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Reportajes internacionales

Proteste und soziale Unruhen in Kolumbien

de Dr. Hubert Gehring, Margarita Cuervo

Generalstreik liefert Beleg für seit Jahrzehnten bestehende, ungelöste Probleme

Seit Anfang 2013 ist es in verschiedenen Regionen Kolumbiens zu einer Reihe von Protestaktionen gekommen. Was in den ersten Monaten mit Demonstrationen und Gesuchen einiger betroffener Agrar-Sektoren an die Regierung, vor allem angesichts der sozialen Ungleichheit und der durch die Freihandelsabkommen mit den USA und Europa verschärften Vorschriften, begonnen hat, führte im Juli zu einem regelrechten Ultimatum dieser Bauernverbände.

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Wenn die Regierung nicht auf ihre Probleme reagiere und Subventionen und Vergünstigungen von Betriebsmitteln beschließe, würden sie zu einem Streik großen Ausmaßes aufrufen. Nach und nach schlossen sich immer mehr Regionen und Wirtschaftszweige diesen Protesten an, bis am 19. August schließlich zu einem landesweiten Generalstreik aufgerufen wurde, der erst langsam durch diverse Abkommen mit einzelnen Streikparteien abflaut.

Auch wenn die Gründe für diese Situation vor der Regierungsperiode des Präsidenten Santos zu suchen sind, verschärften sich die Probleme in letzter Zeit zusehends. Dazu hat unter anderem auch das Fehlen einer konsequenten Strategie des Präsidenten und seines Kabinetts beigetragen, mit der man angemessen auf die Sorgen der einzelnen Branchen hätte reagieren können. Das Land befindet sich in Folge dessen in einer mittelschweren Krise, und die Wirtschaft ist durch Lebensmittelknappheit, Preiserhöhungen, Straßensperren und eine generelle Atmosphäre von Ungewissheit angeschlagen. Auch das Image von Präsident Santos hat darunter gelitten und verschiedene politische Sektoren – innerhalb und außerhalb der Regierung – gehen auf Distanz zum Präsidenten, kritisieren die Koalition der „Unidad Nacional“ und versuchen die Krise im Vorwahlkampf für ihre Zwecke auszunutzen.

Volkswirtschaftliche Daten haben sich verbessert - die Verteilung des Reichtums jedoch nicht

Gemäß offiziellen Angaben steht Kolumbien an zweiter Stelle der lateinamerikanischen Länder mit der ungerechtesten Verteilung der Reichtümer und mit einem Gini-Koeffizient von 0,539. Von den insgesamt 45 Millionen Einwohnern leben ca. 15 Millionen in Armut und ca. 4 Millionen unterhalb der Armutsgrenze. Das monatliche Durchschnittseinkommen liegt bei US$ 692, der gesetzliche Mindestlohn bei US $327 und der durchschnittliche Stundenlohn eines Kolumbianers beträgt US $ 1,3. Im Hinblick auf die Landbevölkerung verschärft sich diese Situation noch. Gemäß einer Untersuchung der UNO aus dem Jahr 2011 sind 75 Prozent der kolumbianischen Gemeinden vorwiegend ländlichen Charakters. Dort leben 31,6 Prozent der Gesamtbevölkerung. Dabei lebt ein Drittel der Landbevölkerung unter der Armutsgrenze und der Gini-Index liegt hier bei 0,88.

Angesichts dieses Panoramas verwundert es nicht, dass bei der Landbevölkerung Unzufriedenheit aufkommt, in einem Land, in dem die Konzentration des Landbesitzes und die soziale Ungleichheit auf dem Lande im letzten Jahrzehnt ständig angestiegen sind. Auch wenn die volkswirtschaftlichen Werte in den letzten Jahren insgesamt positive Entwicklungen zeigen, vor allem hinsichtlich des Wirtschaftswachstums, der ausländischen Investitionen und des Rückganges der Arbeitslosigkeit, scheinen sich diese Zahlen nicht im Wohlstand der Bürger im ganzen Land oder in Form von sozialer Gerechtigkeit und nachhaltigen Chancen für die gesamte Bevölkerung widerzuspiegeln.

