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Länderberichte

Die Qual mit der (Nicht-)Wahl

Die Lokalwahlen in Albanien am 30. Juni 2019 und deren Boykott durch die Opposition sind der vorläufige Höhepunkt in einem seit Monaten andauernden Politkrimi, welcher Albanien mehr und mehr in eine Staats- und Verfassungskrise stürzt. Die Sozialistische Partei (SP) unter Ministerpräsident Edi Rama hatte die Abstimmung durchführen lassen, obwohl Staatspräsident Ilir Meta diese zuvor aufgrund der angespannten politischen Lage zuerst abgesagt und später für Oktober neu angesetzt hatte. Die Wahlen fanden zwar friedlich, aber bei äußerst geringer Wahlbeteiligung statt und werden von der Opposition nicht akzeptiert. Es bleibt abzuwarten, wie sich das Land nun in der schwersten Krise seiner jüngsten Geschichte weiter entwickelt.

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Der besorgniserregende Zustand der Demokratie in Albanien

Die Kommunalwahlen vom 30. Juni waren die ersten seit 30 Jahren, bei denen die wichtigsten oppositionellen politischen Kräfte des Landes den Wahlprozess boykottierten. Infolge dieses Boykotts gab es in 30 Gemeinden nur einen Kandidaten der Sozialistischen Partei und ihrer Koalition, während in den anderen 31 Gemeinden des Landes zwei bis fünf Kandidaten kleinerer Parteien antraten. Der Boykott war der bis dato letzte Akt eines langen und tiefen Konflikts zwischen den regierenden Sozialisten von Ministerpräsident Edi Rama und der Demokratischen Partei (PD) unter der Führung von Lulzim Basha, durch dem das Land an Rand einer Staats- und Verfassungskrise steht, welche auch negative Auswirkungen für die Eröffnung von Beitrittsgesprächen mit der Europäischen Union (EU) hat.

Der Streit um die Kommunalwahlen und die vorhergehenden Querelen werfen ein schlechtes Licht auf die demokratische Verfasstheit Albaniens. Mitte Februar 2019 hatte die Opposition in einem bis dahin präzendenzlosen Schritt die Niederlegung der Parlamentsmandate verkündet. Sie begründete diesen radikalen Schritt damit, nicht länger als „Schaufensteropposition für ein undemokratisches Regime“ dienen zu wollen. Seit der Niederlegung der Mandate fanden mehrere Großdemonstrationen im Zentrum von Tirana statt, die teilweise von gewaltsamen Ausschreitungen von beiden Seiten begleitet wurden. Sowohl die Gewalt bei den Protesten als auch die Niederlegung der Mandate ist durch die internationale Gemeinschaft mehrfach harsch kritisiert worden. Mit dem Schlachtruf „Rama Ik!“ (Rama verschwinde!), fordert die Opposition den Rücktritt von Ministerpräsident Rama, dem sie Korruption, Wahlmanipulation und Verbindungen zum organisierten Verbrechen vorwirft. Im Januar 2019 hatten Voice of America (VoA) und das Balkan Investigative Research Network (BIRN; ein angesehener regionaler Rechercheverbund) Protokolle von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen veröffentlicht, die zeigen, dass in mehreren Städten hochrangige SP-Politiker im Zusammenspiel mit Akteuren der Organisierten Kriminalität bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 sowie zuvor bei einer Nachwahl im Ort Diber 2016 massiven Stimmenkauf betrieben hatten. BILD veröffentlichte am 5. und 17. Juni 2019 Ton-Mitschnitte dieser Abhörprotokolle, auf denen u.a. auch Ministerpräsident Rama zu hören sein soll.[1]

Die (nun außerparlamentarische) Opposition kündigte daher für die Kommunalwahlen am 30. Juni einen Boykott an. Dieser äußerte sich nicht nur darin, dass es in vielen Gemeinden nur einen Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters gab, sondern auch in den Wahlkommissionen war die Opposition ebenfalls nicht vertreten. Das nationale Parlament ist derzeit aufgrund des Ausscheidens der Opposition ebenfalls nicht arbeitsfähig. Nach der Niederlegung der Mandate durch die Abgeordneten von DP und der Sozialistischen Bewegung für Integration (LSI) sind Kandidaten der (geschlossenen) Wahllisten der Parteien nachgerückt. Diese Parlamentarier werden von DP und LSI nicht als Vertreter der Opposition anerkannt; man unterstellt ihnen, von der SP gekauft worden zu sein, um als Feigenblatt zu fungieren.

