Steuerreform und Ursachen der Proteste
Nachdem die Regierung von Staatspräsident Ivan Duque dem Parlament eine Steuerreform vorgelegt hatte, um die infolge der pandemiebedingten Wirtschaftskrise leeren Staatskassen zu füllen, riefen Gewerkschaften und Organisationen der Zivilgesellschaft für den 28. April zu landesweiten Protesten auf. Dass die Erhöhung der staatlichen Einnahmen dringend notwendig ist, auch um die verschiedenen Unterstützungsprogramme für arme und von der Pandemie besonders betroffene Bevölkerungsschichten weiter zu finanzieren, wird selbst in den Reihen der Opposition nicht in Frage gestellt. Doch der Inhalt des 110-seitigen Gesetzesvorschlags, den Finanzminister Alberto Carrasquilla unter dem Titel „Gesetz der Nachhaltigen Solidarität“ (Ley de Solidaridad Sostenible) vorgestellt hatte, stieß auf heftige Kritik. Geplant war die Ausweitung der Steuerbasis, die Absenkung der Einkommensgrenze, ab der eine Steuererklärung abzugeben ist, sowie eine massive Reduzierung von Freibeträgen und Ausnahmen von der Mehrwertsteuer, die zu deutlichen Belastungen, insbesondere bei ärmeren Schichten und der Mittelschicht, geführt hätte. Die Steuerreform war jedoch nicht die eigentliche Ursache der massiven Sozialproteste, sondern nur deren Auslöser.
Schon im Herbst 2019 hatten die Gewerkschaften zu Streiks aufgerufen, um gegen die soziale Ungerechtigkeit, die schleppende Umsetzung des Friedensabkommens mit den FARC und die anhaltende Gewalt gegen die sogenannten lideres sociales - Menschenrechtsverteidiger, Umweltschützer und lokale Interessenvertreter - zu protestieren. Die Protestwelle, die ebenfalls schon von gewaltsamen Auseinandersetzungen begleitet war, wurde von der Pandemie gebremst. Ein begonnener „nationaler Dialog“ zwischen Regierung und dem Streikkomitee brachte keine greifbaren Ergebnisse und verlief im Sand. Ein Video von einem besonders brutalen Polizeieinsatz, bei dem Javier Ordóñez in Bogotá nach seiner Festnahme von Polizeibeamten getötet wurde, führte im September 2020 erneut zu tagelangen Protesten und Straßenschlachten, in deren Rahmen es zu zahlreichen Verletzten und massiver Zerstörung von Polizeistationen und Einrichtungen des öffentlichen Nahverkehrs kam. Zwar wurden die verantwortlichen Beamten später vor Gericht gestellt, doch das harte Vorgehen der Polizei gegen die Demonstrationen und die öffentliche Rückendeckung Präsident Duques für die Sicherheitskräfte verfestigten nicht nur bei regierungskritischen Gruppen den Eindruck, die Regierung toleriere zwar den brutalen und exzessiven Gewalteinsatz der Polizei, nicht aber legitime Proteste der kolumbianischen Bürger. Dieses Muster setzt sich bis heute fort und bildet ein wichtiges Hintergrundmotiv des aktuellen Konflikts in Kolumbiens Straßen.
Die durch die Steuerreform ausgelösten Sozialproteste sind zugleich Ausdruck eines explosiven Krisencocktails. Die Pandemie hat neben 75.000 Toten und einer Überlastung des Gesundheitssystems zu einer verheerenden Sozial- und Wirtschaftskrise geführt. Offiziellen Statistiken zufolge ist im Pandemiejahr 2020 die Armut um drei Millionen Personen angestiegen, so dass nun 42,5 Prozent der Kolumbianer unter der Armutsgrenze leben, die in Kolumbien mit ca. 72 Euro Monatseinkommen definiert ist. Die extreme Armut (Monatseinkommen unter 32 EUR) hat um ein Drittel zugenommen und liegt bei 15 Prozent.[1] 21 von 50 Millionen Kolumbianern können ihre Grundbedürfnisse nicht decken; bei weit über sieben Millionen reicht das Einkommen nicht einmal für den täglichen Nahrungsbedarf. Auch die Ungleichheit in Kolumbien, das ohnehin schon weltweit zu den Ländern mit der höchsten Ungleichheit zählt, hat sich im Pandemiejahr weiter verschärft. Der Gini-Index stieg von 0,52 auf 0,54 und erreicht damit einen historischen Höchstwert. Die Statistikbehörde und Wirtschaftsinstitute berechneten zwar auch, dass die Unterstützungsprogramme der Regierung in der Pandemie einen noch stärkeren Anstieg der Armut verhindert haben, dennoch ist die Entwicklung verheerend.
