Reportajes internacionales
Am gestrigen 23. September 2015 wurden die Kolumbianer mit einer historischen Nachricht geweckt. Im kubanischen Havanna, wo die Verhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla größtenteils stattfinden, trafen sich der kolumbianische Präsident Santos mit dem obersten Führer der FARC “Timochenko”, um ein Übereinkommen in zwei kritischen Punkten der Friedensverhandlungen zu verkünden: Bezüglich der Wiedergutmachung für die Opfer und der Definition einer sogenannten Übergangsjustiz.
Damit ist man an einem “point of no return” auf dem Weg zur Unterzeichnung eines Friedensabkommens angelangt. Es bleibt zwar noch die Frage der praktischen Umsetzung zu diskutieren, aber der sensibelste Punkt auf der Verhandlungsagenda zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC erscheint nun abgehakt. Es wurde eine Frist bis zum 23. März 2016 für den Abschluss der Verhandlungen gesetzt.
Santos: “Nicht alle werden zufrieden sein”
Zunächst aber ein kurzer Blick zurück. Die Verhandlungen zwischen der Regierung und der FARC wurden im Oktober 2012 aufgenommen. Ihnen gingen mehrmonatige Vorgespräche voraus. Die zwischen den Verhandlungspartnern beschlossene Marschrute für die Friedensgespräche enthielt folgende Punkte: (1) Integrale landwirtschaftliche Entwicklungspolitik; (2) Eine eventuelle politische Partizipation der ehemaligen FARC-Kämpfer; (3) Entschädigung der Opfer; (4) Lösung des Problems des illegalen Drogenhandels und (5) Ende des bewaffneten Konflikts (Rückgabe/Niederlegung der Waffen).
Bis Juli 2014 konnten die Verhandlungspartner schon Teilabkommen über den ersten, zweiten und vierten Punkt erzielen. Anschließend wurden die Punkte Opferentschädigung und Niederlegung der Waffen parallel diskutiert. Dabei handelte es sich gewissermaßen um den Kern der Verhandlungen, weil Prozesse der Übergansjustiz und der Verantwortung der FARC gegenüber den Opfern des Konflikts die schwierigsten Themen darstellten. In diesen Bereichen gibt es von Seiten der FARC, der Politik, sowie der Bevölkerung die größten Vorbehalte.
Daher verwundert es nicht, dass die Parteien mehr als ein Jahr lang über diese kritischen Punkte verhandelten. Ebenso wenig verwundert es, dass Präsident Santos bereits vor einigen Tagen verkündete: “Nicht jeder wird zufrieden sein, aber ich bin sicher, dass es so auf lange Sicht am besten ist … Niemand kann hundertprozentig zufriedengestellt werden, aber der Wandel wird sehr positiv sein.”
Inhalte und mögliche Folgen des zwischen der kolumbianischen Regierung und der FARC abgeschlossenen „Unterabkommens“
Ein zentraler Punkt ist die Schaffung einer “Sonder-Rechtsprechung für den Frieden”, die garantieren soll, dass die im Konflikt begangenen Verbrechen – vor allem die schwerwiegendsten – nicht straflos bleiben. Diese Rechtsprechung soll von einem dafür eingerichteten Gerichtshof und einzelnen Gerichten ausgehen, die untersuchen, richten und entsprechende Urteile fällen. Die Rechtsprechung wird auf alle am Konflikt Beteiligten angewendet: Kämpfer und Nicht-Kämpfer.
Die Strafen für Schwerverbrechen sollen zwischen vier und acht Jahren liegen, wenn die Täter geständig sind. Wer seine Taten nicht umgehend zugibt, setzt sich Gefängnisstrafen von bis zu 20 Jahren aus. Das Abkommen sieht außerdem vor, dass der kolumbianische Staat die größtmögliche Amnestie für explizit politische und damit zusammenhängende Delikte verleiht (Details werden in einem Amnestiegesetz geregelt).
Weiterhin wurde ein Punkt über das Niederlegen der Waffen aufgenommen: Die Guerilla bekommt dafür nach Unterzeichnung des Friedensvertrages eine Frist von 60 Tagen. Trotzdem wird es sich nicht um eine „Entwaffnung“ oder eine Übergabe der Waffen handeln, sondern sie werden „zurückgelassen“, was das Risiko mit sich bringt, dass der Konflikt irgendwann wieder aufflammen könnte.
Der größte Erfolg der Regierung ist es also, dass es einen rechtmäßigen Prozess für Schwerverbrechen geben wird, der zu einer Verurteilung führt. Die FARC kann es als Erfolg verbuchen, dass gewisse Verbrechen, die nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet werden, straffrei bleiben können. Als weiterer Erfolg für die FARC ist auch die Möglichkeit zu zählen, dass die Guerilla nach dem Friedensabkommen eine politische Bewegung gründen kann, wenn es auch nach dem heutigen Communiqué noch nicht klar ist, welche ehemaligen Guerilleros Mitglied dieser Bewegung werden können. Und auch wenn noch nicht definiert ist, welche Art von „Freiheitsentzug” als Strafe vereinbart wurde, steht fest, dass die Mitglieder der FARC nicht in ein normales Gefängnis kommen werden.
