die Wähler weiter zu binden. Selbst innerhalb des ANC nimmt die Kritik an Regierung und Partei zu, wie die von der KAS geförderte Veranstaltung zu den anstehenden Wahlen einer neuen Führungsriege des ANC verdeutlichte. Der Umgang der politischen Führung mit dieser parteiinternen Kritik und mit den öffentlichen Protesten gegen die Regierung wird in den kommenden Monaten die Baustellen der südafrikanischen Demokratie weiter offenlegen.