Verschärft wird diese Wirtschafts- und Sozialkrise durch die anhaltende Migrationskrise. 1,8 Millionen venezolanische Migranten befinden sich nach offiziellen Angaben inzwischen in Kolumbien. Viele von ihnen leben ebenfalls in äußerst prekären Verhältnissen und dürften von den offiziellen Armutsstatistiken noch nicht einmal erfasst sein. Auch wenn derzeit ein von der Regierung Duque eingeleiteter Legalisierungsprozess läuft, so befinden sich Hundertausende Flüchtlinge noch in der Illegalität. Ein Großteil der Venezolaner ist auf staatliche Unterstützung angewiesen und belastet das staatliche Sozial- und Gesundheitswesen zusätzlich. Im informellen Arbeitsmarkt und dem Niedriglohnsektor findet zudem ein harter Verdrängungswettbewerb zwischen Migranten und Kolumbianern statt. Angesichts der explodierenden sozialen Frage lassen sich zunehmend fremdenfeindliche Tendenzen beobachten. So machte u.a. der Bürgermeister von Cali, der drittgrößten Stadt Kolumbiens, Teile der Migrantengemeinde für Plünderungen und Gewalt im Kontext der aktuellen Proteste verantwortlich.
Diese Multikrise sowie die in monatelanger Quarantäne aufgestaute Wut und Ohnmacht über soziale Missstände, Gewalt und Straflosigkeit in breiten Schichten der Bevölkerung bildeten zusammen ein Pulverfass, das mit der Ankündigung der Steuerreform explodierte. Dies erklärt auch, warum die landesweiten Proteste und gewaltsamen Auseinandersetzungen völlig unbeeindruckt vom Rückzug der Steuerreform und dem Rücktritt des Finanzministers am 3. Mai fortgeführt wurden und sich weiter verschärften.
Erschütternde Bilanz nach Tagen des Protests
Nach fast zwei Wochen ununterbrochener Massenproteste ist die Bilanz erschütternd. Denn die weitgehend friedlichen und kreativen Demonstrationen wurden auch von massiven Auseinandersetzungen, Plünderungen, Gewalt und Chaos begleitet. In den sozialen Netzwerken kursieren mittlerweile Hunderte von Videos, die den unverhältnismäßigen und exzessiven Einsatz von Polizeigewalt gegen Protestteilnehmer dokumentieren. Gleiches gilt für die blinde Zerstörungswut und brutalen Attacken auf die staatlichen Sicherheitskräfte durch Gewaltakteure aus den Reihen der Protestbewegung. Die Nichtregierungsorganisation Indepaz (Instituto de Estudios para el Desarrollo y la Paz) registrierte nach zehn Protesttagen 47 Todesopfer, darunter ein Polizist. Für 39 Tote macht die Organisation exzessive Polizeigewalt verantwortlich. Zudem registrierte die Organisation über 500 verschwundene Personen. Das kolumbianische Außenministerium informierte die internationale Gemeinschaft am 7. Mai offiziell über Personen-und Sachschäden infolge der gewaltsamen Proteste. Berichtet wurden Hunderte von verletzten Zivilisten (387) und Polizisten (769), 254 zerstörte Geschäfte und 199 zerstörte Busse des öffentlichen Nahverkehrs und fast 7000 Vorfälle mit Schuss- und Stichwaffen. Zudem wies das Außenministerium eindringlich auf die verheerenden Folgen der seit Tagen anhaltenden Straßenblockaden hin. Regionen und Städte wie Cali waren und sind weitgehend von der Versorgung mit Lebensmitteln, Benzin und Medikamenten abgeschnitten. 300 Tonnen Sauerstoff konnten nicht an die Krankenhäuser ausgeliefert werden, deren voll belegte Intensivstationen mitten in der dritten Pandemiewelle am Rande der Belastungsgrenze arbeiten.