Vorgeschichte des Generalstreiks: ein Ambiente allgemeiner Unzufriedenheit

Auch wenn die Proteste in erster Linie vom Agrarsektor initiiert wurden, haben sich im Verlauf weitere Sektoren dem Streik angeschlossen. Zu Beginn gab es nur vereinzelte Protestaktionen, die sich vor allem auf die Departamentos Boyacá, Nariño, Putumayo und Arauca konzentrierten. Und nachdem der Präsident am Ende des ersten Streiktages verkündete, dass “der Streik nicht so schlimm gewesen sei, wie erwartet“, solidarisierten sich in Folge mehr und mehr Wirtschaftszweige und Regionen und beteiligten sich intensiv an den Demonstrationen. Wichtige Landstraßen und Autobahnen wurden blockiert und es gab friedliche Protestmärsche, aber auch Eskalationen und Zusammenstöße mit den Ordnungskräften sowie Plünderungen von Geschäften. Die Polizei reagierte dabei in einigen spektakulären Fällen mit übertriebener Gewalt gegenüber Bauern und Reportern.

Die materiellen Schäden beliefen sich auf ca. 700 Millionen Pesos täglich. Dabei sind noch nicht die indirekten Schäden des Gesundheits- und Bildungssektors berücksichtigt, die von den Folgen des Streiks betroffen sind.

Die Beschwerden u.a. der Kaffeebauern, der Kakao-und Kartoffelbauern, der Reisbauern, Viehzüchter und milchverarbeitenden Betriebe wendeten sich vor allem gegen die geringen Preise, den mangelnden internen Konsum und das Fehlen von Subventionen. Nach Inkrafttreten des Freihandelsabkommens mit den USA merkten viele Landwirte erst, welche Auswirkungen diese neuen Bestimmungen und Auflagen für sie mit sich brachten. So ist es ihnen nach Aussagen von Bauernführern z.B. unter Androhung von Geldstrafen verboten, einen Teil der Ernte zurückzubehalten und die Samen für die neuen Anpflanzungen zu verwenden, wie sie es seit Jahrhunderten gewohnt sind; stattdessen müssten sie nun neue Samen, zusammen mit modernen Düngemitteln und Pflanzenschutzmitteln bei nationalen oder internationalen Firmen kaufen. Das verteuere die Produktion, und in einigen Fällen seien die ausländischen Produkte nicht einmal für kolumbianische Klima- und Bodenverhältnisse geeignet.

Unterschiedlichste Forderungen bis hin zur Legalisierung des Koka-Anbaus

Im Laufe des Streiks schloss sich dann auch eine ganze Region, der Catatumbo im Nordosten Kolumbiens, für 53 Tage dem Streik an. Die Bewohner forderten die von Landwirten für Landwirte formulierte Erfüllung einiger Grundbedürfnisse, wie die Erlaubnis Koka-Pflanzen legal anbauen zu dürfen und beschwerten sich über die Vernachlässigung durch den Staat. Außerdem verlangten die Bauern die Unterstützung durch alternative Entwicklungsprojekte und die Umwandlung ihres Territoriums zu einer “zona de reserva campesina” (Agrar-Reservat). Dabei handelt es sich um eine Gebietseinheit, in der die Nutzung und das Eigentum von Grund und Boden gleichen Bedingungen unterworfen sind. Letztendlich schlossen sich dann noch die kleinen und mittleren Bergbaubetriebe und die Transportunternehmer dem Streik an.

Regierung reagiert hilflos und ungeschickt

Angesichts der sich immer weiter entwickelnden Proteste zeigte sich die Regierung Santos zwar zu Verhandlungen bereit, hat jedoch bis August immer eine eher distanzierte Haltung eingenommen. Das zeigte sich vor allem in der Tatsache, dass Santos es vermieden hat, sich direkt mit den Demonstranten zu treffen und es anfangs vorzog, eine Abordnung zu den Verhandlungen zu schicken. Oder, wie es der ehemalige Präsident Gaviria ausdrückte "Santos macht sehr wenig Politik, und die Leute fühlen nicht, dass er ihnen nahesteht".

