Publicador de contenidos

Nachruf

Hörend lesen

de Prof. Dr. Michael Braun

Nachruf auf Birgit Lermen

 

Publicador de contenidos

Compartir

Birgit Lermen hatte ein phänomenales Gehör. Es galt vor allem der Literatur und schärfte das genaue Lesen. Mit dieser, man möchte sagen: synästhetischen Gabe des hörenden Lesens verstand sie es, ein sprachliches Kunstwerk in seiner Eigengesetzlichkeit ebenso wahrzunehmen wie in seinen historischen und politisch-kulturellen Kontexten. Arnold Stadler hat das in der Festschrift, die ihr zur Emeritierung im Jahr 2000 von Kollegen überreicht wurde, treffend ausgeführt: „Zuhören heißt natürlich Hinhören, auch warten auf etwas. Heißt erwarten, hat auch mit Advent zu tun, ja. Das ist eine erwartungsvolle Zuhörerin, eine hoffnungsvolle, auf die ein Schriftsteller gehofft hat, eine, die Literatur noch mit Hoffnung verbindet. Eine, die von Literatur noch etwas erwartet.“

Zeitlebens hat Birgit Lermen diese Gabe in den Dienst der Literatur gestellt. Eine Schule hat sie nicht begründet, wiewohl sie bei Emil Staiger in Zürich, bei Adorno in Frankfurt und bei Benno von Wiese in Bonn studiert hat. Dafür hat sie, als Germanistikprofessorin an der Technischen Hochschule Aachen und an der Universität zu Köln, etwas Vorbildhaftes initiiert, etwas, das Schule machte. In einer Welt von Erfahrungsbeschleunigung und Wissenszersplitterung hat sie immer wieder daran gearbeitet, Forschung und Lehre zu einem lebendigen Ganzen zusammenzulegen. Das galt vor allem für jene Autoren des 20. Jahrhunderts, denen ihre jüdische Herkunft zum „Zentnergewicht“ (Hilde Domin) und zur „Tränenspur“ (Paul Celan) wurde.

Für die Konrad-Adenauer-Stiftung hat Birgit Lermen in vielfacher Weise kulturelle Maßstäbe gesetzt. Sie war 1992/93 Gründungsmitglied der Jury des Literaturpreises der Stiftung und hat als Vorsitzende (1993–2014) und danach als Ehrenmitglied mit feinsinnigem Urteilsvermögen und beispielhafter Umsicht maßgeblich zum Renommee des Preises beigetragen. Sie hat von 1995 bis 2023 die Autorenwerkstatt der Stiftung in Cadenabbia begleitet: als Wissenschaftlerin, als Kritikerin, als Zuhörerin. Von ihrem Sinn für gute Literatur profitierten auch die Studierenden und KAS-Stipendiat:innen, die in den 1990er und 2000er Jahren an den Autoren- und Theaterseminaren der Stiftung in Berlin teilnahmen.

Auf Birgit Lermens Urteil konnte man zählen. Ihr Wort öffnete verschlossene Türen. Ihre Einführungen und Interpretationen kamen an. Kein Weg war ihr zu weit, kein Telefonat zu viel, und es wird ihr Geheimnis bleiben, wie es ihr gelungen ist, so hellhörig „unterwegs / […] von früh bis spät“ zu sein, wie es Elisabeth Borchers in einem Widmungsgedicht beschreibt. In der Nacht zum 19. Mai 2025 ist Birgit Lermen, vier Wochen vor ihrem 90. Geburtstag, verstorben.

Publicador de contenidos

Contacto

Prof. Dr. Michael Braun

Prof. Dr
Referent Literatur
michael.braun@kas.de +49 30 26996-2544

comment-portlet

Publicador de contenidos

Publicador de contenidos