Epizentrum der Gewalt ist die Stadt Cali. Allein hier forderten die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und gewalttätigen Protestteilnehmern Indepaz zufolge 35 Todesopfer. Die Lage ist äußerst unübersichtlich. Anwohner berichten von innerstädtischen Straßensperren, an denen illegaler Wegzoll erhoben wird. Die Polizei feuerte scharf auf Protestteilnehmer, was von anwesendem UN-Personal und Partnerorganisationen, die selbst unter Beschuss gerieten, bezeugt wurde. Umgekehrt wurde auch die Polizei mit Schusswaffen angegriffen, was Regierungsvertreter auf die Präsenz der Stadtguerilla von ELN, FARC-Dissidenten und kriminelle Banden zurückführen. Am Wochenende vermeldete die Polizei die Festnahme eines gesuchten ELN-Chefs „Alias Lerma“ in einem Stadtteil Calis. Man habe Beweise gefunden, dass „Alias Lerma“ einen Sprengstoffanschlag auf Demonstranten geplant habe, um anschließend die Polizei verantwortlich zu machen und damit die Proteste weiter anzuheizen, teilten Polizeisprecher mit.
Ein Teil der Bewohner Calis sieht sich infolge der Dauerblockade der Stadt und der Straßensperren von den Protestteilnehmern in Geiselhaft genommen. Nachbarschaften bewaffnen sich, um sich gegen Plünderer zu schützen und die Blockaden zu durchbrechen. Videos zeigen bewaffnete Zivilisten in teuren Geländewagen mit verdeckten Nummernschildern, die auf an Straßenbarrikaden beteiligte Personen feuern. Die Ankunft von Bussen mit indigenen Protestteilnehmern am Sonntag ließ die Lage weiter eskalieren. Videos und Augenzeugenberichte belegen, dass bewaffnete Personen auf die Busse schossen. Bewohner, die die Durchfahrt der Busse blockieren wollten, wurden ihrerseits mit Macheten bedroht und mit Feuerwerkskörpern angegriffen. Der Erzbischof von Cali, Darío de Jesús Monsalve, machte die Präsenz von paramilitärischen Gruppen, kriminellen Banden und bewaffneten Bürgerwehren für die Spirale der Gewalt verantwortlich und rief alle Beteiligten dazu auf, auf den Einsatz von Waffen zu verzichten und das Recht auf friedliche Proteste zu garantieren. Obwohl es gelang, unter Vermittlung der katholischen Kirche und internationaler Organisationen humanitäre Korridore zur Versorgung der Stadt einzurichten, bleibt die Lage extrem angespannt. Dass Präsident Duque das Militär beauftragt hat, die Polizei bei der Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Auflösung der Straßenblockaden zu unterstützen, trägt ebenfalls nicht zu einer Deeskalation der Lage bei.
Auch in der Hauptstadt Bogotá kam es im Rahmen der Proteste zu Toten, Verletzten und massiver Beschädigung der städtischen Transport- und Infrastruktur. Die Hauptzufahrtstraßen sind ebenfalls seit Tagen blockiert. Rund ein Drittel der knapp 150 Stationen des innerstädtischen Schnellbussystems TransMilenio sind komplett zerstört und außer Betrieb. Die Betreiber schätzen den Schaden auf rund 2,4 Millionen Euro. Eine halbe Million Hauptstadtbewohner muss daher auf teurere private Transportmittel zurückgreifen oder lange Fußwege in Kauf nehmen. Die Hauptstadtbürgermeisterin Claudia Lopez, welche die friedlichen Proteste unterstützte, kritisierte die Zerstörungen und die anhaltenden Blockaden scharf. Das Demonstrationsrecht von 1000 Personen, welche die Blockaden durchführten, steigere die Arbeitslosigkeit und verteure die Lebensmittelpreise für 8 Millionen Bogotaner, twitterte sie. Zudem kritisierte sie, dass diejenigen, die sich mit den Protesten Gehör verschaffen wollten, sich in der Praxis nicht an den von der Stadtverwaltung eingerichteten Dialogforen beteiligen würden, um konstruktive Lösungen zu finden. Im Schatten der Proteste nimmt auch der Pandemieverlauf in der Hauptstadt dramatische Ausmaße an. In einem eindringlichen Appell warnte Lopez am Montagabend angesichts der hohen Auslastung der Intensivstationen vor einem Kollaps des städtischen Gesundheitssystems und bat die Bürger um die Einhaltung der notwendigen Schutzmaßnahmen.