Nachdem der Generalstreik ausgerufen und bereits fortgeschritten war, wurden der Innenminister und der Landwirtschaftsminister in die Regionen geschickt, um mit den Vertretern der Landwirte zu verhandeln. Die Regierung erkannte, dass es wohl ein Fehler war, das Ausmaß des Problems zu unterschätzen und dass es notwendig sei, eine Verhandlungsrunde einzuberufen. Trotzdem verkündete der Präsident Tage später, dass ein Generalstreik in dem Sinne nicht existiere, sondern dass es sich lediglich um einzelne isolierte Demonstrationen handele. Dies rief noch mehr Empörung unter den Demonstranten und anderen Sektoren hervor, die sich daraufhin auch dem Streik anschlossen.

Die Regierung wurde auch scharf kritisiert, weil sie versuchte, illegale Gruppierungen für die Demonstrationen verantwortlich zu machen. So erkannte z.B. der Verteidigungsminister am Abend des 29. August in einer Fernsehansprache zwar an, dass es legitime und friedfertige Demonstrationen gegeben habe, betonte aber sofort die Einschleusung von Guerilleros der FARC.

Am 19. August erreichten die Proteste dann auch die Hauptstadt Bogotá, wo Tausende (die Zahlen schwanken nach Medienberichten zwischen 45.000 und 100.000 Personen) ihre Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen und sozialen Lage und der Haltung der Regierung zeigten und auf die Straße gingen. In Bogotá wie auch in anderen Städten des Landes marschierten sowohl Studenten, als auch Gewerkschafter und Vertreter anderer Sektoren, wie z.B. Banksektors. Dabei kam es zu Ausschreitungen und schweren Konfrontationen zwischen den Demonstranten und der Polizei, wobei auch Fälle von Machtmissbrauch von Seiten der Ordnungskräfte zu beobachten waren, wie z.B. Übergriffe auf Reporter. Das Ergebnis waren Tote und Verletzte auf beiden Seiten. Allein in Bogotá kamen zwei jugendliche Demonstranten und ein Polizist ums Leben; außerdem gab es 200 Verletzte, unter ihnen 37 Polizisten. Die Polizeikräfte in der Hauptstadt wurden mit 8.500 Soldaten verstärkt. Landesweit wurden 50.000 Militärs zur Wiederherstellung der Ordnung eingesetzt.

Jüngste Entwicklungen

Die Regierung beschloss letztendlich, mit den Vertretern der einzelnen Sektoren und Regionen separat zu verhandeln, was als Schwäche beider Parteien angesehen wurde. Es hat den Anschein, dass weder die Regierung noch die Vertreter des Landwirtschaftssektors gewöhnt sind, einen strittigen Dialog zu führen und Abkommen bzw. Kompromisse zu schließen. Der letzte Streik in dieser Größenordnung mit Auseinandersetzungen und Toten fand Ende der siebziger Jahre im letzten Jahrhundert statt. Als Vorbedingung hatte Santos darauf bestanden, dass zuerst alle Blockaden aufgehoben werden müssten, bevor die Regierung sich mit den Streikenden an den Verhandlungstisch setzt. Dies wurde von einigen Sektoren auch akzeptiert.

Und auch wenn im Moment noch nicht von einem Ende des Streiks gesprochen werden kann, so gab es doch einige Erfolge bei den Verhandlungen zwischen der Regierung und einzelnen protestierenden Gruppen. Im Department Nariño (im Südwesten des Landes) sind die Bauern, die die Hauptverkehrswege blockiert hatten, zu einer Übereinkunft mit der Regierung gekommen - vor allem die Milch-produzierenden Betriebe. Dabei besteht der Hauptpunkt dieses Abkommens im Aufkauf von 40.000 Litern Milch durch die Regierung, um sie in den Verpflegungsprogrammen dieser Zone zu verwenden.