Am schwersten wiegt sicherlich, dass aufgrund des „Vetting“-Prozesses zur Überprüfung von Richtern und Staatsanwälten die albanische Justiz und insbesondere das Verfassungsgericht derzeit nicht handlungsfähig sind. Der Prozess hat noch nicht die erhofften Ergebnisse gebracht, sondern vielmehr zu einer tiefgreifenden Funktionsstörung des Rechtssystems geführt. Anstatt die Richter individuell nacheinander zu überprüfen und ggf. zu entlassen wurde der Lustrationsprozess simultan für die höchstrangigen Richter und Staatsanwälte durchgeführt. So wurden z.B. beim Verfassungsgericht von neun Richtern alle bis auf einen Richter entlassen bzw. traten zurück. Da die Institutionen, die potentielle neue Kandidaten für das Gericht überprüfen sollten, lange nicht besetzt waren, ist das Gericht seit 2018 bis heute mit nur einer Person besetzt und amtsunfähig. Dies führt u.a. dazu, dass die parlamentarische Opposition nicht über die Möglichkeit einer höchstrichterlichen Überprüfung der Entscheidungen der Exekutive verfügt. Somit befindet sich Albanien derzeit in einer tiefen innenpolitischen Krise, ohne funktionierende Judikative, ohne parlamentarische Opposition und mit einer aufgeheizten gesellschaftlichen Stimmung.

Staatspräsident Meta, formal unabhängig aber vormals Vorsitzender der nun ebenfalls außerparlamentarischen LSI, hatte vor diesem Hintergrund eine Verschiebung des Wahltermins für die Kommunalwahlen auf den 13. Oktober angekündigt. Ohne Beteiligung der Opposition seien „keine echten, demokratischen und repräsentativen Wahlen möglich“, argumentierte er. Ministerpräsident Rama aber erklärte die Entscheidung des Präsidenten für nichtig und auch die Zentrale Wahlkommission (ZWK) beharrte auf dem ursprünglichen Termin. Somit kam es dann am 30. Juni zur Durchführung der Kommunalwahlen, wobei man aufgrund der Umstände – insbesondere dass in vielen Gemeinden nur ein Kandidat auf den Wahlzetteln stand – eigentlich nicht von einer richtigen „Wahl“ sprechen kann.

Keine Gewalt

Nach der Schließung der Wahllokale am vorvergangenen Sonntag gab es dann zumindest eine gute Nachricht: Es war nicht zu den zuvor befürchteten Gewaltausbrüchen gekommen. In den Tagen zuvor hatte es noch Berichte über Angriffe auf Wahllokale gegeben, um die Stimmabgabe dort zu verhindern. Am Wahltag selbst bot die Regierung viele Polizisten auf, um Störungen des Wahlablaufs zu verhindern. Wichtig war jedoch auch, dass der PD-Vorsitzende Basha am Tag vor der Wahl noch einmal explizit zu friedlichem Protest und Gewaltverzicht aufgerufen hatte. Daher konnten die Bürger geordnet an die Urnen gehen. Es wurden keine größeren Vorfälle gemeldet, bis auf dass in einigen Städten Demonstranten mit dem Absingen kommunistischer Lieder gegen die monoparteiische Abstimmung protestierten, um sich darüber lustig zu machen.

Ansonsten blieb es ruhig, im sprichwörtlichen Sinne: Von den knapp 3,5 Millionen Wahlberechtigten gaben nach den vorläufigen Ergebnissen ZWK nur 812.249 bzw. 22,97 % ihre Stimme ab. Die niedrigste Beteiligung wurde in der Gemeinde Lezha verzeichnet, wo nur 8,93% der Bürger an den Wahlen teilnahmen. Der Generalsekretär der DP erklärte in einer Pressekonferenz, dass die Wahlbeteiligung noch geringer sei als von der ZWK gemeldet, nämlich 15,12%. Weiterhin hat die DP mit eigenen Beobachtern auch viele Unregelmäßigkeiten in diesem Abstimmungsprozess festgestellt, wie z.B. die Einschüchterung von Wählern, Stimmenkauf, mehr abgegebene Stimmen als registrierte Wähler etc.[2]

Ministerpräsident Rama nannte die friedliche Abstimmung „einen Sieg für ein europäisches Albanien“. Er erklärte sich bereit, mit der Opposition in einen Dialog zu treten, und forderte sie auf, sich der Wahlreform anzuschließen, während er im Hinblick auf die Justizreform erklärte, dass diese nicht ausgehandelt, sondern nur unterstützt werden könne. Oppositionsführer Basha hingegen beschrieb den Wahlprozess als Farce. Er sagte, es sei ein Anti-Rama-Referendum geworden, da 85 Prozent der albanischen Bürger den Wahlprozess boykottiert hätten.