Die kolumbianische Regierung bereitet sich zielstrebig auf die Übergangsphase nach Unterzeichnung des Friedensabkommens vor
Die Regierung hat schon seit 2012 das juristische Terrain vorbereitet, um eine schnellere Umsetzung der Absprachen zu ermöglichen. So wurde ein „Juristischer Rahmen für den Frieden“ verabschiedet, um Mechanismen einer Transitionsjustiz im Rahmen der bestehenden Verfassung anzuwenden. Trotzdem verpflichtete diese Norm zu einem ordentlichen Gesetzgebungsprozess für beschlossene Abkommen, was für die unmittelbare Umsetzung der Prozesse im Rahmen eines Friedensabkommens jedoch wohl zu viel Zeit in Anspruch genommen hätte. Schlussendlich lehnte die FARC dieses Rahmengesetz ab.
Seit einigen Wochen wird im Kongress eine Verfassungsreform für die Schaffung einer “Legislativen Sonderkommission für den Frieden” vorbereitet, die für die Umsetzung der Abkommen zuständig sein wird und damit die Verfahrenswege beschleunigen und verkürzen soll. Weiterhin werden dem Präsidenten Sonderkompetenzen übertragen um “Dekrete mit Gesetzescharakter“, also notwendige Dekrete für die unmittelbare Umsetzung einiger Punkte des Abkommens, in die Wege zu leiten.
“Pro” und “Contra” des Abkommens und die Skepsis in der öffentlichen Meinung
Zweifellos handelt es sich bei dem gestrigen Abkommen in Havanna um ein historisches Ereignis, das ein endgültiges Friedensabkommen zwischen den Parteien stützen wird. Santos hat sich festgelegt den Gesamtfriedensvertrag Ende März 2016 unterzeichnen zu wollen. Trotzdem sollten dabei neben den positiven auch die kritischen Punkte des Abkommens bedacht werden.
Zunächst das positive Szenario. Bei den heutigen Geschehnissen handelt es sich um einen klassischen „point of no return“ in den Gesprächen. Das bedeutet, dass die sensibelsten Punkte wohl abgearbeitet sind. Was noch bleibt, sind die Ausarbeitung der Details eines Referendums und die Festlegung der Konditionen für eine Demobilisierung der FARC, um den bewaffneten Konflikt definitiv zu beenden.
Außerdem bedeutet das heute abgeschlossene Abkommen über die Mechanismen einer Transitionsjustiz de facto eine Anerkennung der FARC ihrer eigenen Verantwortung für die Geschehnisse im Rahmen des Konflikts, und auch die Bereitschaft, ihre Opfer zu entschädigen. In jedem Fall wird das Abkommen ein entscheidender Ausgangspunkt für die (spätere) Wahrheitsfindung über die Gräueltaten des Konflikts sein.
Auf der anderen Seite müssen aber auch kritische Stimmen in Betracht gezogen werden. Es gibt nicht wenige Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die die Anwendung der normalen Strafjustiz für alle Mitglieder der Guerilla verlangen. Da es sich in einigen Fällen um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt, ist für viele Kolumbianer die Möglichkeit alternative Strafen im Rahmen der Transitionsjustiz über die Täter zu verhängen, ein sehr sensibles Thema.
Dies belegen aktuelle Umfragen zum Friedensprozess im September 2015. Danach halten nur 38% der Befragten eine politische Verhandlung mit der FARC für die beste Alternative zur Beendigung des Konfliktes. 29% forderten die Demobilisierung der Guerilleros, und 26% würden eine militärische Zerschlagung der FARC vorziehen. 88% der Befragten wären nicht damit einverstanden, wenn die FARC keine Gefängnisstrafen absitzen müssten.
Politische Reaktionen: Breiter Konsens notwendig, ohne dabei die gesunden Differenzen im Rahmen einer Demokratie zu vernachlässigen
Gemeinsam mit dem Präsidenten reisten Vertreter und Senatoren der meisten politischen Parteien nach Havanna, etwa der Konservativen Partei, der Liberalen Partei, der Partido de la U, der Partido Verde und des Polo Democrático. Auch die Präsidenten des Senats und der Repräsentantenkammer des Kongresses nahmen teil.
Die einzige Partei, die nicht mitreiste, ist das Centro Democrático. Die Partei betreibt, angeführt vom ehemaligen Präsidenten Uribe, die schärfste Oppositionspolitik gegen die Friedensgespräche. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Álvaro Uribe schrieb in Twitter: “Nicht der Frieden ist nahe, sondern die Übergabe (des Landes) an die FARC und die Tyrannei Venezuelas.“ Dagegen twitterte der Senator der Partido de la U, Armando Benedetti: “Die Übergangsjustiz ist die Voraussetzung für eine Unterzeichnung eines Friedensabkommens und das Ende einer 60 Jahre langen blutigen Nacht.”