Ein Abkommen konnte auch mit den kleinen und mittleren Bergbaubetrieben erzielt werden. Dabei hat ein Ausschuss des Kongresses zugesagt, einen Gesetzesentwurf zur Regulierung des bisher informellen, nicht legalisierten Abbaus von Bodenschätzen vorzulegen. Dieser Entwurf umfasst Themen wie die Formalisierung dieser Aktivität, die Anerkennung der überlieferten traditionellen Abbaumethoden vor allem durch indigene Bevölkerungsgruppen und die Zusage, dass keine weiteren Maschinen dieser kleinen Bergbaubetriebe durch die staatlichen Ordnungskräfte zerstört werden, solange sie nicht in kriminelle oder illegale Aktivitäten verwickelt sind. Trotzdem geht der Streik in verschiedenen Regionen des Landes weiter.

Was muss in Zukunft in Kolumbien verbessert werden?

"Kolumbien erlebt eine ähnliche Situation/Entwicklung wie Venezuela", war einer der Kommentare des ehemaligen kolumbianischen Präsidenten Uribe in Twitter als Reaktion auf die Entwicklung. Und obwohl man die Situation in den beiden Ländern nicht miteinander vergleichen kann und einige politische Sektoren versuchen, die aktuellen Probleme für die Wahlen in 2014 ausnutzen, ist es doch richtig, dass Kolumbien momentan eine soziale und politische Krise durchmacht.

Präsident Santos kam im Jahre 2010 mit Reformplänen und Strategien zur Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen des Landes an die Macht; ein Beweis dafür sind die im Entwicklungsplan formulierten Vorschläge. Aber die aktuelle Regierung kann keine konkreten Erfolge bei der Lösung von Problemen aufweisen, die sich durch Jahrzehnte akkumuliert haben und in letzter Zeit durch das Inkrafttreten der Freihandelsabkommens TLC mit den USA und Europa noch verschärft wurden. So hat sich z.B. ein Ungleichgewicht der Bedingungen der kolumbianischen Produzenten und Händler im Vergleich mit viel weiter entwickelten Ländern gezeigt, mit denen sie nun in Wettbewerb treten müssen. Die Entwicklungspolitik für die ländlichen Gebiete und den Agrarsektor, die Santos vorgeschlagen hatte, glänzt durch die Abwesenheit konkreter Ergebnisse.

Die größte Herausforderung für die Regierung Santos wird es zunächst sein, verhältnismäßig auf die Forderungen der Streikenden zu reagieren und anzufangen, Resultate zu produzieren. Die aktuelle Lage würde eine gute Möglichkeit darstellen, die verschiedenen Problematiken anzugehen, die in Kolumbien jahrzehntelang ignoriert wurden und die immer offensichtlicher werden. Die Notwendigkeit einer strukturellen Antwort auf die Mängel in der ländlichen Entwicklung in Kolumbien zeigt sich nämlich nicht nur in den sozialen Forderungen des Landes, sondern auch in der Konstruktion eines dauerhaften Friedens. Nicht umsonst ist der erste Punkt der Verhandlungsagenda mit der FARC in Havanna das Thema „Grund und Boden/Landverteilung“. Präsident Santos könnte somit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, wenn er das Thema ländliche Entwicklung zur Chefsache erklärte.

Ein weiteres Thema, das auch seit Jahrzehnten vernachlässigt wird und auf das die Regierung mit konkreten Maßnahmen reagieren sollte, ist die soziale Ungleichheit im Land an sich. Das Ungleichgewicht macht sich auch zwischen Städten und Landgemeinden bemerkbar: die 10 größten Städte wachsen und können als Entwicklungszentren bezeichnet werden, während 800 der insgesamt 1.102 Gemeinden eine Armutsquote von über 66 Prozent aufweisen. Es reicht nicht, positive makroökonomische Werte zu veröffentlichen, wie z.B. das Wachstum des BIP, wenn diese sich nicht in einer höheren Lebensqualität für eine breite Mehrheit der Menschen und mehr sozialer Gerechtigkeit widerspiegeln. Man darf auch nicht nur die Arbeitslosenquote sehen, sondern es müssen auch Maßnahmen ergriffen werden, um die Qualität der Arbeitsplätze zu verbessern, das heißt z.B. auch, die „informelle“ Arbeit ohne jede soziale Sicherheit oder Anspruch auf Altersversorgung auf ein Minimum zu reduzieren.