„Geringe Berücksichtigung der Interessen der Wählerschaft“

Das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODHIR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), welches seit einigen Jahren die Wahlen in Albanien beobachtet, veröffentlichte kurz nach den Wahlen einen vorläufigen Bericht.[3] Die Leiterin der ODHIR-Mission, Botschafterin Audrey Glover, die zusammen mit 126 Beobachtern den Wahlprozess begleitet hatte, stellte diesen in einer Pressekonferenz vor. Sie erwähnte dabei viele Probleme, die auch von der DP identifiziert wurden, wie bspw.:

Die Kommunalwahlen waren geprägt von einer geringen Berücksichtigung der Interessen der Wählerschaft;

Die einzige Instanz, die über das Präsidialdekret [bzgl. der Verschiebung der Wahl] entscheiden kann, ist das Verfassungsgericht;

Die Entscheidungen der ZWK waren durch Unbeständigkeit gekennzeichnet, die zu Rechtsunsicherheit führte;

Es gab einen weit verbreiteten Druck auf die Verwaltung;

Die Registrierung von Bindja Demokratike [einer Parteineugründung] zur Wahl war gesetzwidrig;

Die wichtigsten Medien wie Top Channel und Klan TV berichteten positiv über die Regierung und negativ über die Opposition, basierend auf den Interessen der Medieninhaber.

Für die Opposition war der Bericht daher eine Bestätigung der eigenen Position. Allerdings vermied Botschafterin Glover ein klares Statement über die Gültigkeit der Abstimmung. „Wir sammeln immer noch Informationen und haben noch kein klares Bild über den Wahlprozess. Bis wir diese Informationen erhalten haben, werden wir keine Erklärung abgeben und sagen, dass diese Wahlen den Wahlstandards entsprechen “, sagte Glover und fügte hinzu, dass„ unser Auftrag nicht darin besteht, die Wahlen zu bestätigen. Wir überwachen sie und erstellen einen Abschlussbericht “. Damit hatte sie die Hoffnung vieler, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen, enttäuscht.

Neue Proteste und Gesprächsbedarf

Der Ball liegt nun wieder bei den albanischen Parteien eine Lösung für diese Krise zu finden, denn die Bürgermeister der DP haben erklärt, ihre Büros nicht verlassen zu wollen. Deshalb hat auch Präsident Meta am 2. Juli in einer Pressekonferenz einen Vorschlag angekündigt. Er schlug vor, am 13. Oktober vorgezogene Parlamentsahlen und die Wahl für den Präsidenten abzuhalten. Er rief die albanischen Politiker auf, wie Staatsmänner zu handeln und die Probleme selbst zu lösen. Dieser Vorschlag wurde jedoch von Ministerpräsident Rama ebenfalls abgelehnt, womit die Krise weiter schwelt.

Für Montag, den 8. Juli rief die Opposition zur nunmehr zehnten Demonstration gegen Ministerpräsident Rama im Herzen von Tirana auf. Im Vorfeld wurde von politischen Beobachtern nicht nur die Frage nach möglichen neuen Gewaltausbrüchen aufgeworfen, sondern insbesondere auch, wie viele Personen sich dem erneuten Demonstrationsaufruf des Vorsitzenden Basha anschließen würden und welche Botschaft er aussenden würde. In Albanien ist es leider politische Unsitte, dass bei Machtwechseln nicht nur die politischen Amtsträger ausgetauscht werden, sondern oftmals auch die Anhänger der unterlegenen Partei, welche in den Verwaltungen und Ämtern arbeiten, ihre Jobs verlieren, bis hin zur Reinigungskraft. Nach dem Verlust von allen verbliebenen Bürgermeisterämtern, insbesondere in den DP-Hochburgen im Norden Albaniens wie Shkodër und Kukës, droht daher der Verlust von vielen tausend Arbeitsplätzen für DP-Anhänger, wodurch die Parteiführung auch innerparteilich unter Druck steht. Die Frage nach der Anzahl der Teilnehmer bei der jüngsten Demonstration wurde daher im Vorhinein auch als eine Augurenschau über den Parteivorsitzenden selbst betrachtet.