Auch in anderen Regionen und Städten wurden friedliche Proteste von Gewalt überschattet. In Pereira, Weltkulturerbe und wichtiges Zentrum der bei Touristen beliebten Kaffeezone, wurde Lukas Villa, ein Hauptakteur der regionalen Studentenbewegung, bei einer friedlichen Straßenblockade aus einem Wagen heraus von unbekannten Attentätern mit acht Schüssen schwer verletzt. Nach tagelangem Ringen um sein Leben mussten die behandelnden Ärzte ihren Patienten schließlich für hirntot erklären. Die besondere Skrupellosigkeit und Brutalität der Ermordung eines friedlich protestierenden jungen Menschen führte in der Öffentlichkeit zu Trauer und Fassungslosigkeit. Über mögliche Täter und Hintergründe wird eifrig spekuliert. In einer Sprachnachricht, die per Whatsapp zirkulierte, hatten Unbekannte, die im paramilitärischen Spektrum vermutet werden, zuvor gedroht, die Straßenblockaden anzugreifen.
Die Ermordung von Lukas Villa symbolisiert wie die Stadt Cali auf tragische Weise den gefährlichen Cocktail, der sich auf Kolumbiens Straßen zusammenbraut und der viele Gewaltakteure der über fünfzigjährigen Konfliktgeschichte wieder auf den Plan ruft: Guerilla, ELN, FARC-Dissidenten, Drogenkartelle, kriminelle Banden, Paramilitärs und bewaffnete Bürgerwehren. Die Konfliktlinien verlaufen nicht nur zwischen staatlichen Sicherheitskräften und Protestbewegung, sondern verschwimmen zusehends. Die teilweise exzessive und durch nichts zu rechtfertigende Polizeigewalt ist ein wichtiges Element des aktuellen Konflikts, aber längst nicht das einzige.
Fake News und Kampf um die Deutungshoheit
Genauso erbittert wie auf den Straßen wird der Konflikt in den sozialen Netzwerken ausgetragen. Unablässig laden sowohl Protestteilnehmer als auch Kritiker der Proteste Videos hoch, um die Gewalt der jeweils anderen Seite zu dokumentieren. Die Akteure versuchen so, die eigene Gewalt zu legitimieren und die öffentliche Meinung sowie die Perspektive der internationalen Gemeinschaft zu beeinflussen. Während Präsident Duque in den ersten Tagen der Protestwelle den Polizeikräften vorbehaltlos den Rücken stärkte und selbst schwerwiegende Vorfälle von exzessiver Polizeigewalt in öffentlichen Statements unerwähnt ließ, machten Streikführer und linke Oppositionspolitiker ausschließlich die Regierung und staatliche Sicherheitskräfte für die Eskalation der Gewalt verantwortlich, indem sie die Zerstörung der öffentlichen Infrastruktur und gezielte Angriffe auf die Polizei herunterspielten. Ein Kampf um die Narrative entbrannte. Regierungsanhänger und weite Teile der gesellschaftlichen Elite blendeten die legitimen Hintergründe der überwiegend friedlichen Proteste aus und nutzten Vorfälle von Plünderungen und Vandalismus als Vorwand, um die gesamte Protestbewegung als Krawallmacher oder sogar Terroristen zu kriminalisieren. Die Gegenseite strickte derweil am Narrativ der friedlichen Protestbewegung, die von einem repressiven Staat brutal niedergeschlagen wird. Beide Versionen gehen an der Wahrheit vorbei, die viel komplexer ist.
Die Schlacht um die Deutungshoheit wird in den sozialen Netzwerken auch mit gezielten Fehlinformationen und manipulierten Videos ausgetragen. Portale wie der Lügendetektor der bekannten Nachrichtenplattform La Silla Vacia oder die Inititive Colombia Check deckten Falschinformationen und manipulierte Videos auf: Auf Facebook kursierende Bilder von Leichensäcken, die nachts vermeintlich in Siloé, einem Brennpunkt der Gewalt in Cali, heimlich auf einen Transporter verladen werden, stellten sich als manipuliert heraus. Die Bilder stammen aus Caracas. Ein Abgeordneter des Regionalparlaments von Antioquia twitterte das Bild eines mit schweren Brandwunden übersäten Jugendlichen, der angeblich von der mobilen Einsatzpolizei ESMAD verbrannt worden sein soll. Tatsächlich konnte nachgewiesen werden, dass es sich um einen Unfall handelte. Senator Roy Barreras twitterte ein Video, auf dem angeblich zu sehen ist, wie eine Person in Bucaramanga im Vorbeifahren von einem Motorradpolizisten von hinten erschossen wird und schrieb von „kaltblütigem Mord“. La Silla Vasilla konnte verifizieren, dass die Person zwar geschlagen, aber nicht erschossen wurde. Als Falschmeldungen entpuppten sich auch ein angeblicher Tweet des linken Präsidentschaftskandidaten Gustavo Petro, in dem zu Angriffen auf die Polizei sowie zur Zerstörung von Polizeistationen aufgerufen wird, sowie ein gefälschtes Dekret, in dem Präsident Duque den inneren Notstand erklärt und zusätzliche Kompetenzen an sich zieht. Als falsch stellte sich auch die in internationalen Medien aufgenommene Meldungen heraus, Teilnehmer einer Straßenblockade seinen aus der Luft von einem Polizeihubschrauber beschossen worden. Auch wenn solche Meldungen zeitnah als Fake News enttarnt werden, werden sie tausendfach weitergeteilt und tragen damit zur Eskalation des Konflikts bei.