Die Rückständigkeit in der Infrastruktur, besonders des Straßennetzes muss behoben werden, nicht nur, weil diese eng mit den Vertriebsproblemen vieler Produkte verknüpft ist und ernsthafte Schwierigkeiten für die lokalen Hersteller beim Eintritt in internationale Märkte darstellt, sondern auch, weil sie die Unfähigkeit des Staates zeigt, seine Präsenz im ganzen Staatsgebiet zu zeigen.

Und was macht die Politik? - Funktioniert das System noch?

Die aktuelle Situation beweist auch die Unfähigkeit des politischen Systems in Kolumbien und vor allem der politischen Parteien des Landes, wirklich auf die Forderungen der Gesellschaft zu reagieren. Nach Ansicht von politischen Analystenn ist die Tatsache, dass so viele verschiedene Sektoren der Gesellschaft sich gleichzeitig mobilisieren und protestieren, um Druck auszuüben, zu verhandeln und Maßnahmen zur Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation in Gang zu bringen, ein weiteres Anzeichen dafür, dass die Mechanismen der repräsentativen Demokratie in Kolumbien nicht effizient genug sind.

Angesichts der Protestwelle haben die politischen Parteien zwei generelle Positionen eingenommen: der größte Teil der Parteien hat die Regierung und ihre Reaktion der “Autorität und Kontrolle” unterstützt – so z.B. die Partido de la U, die Partido Liberal, die Konservative Partei (Partido Conservador - PCC), Cambio Radical und die Partido Verde. So wurde z.B. im jüngsten Communiqué der Koalitionsparteien der „Unidad Nacional“ die Reaktion von Präsident Santos auf den Streik befürwortet: “Die sozialen Bewegungen, deren Forderungen durchaus legitim sind, werden von gewalttätigen Gruppierungen unterwandert und von politischen Kräften manipuliert“. Andere haben sich distanziert und scharfe Kritik an der Regierung geübt, so z.B. der Polo Democrático Alternativo und die Uribe-nahe Bewegung Centro Democrático.

Obwohl es zweifellos richtig ist, dass es eine Beteiligung der Guerilla an einigen Protestkundgebungen gab und es dabei in einigen Fällen auch zu Gewalteskalation gekommen ist, könnte es die Regierung bzw. an der Regierung beteiligten Parteien politisch teuer zu stehen kommen, wenn sie der FARC die Fähigkeit zuspricht, einen solchen Generalstreik zu organisieren; dies vor allem zu einem Zeitpunkt, wo Friedensverhandlungen mit dieser Guerillagruppe in Havanna geführt werden. Gleichzeitig entmündigen die Regierung und die Parteien damit aber auch ihre Bürger und sprechen ihnen die Fähigkeit ab, durch einen Streik auf ihre Probleme aufmerksam zu machen.

Insgesamt kann gesagt werden, dass die politischen Parteien momentan keine klare und umfassende programmatische Alternative vorweisen können, um der Krise entgegen zu treten und sich darauf beschränken, kurzfristige oder punktuelle Maßnahmen vorzuschlagen, die lediglich auf die aktuelle soziale und ländliche Problematik in Kolumbien reagieren.

Wie geht es weiter?

Es ist nicht wahrscheinlich, dass die vielfältigen Demonstrationen, die auf einer generellen sozialen Unzufriedenheit beruhen, kurzfristig geschlichtet werden können. Obwohl der Streik nicht mehr dieselbe Intensität hat, wie in den Tagen als die Protestwelle Bogotá erreichte, werden dennoch einige Sektoren und Regionen noch einige Wochen länger im Ausstand bleiben. Es sei denn, die Regierung ist dazu in der Lage, effizient auf ihre Forderungen zu reagieren. Bis jetzt sind allerdings noch keine klaren Bemühungen in dieser Richtung zu beobachten.