Über die Notwendigkeit zu einem Konsens zu kommen und die Opposition miteinzubeziehen, schreibt die Senatorin der Partido Verde, Claudia López: “Wir müssen die verfassungsmäßige Verabschiedung des Friedensabkommens erreichen, ohne die Gegner niederzuwalzen oder auszuschließen. Wir müssen einen Konsens erlangen und die kritischen Stimmen respektieren.“
Analyse und Ausblick
Um zu verstehen, warum das Abkommen vom gestrigen Tag als ein historischer Schritt gilt, müssen einige Fakten des bewaffneten Konflikts näher betrachtet werden, vor allem was die FARC angeht. Bei dem bewaffneten Konflikt in Kolumbien handelt sich um einen seit über 50 Jahren andauernden Konflikt, der Tausende von Toten forderte. Nach offiziellen Angaben hat der Konflikt über fünf Millionen Opfer hinterlassen; die FARC sind für ca. 40% dieser Opfer verantwortlich. Eine andere maßgebliche Gruppe, wie z.B. die Paramilitärs, wurde bereits in 2006 demobilisiert.
Das Ausmaß einer Demobilisierung und die Einstellung der illegalen Aktivitäten der FARC sind nicht zu unterschätzen. So hat das kolumbianische Verteidigungsministerium für das Jahr 2014 bestätigt, dass die FARC über ca. 6.700 Kämpfer und ca. 8.000 unterstützende Personen in einem Netzwerk sowohl im urbanen Bereich als auch auf dem Land verfügen. Und obwohl die FARC 1964 als bäuerliche Guerilla entstanden ist, hat sie im Laufe ihrer Existenz im Bereich des Drogenhandels eine unrühmliche Rolle gespielt. Von den 350 Tonnen Kokain, die Kolumbien nach Angaben der UNO jährlich produziert, gehen 250 Tonnen (71%) auf das Konto der FARC. Die FARC verfügt über 46.000 Hektar illegaler Anbauflächen in 15 Departments Kolumbiens. Das entspricht 96% des gesamten Drogenanbaus des Landes.
Weiterhin hatte der Konflikt über fünf Millionen Binnenflüchtlinge zur Folge. Der Schritt zu einem Friedensabkommen ist richtig und ohne Zweifel notwendig, um Kolumbien in Richtung einer gemeinsamen Zukunft zu führen.
Dieser Weg wird nicht einfach und frei von Schwierigkeiten sein. So gibt es schon in naher Zukunft einige entscheidende Herausforderungen zu bestehen. Die erste Herausforderung wird sein, einen breiten Konsens zwischen der Regierung und der Opposition in fundamentalen Fragen zu erlangen, die alle Sektoren der Gesellschaft einschließen. Die starke Polarisierung, die derzeit in Kolumbien zu beobachten ist, zusammen mit der großen Skepsis in der öffentlichen Meinung hinsichtlich alternativer Strafen, verlangen politische Führung. Diese politische Führung sollte zum Ziel haben, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. Hier sind Präsident Santos und Ex-Präsident Uribe aufgefordert, über ihre Schatten zu springen. Wenn sie das nicht tun, wird die politische und soziale Kluft weiter bestehen. Es könnte im schlimmsten Fall eine Phase der Selbstjustiz bevorstehen, in der einige Teile der Gesellschaft aus Frust z.B. über die so genannte „Straflosigkeit” sich das Recht herausnehmen, selbst für “Gerechtigkeit” zu sorgen.
Außerdem ist noch nicht alles beschlossen. Der letzte Punkt der Agenda von Havanna (“Das Ende des bewaffneten Konflikts”) umfasst auch ein Thema mit weitreichenden Auswirkungen. Zum Beispiel das Niederlegen oder Übergeben der Waffen von Seiten der FARC oder die Umsetzung und Finanzierung der Abkommen, die internationale Verifizierung und die Entscheidung, welche Mechanismen für die verfassungsmäßige Anerkennung anzuwenden sind. Der Weg ist also noch nicht zu Ende.
Abschließend ist es wichtig zu verstehen, dass ein notwendiges Friedensabkommen noch nicht automatisch den Frieden in Kolumbien bedeutet. Die Gewaltakte, die aktuell den bewaffneten Konflikt begleiten, machen nach Berechnungen lediglich drei Prozent aller Morde in Kolumbien aus. Letztendlich wird ein wirklicher nachhaltiger Frieden in Kolumbien erst mit einer Konsolidierung des Landes durch einen Strukturwandel mit weitreichenden Reformen erreicht werden können.