Während in den ersten Tagen der Proteste und Ausschreitungen vor allem die Polizeigewalt im Mittelpunkt der nationalen und internationalen Medienberichterstattung stand und erste internationale Stellungnahmen von UN, EU oder einzelnen Abgeordneten des deutschen Bundestags vor allem die Rolle der kolumbianischen Regierung und der staatlichen Sicherheitskräfte kritisch in den Fokus rückten, wirkt das Meinungsbild inzwischen ausgeglichener. Die UN in Kolumbien rief in ihrer jüngsten Stellungnahme dazu auf, das Recht auf friedlichen Protest zu schützen und von staatlicher Seite keine disproportionale Gewalt einzusetzen; zugleich unterstrich die UN die Notwendigkeit, den friedlichen Charakter der Demonstrationen zu wahren sowie den Nahrungsmittelzugang und die ärztliche Versorgung sicherzustellen. Die nun seit fast zwei Wochen andauernden Blockaden von Städten und wichtigen Verkehrsverbindungen mit dramatischen Folgen für die Versorgungssituation stößt national und international auf immer stärkere Kritik.
Verhandlungen als Ausweg aus der Krise?
Ob Verhandlungen einen Ausweg aus der Krise bringen, ist noch ungewiss. Ein erstes Treffen zwischen Regierung und Streikkomitee am 10. Mai verlief ergebnislos. Während die Regierung von einer Annäherung der Positionen sprach, erklärten Vertreter der Protestbewegung, Präsident Duque sei nicht bereit, die exzessive Polizeigewalt zu kritisieren und konkrete Zugeständnisse zu machen. Der Forderungskatalog des Streikkomitees umfasst sieben Punkte: 1. Rückzug der Gesundheitsreform und Beschleunigung des Impfprozesses, 2. Grundeinkommen für arme Familien in Höhe des Mindestlohns, 3. Schutz und Förderung der nationalen Agrar- und Industrieproduktion, staatliche Unterstützung von Kleinstunternehmen sowie Stärkung der heimischen Nahrungsmittelproduktion und -versorgung, 4. Freie Bildung, 5. Schutz vor Diskriminierung wegen Geschlecht, sexueller Neigung oder ethnischer Zugehörigkeit, 6. Die Rücknahme einer Arbeitsmarktreform (Dekret 1174), 7. Einstellung der Programme zur Vernichtung von Kokaplantagen durch manuelles Herausreißen der Pflanzen oder Besprühen mit Pflanzenvernichtungsmitteln aus der Luft. Nach Berechnungen verschiedener Wirtschaftsexperten würden diese Forderungen, insbesondere das Grundeinkommen und die verschiedenen Subsidien, jedoch ein Vielfaches der rund 3 Milliarden EUR kosten, die die Regierung mit der geplanten Steuerreform ursprünglich einnehmen wollte. Angesichts der umfassenden Forderungen und der aktuellen Haushaltslage ist eine rasche Einigung und damit ein Ende der Proteste nicht in Sicht. Erschwerend kommt hinzu, dass die Protestbewegung sehr heterogen ist und auf regionaler und lokaler Ebene weitere Forderungen gestellt werden.