Zum Protest am Montagabend kamen mehrere zehntausende Menschen, welcher wieder sehr friedlich ablief. „Der 30. Juni war eine Volksabstimmung über das Böse. Rama, hau ab“, rief Basha der Menge zu und forderte sie auf, den Schlachtruf noch lauter zu skandieren. „Die Albaner wollen jetzt einen echten Wandel, einen letzten Wandel, und wir werden ihn vollziehen", so der Oppositionsführer. Der Protest und besonders die Beteiligung vieler Parteimitglieder kann als vorläufige Bestätigung der Parteibasis für den Kurs von Basha gewertet werden, wobei sich dies in Zukunft auch rasch ändern kann. Interessant wird es z.B. Mitte August, wenn die SP, nach der Veröffentlichung des amtlichen Endergebnisses durch die ZWK und einer Bestätigung durch die Gerichte, versuchen wird die bei der Wahl gewonnenen Bürgermeistermeisterämter zu übernehmen. Hier bleibt abzuwarten wie die DP, gerade in ihren Hochburgen, reagieren wird.

In der Zwischenzeit hat das albanische Parlament am Montag für die Einrichtung eines Sonderausschusses gestimmt, der Ermittlungen gegen Präsident Ilir Meta wegen der Verletzung der Verfassung einleiten soll. Rama, der den Präsidenten bei dessen Wahl 2017 noch unterstützt hatte, wirf ihm nun vor, ein „Feind der albanischen Verfassung“ zu sein, da er versucht hatte, die Kommunalwahlen durch den Rückzug seines Dekrets auf den Herbst zu verschieben. Aufgrund des derzeit von der SP beherrschten Parlaments wird erwartet, dass ein Beschluss zur Amtsenthebung Metas gefasst werden wird. Letztendlich muss dann allerdings das Verfassungsgericht darüber entscheiden, was aber, wie eingangs beschrieben, derzeit nicht handlungsfähig.

Albanien steuert daher weiter auf einen nicht nur wettermäßigen, sondern auch politisch „heißen“ Sommer zu. Die politischen Fronten sind verhärtet und eine Einigung über die Zukunft des Landes scheint derzeit in weiter Ferne. Ein Lösungsansatz wäre eine internationale Vermittlung zwischen den Antagonisten, wobei unklar ist, wie stark die Gesprächsbereitschaft auf den jeweiligen Seiten tatsächlich ausgeprägt ist bzw. die Bereitschaft, mögliche ausgehandelte Kompromisse dann auch durchzusetzen. Erschwerend kommt hinzu, dass die EU nach den Europawahlen und durch die Querelen bei der Besetzung der Spitzenposten gerade ziemlich mit sich selbst beschäftigt ist, wodurch der Augenmerk kaum auf der Situation in Albanien fällt.

Dabei ist die Anbindung Albaniens an den Westen eigentlich das einzige, bei dem sich beide politische Lager einig sind. Albanien ist seit 2009 Mitglied der Nato und seit 2014 auch EU-Beitrittskandidat. Laut Umfragen wünschen sich bis zu 95 Prozent der Bevölkerung eine Mitgliedschaft in der EU, der höchste Wert im Westbalkan. Nicht zuletzt wegen der politischen Irrungen und Wirrungen der vergangenen Monate wurde jedoch der eigentlich für diesen Sommer geplante Start von Beitrittsverhandlungen verschoben. Die Abhaltung freier Wahlen gehört zu den Hauptforderungen der EU an die Beitrittskandidaten. Mit dieser Parodie einer Wahl hat das Land dabei kein gutes Bild in dieser Sache abgeliefert.

[1] https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/wahlmanipulation-in-albanien-ein-staat-versinkt-im-mafia-sumpf-62698312.bild.html aufgerufen 10.07.2019

[2] https://pd.al/2019/06/numerous-irregularities-identified-as-socialist-majority-aims-at-legitimizing-solo-candidates-process/ aufgerufen 10.07.2019

[3] https://www.osce.org/odihr/elections/albania/424433 aufgerufen 10.07.2019

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