In ihren Reden erkennen sowohl die Regierung als auch einzelne Sektoren an, dass die aktuelle Situation ein Symptom für strukturelle Probleme ist, deren Ursprung weit in der Vergangenheit liegt. Plötzlich proklamiert Präsident Santos, dass die Krise als Chance gesehen werden müsse, das enorme Potential des Agrarsektors in einen Promotor für soziale Gerechtigkeit und Wohlstand umzuwandeln.

Aber die Maßnahmen, die die Verhandlungsführer der Regierung vorschlagen und die Politik der Regierung Santos der letzten drei Jahre, lässt insgesamt keine Intention erkennen, die dringend notwenigen klaren strukturellen Reformen anzugehen. Selbst der Gesetzesentwurf zur territorialen Ordnung und Landverteilung, der eigentlich ein Aushängeschild der Politik dieser Regierung sein sollte, um die Entwicklung in den ländlichen Regionen in einer umfassenden Form zu fördern, blieb im Mechanismus einer vorherigen geplanten Volksbefragung in den betroffenen Regionen stecken.

Während Santos einerseits davon spricht, eine Agrarpolitik zu entwickeln und zu fördern – wobei er zugibt, dass sie bislang nicht existiert hat – und einen großen „Pacto Nacional“ (Nationalen Pakt) für den Agrarsektor und die ländliche Entwicklung abzuschließen, schlägt er auf der anderen Seite Maßnahmen vor, die von vielen politischen Analysten als wenig effiziente Versprechungen angesehen werden, die viel Zeit in Anspruch nehmen würden und vielfach nicht haltbar sind. Der o.g. Aufkauf von Milch für soziale staatliche Einrichtungen zur Ernährung bedürftiger Kinder kann z.B. nicht als effiziente Strategie zur Förderung des Agrar-Sektors bezeichnet werden.

Fazit

Die Proteste in Kolumbien sind sowohl mit den zur Lösung anstehenden aktuellen Problemen, als auch mit strukturellen Problemen verbunden, auf denen u.a. auch der bewaffnete Konflikt in Kolumbien beruht. Bei aller Komplexität der Probleme und trotz der zu Ende gehenden Legislaturperiode, bestünde prinzipiell eine gute politische Möglichkeit, umfassende Reformen zur Lösung von Problemen zu verwirklichen, die bisher nicht angegangen wurden und deren Lösungsdruck unter der Gewaltsituation des Landes immer dringlicher geworden ist. Ob die politische Elite des Landes, unabhängig von bestimmten Parteien, dieses jedoch will, darf bezweifelt werden. Wird weiter nicht gehandelt, besteht mittelfristig die Gefahr, dass sich die Proteste ausweiten, die Situation sich verschlimmert und radikale Kräfte die Lage ausnutzen könnten. Im anstehenden Wahlkampf für die Wahlen 2014 wird die eine oder andere politische Seite versuchen, die prekäre Lage zum Stimmenfang auszunutzen. Präsident Santos ist gefordert seine Trutzburg Bogotá zu verlassen und die Menschen in den ländlichen Regionen zu besuchen und dort für Kompromisse und Reformen zu werben. Dabei könnte er sich den einen oder anderen Tipp von seinem Vorgänger Alvaro Uribe holen. Dieser wird von vielen seiner Landsleute noch heute verehrt, u.a. weil er sich nie scheute mit dem einfachen Mann auf der Straße zu sprechen- auf gleicher Augenhöhe. Die Zeiten, in denen ein quasi feudalistisches System in Kolumbien über Jahrzehnte und Jahrhunderte ohne Murren von der armen Landbevölkerung akzeptiert worden ist, gehen auch in Kolumbien seinem Ende entgegen.

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