Fazit und Perspektiven
Die Vorlage einer wirtschaftlich notwendigen, aber politisch denkbar schlecht vorbereiteten und kommunizierten Steuerreform mitten in der Pandemie hat die schon lange angestaute Wut und soziale Unzufriedenheit wieder offen ausbrechen lassen. Die Haltung der kolumbianischen Regierung, die legitimen Proteste auf die gewalttätigen Ausschreitungen, Zerstörungen und Plünderungen zu reduzieren, und mit einer Politik der harten Hand lediglich die Wiederherstellung der Sicherheit und öffentlichen Ordnung in den Fokus zu stellen, anstatt frühzeitig Dialogangebote unter Einbindung der Opposition zu machen, ist sicherlich kritikwürdig. Das gilt auch für den Einsatz des Militärs zur Wahrung und Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit, eine Maßnahme, die Beobachter und Experten als kontraproduktiv bewerten. Auch die nachgewiesenen Fälle von exzessiver Polizeigewalt verdienen eindeutige Kritik. Eine transparente Aufklärung sowie die Ermittlung und Bestrafung der Verantwortlichen ist Voraussetzung, um Vertrauen und Glaubwürdigkeit der Regierung in der Bevölkerung wiederherzustellen.
Bei aller berechtigten Kritik - dem in manchen Beiträgen der internationalen Berichterstattung transportierten Eindruck, hier würde eine repressive Regierung auf friedliche Demonstranten schießen, ist entschieden entgegenzutreten. Gewaltexzesse kommen auf beiden Seiten vor. Einem in über 50 Jahren Konflikt eingeübten Muster folgend, legitimieren dabei beide Seiten die eigene Gewalt jeweils mit dem Hinweis auf die Gewalt der anderen Seite. Die Gleichsetzung der in demokratischen Wahlen legitimierten kolumbianischen Regierung mit dem Regime Maduro in Venezuela oder anderen repressiven Diktaturen ist jedoch realitätsfern und gefährlich. Seit fast zwei Wochen üben Hunderttausende von Kolumbianern täglich ihr Recht auf friedlichen Protest und freie Meinungsäußerung aus und haben auf diese Weise bereits die Rücknahme einer Steuerreform und den Rücktritt des Finanzministers erstritten, in einem autoritären Staat undenkbar. Jetzt kommt es darauf an, dass sich die handelnden Akteure - allen voran Präsident Ivan Duque, seine Berater und die Vertreter des Streikkomitees - bei allen Differenzen auf einen konstruktiven Dialog einlassen und Kompromisse erzielen, die Millionen von Kolumbianerinnen und Kolumbianern wieder Hoffnung und eine verlässliche Zukunftsperspektive geben. Vor allem die andauernden Blockaden und Straßensperren müssen zügig beendet werden, um die verheerende Versorgungslage zu verbessern. Wenn es gelingt, durch politische Kompromisslösungen die Massenproteste zu beenden, wird auch kriminellen Trittbrettfahrern und Gewaltakteuren, welche die Proteste aus politischem oder ökonomischem Kalkül angeheizt haben, die Vorlage entzogen. Bei der notwendigen Wiederherstellung von Sicherheit und öffentlicher Ordnung müssen die Verantwortlichen der Polizei darauf achten, dass der Einsatz legitimer, staatlicher Gewalt auf das dringend notwendige Maß beschränkt und der Situation angemessen bleibt. Gelingt diese nicht, drohen dem Land bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen im Mai 2022 weitere Polarisierung, Spannungen und Wellen von Gewalt.
Als wichtiger deutscher und europäischer Partnerstaat und langjähriger, demokratischer Stabilitätsanker in Lateinamerika ist Kolumbien angesichts der aktuellen Entwicklungen dringend auf konkrete Unterstützung seiner internationalen Partner angewiesen, um einen Weg aus dem aktuellen Konflikt und der zugrundeliegenden Gesundheits-, Wirtschaft- Sozial- und Flüchtlingskrise zu finden. Konstruktive Kritik und vertrauensvoller Dialog müssen die Grundlage dieser Zusammenarbeit bleiben. Einseitige Vorwürfe und in Unkenntnis der komplexen Realität und Konfliktgeschichte des Landes an die Adresse der kolumbianischen Regierung gerichtete Belehrungen sind dagegen kontraproduktiv. Denn diese würden im Kontext der internationalen Systemkonkurrenz zwischen liberalen Demokratien und autoritären Staatsmodellen die Beziehungen zu einem geostrategisch bedeutsamen, demokratischen Schlüsselpartner in Lateinamerika empfindlich schwächen.
[1] Die Definition der extremen Armut orientiert sich am Preis der Grundnahrungsmittel und dem täglichen Mindestkalorienbedarf von 2100 Kilokalorien pro Erwachsenem.