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Im Schatten des Krieges: Lukaschenka greift nach lebenslanger Macht

In der Rückschau wirkt es wie eine prophetische Warnung. Als Belarus‘ Machthaber Aliaksandr Lukaschenka Anfang Dezember 2021 ankündigte, Ende Februar das lang erwartete Verfassungsreferendum durchzuführen, schränkte er ein: „falls es bis dahin nicht zum Krieg kommt“. Trotz der begonnenen Kampfhandlungen, bei denen erstmals seit dem frühen Mittelalter eine militärische Aggression von Belarus gegen die Ukraine geführt wird, hält das Regime nun an der Abstimmung fest. Der Entwurf soll nicht nur Lukaschenka die Option eröffnen, unbegrenzt an der Macht zu bleiben, ihm Immunität sichern und die „Gefahr“ minimieren, dass die Opposition jemals übernimmt. Auch die außenpolitische Neutralität und die Atomwaffenfreiheit gibt das Land auf, in dem zum Tag der Abstimmung etwa 30.000 russische Soldaten stehen. Die Demokratiebewegung spricht von einer faktischen Besatzung und einem Wandel des Autoritarismus zum Totalitarismus. Das Referendum verurteilt sie als illegitim und ruft dazu auf, die Stimmzettel am Wahltag ungültig zu machen. Und viele Bürger fragen sich: Wozu eine neue Verfassung, wenn schon die jetzige nicht gilt, da das Regime den Rechtsstaat faktisch durch eine weitreichende Willkürherrschaft ersetzt?

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Vorgeschichte

Die Idee einer Verfassungsänderung in Belarus ist grundsätzlich nicht neu. Ein autoritäres System, das Wahlen als Instrument des Machtwechsels faktisch ausgeschaltet hat, steht vor der Herausforderung, irgendwann die Nachfolge des Diktators organisieren zu müssen. In den Jahren vor 2020 hatte Lukaschenka durchleuchten lassen, die „exzessive Machtfülle“[i], die er für sich selbst angehäuft hat, nicht einem einzigen Nachfolger überlassen zu wollen. Eine Stärkung der Regierung und der Rolle von Parteien wurden erwogen und er selbst brachte ins Spiel, dass die kommende Amtszeit seine letzte sein könnte, wenngleich die Frage nach persönlichen Sicherheitsgarantien noch „zu klären“ war – schließlich hatte er sich auch Feinde gemacht und steht im Verdacht, in politische Morde der 1990er Jahre verwickelt zu sein. Doch während er nach der „unspektakulären“ Parlamentswahl 2019 den Eindruck haben konnte, einen solchen Prozess ruhig und kontrolliert „von oben“ durchführen zu können, schuf der Spätsommer 2020 eine völlig neue Realität. Die Massenproteste gegen Wahlfälschung und Polizeigewalt bedrohten nicht nur seine Macht und die Sicherheit seiner Entourage, sondern forderten mit ihrem Eintreten für ein rechtsstaatliches, demokratisches und weltoffenes Belarus sein gesamtes Staatsverständnis heraus.[ii] Die Konfrontation stürzte das Land in die tiefste politische Krise seit der Unabhängigkeit.

Noch während damals allsonntäglich hunderttausende in Minsk demonstrierten, brachten Regimevertreter bei einer OSZE-Sitzung die Verfassungsreform als einen Ausweg aus der Krise ins Spiel. Die demokratischen Kräfte lehnten dies als Hinhaltetaktik[iii] ab und forderten Neuwahlen, doch im Kreml, an den Lukaschenka sich hilfesuchend wandte, traf die Idee auf offene Ohren. Putin war zwar nicht gut auf den belarusischen Machthaber zu sprechen, da dessen Flirt mit dem Westen in den vergangenen Jahren in einem regelrecht antirussischen Wahlkampf gegipfelt war, doch konnte er seinen Verbündeten nicht den demokratischen Protesten „zum Opfer fallen lassen“ – zu artverwandt sind sich beide Herrschaftssysteme. So schien eine Verfassungsreform mit anschließenden Neuwahlen (im Raum stand bis 2022) die Chance zu bieten, Lukaschenka zeitnah aber nicht überstürzt durch einen verlässlicheren Vasallen zu ersetzen und gleichzeitig, etwa über eine pro-russische Partei, neue Vehikel der Einflussnahme in Belarus zu eröffnen.

Lukaschenkas Ziel blieb hingegen, die politischen Zügel in der Hand zu behalten, die Sicherheit für sich und seine Gefolgsleute zu garantieren und das „politische Erbe“ seines Systems zu bewahren, indem er verhindert, dass die aus seiner Sicht „kriminelle“ Opposition (jemals) die Macht übernimmt. Dabei ließ er durchblicken, dass er eigentlich am System am liebsten gar nichts ändern würde, da in einem auf Gewalt und Gehorsam basierenden System auch kleine Veränderungen „unnötigen“ Stress erzeugen können.

 

Der Weg zum Entwurf

Seither zog sich der Prozess in die Länge und es wurde gemunkelt, dass der „große Bruder“ ungehalten darüber sei, dass Lukaschenka „nicht liefere“. Das oft gemachte Versprechen einer vorgezogenen Neuwahl ist inzwischen ganz aus der Debatte verschwunden. Im März 2021 setzte Lukaschenka dann eine Verfassungskommission ein, bestehend aus 36 loyalen Personen unter Vorsitz des Verfassungsgerichtsvorsitzenden Miklaschewitsch. Diese sollte im Geheimen bis zum 1. August 2021 einen Entwurf ausarbeiten. Die Öffentlichkeit bekam nur durch ein (vermeintliches?) Leak einen Einblick in die Inhalte, doch auch ein Dekret Lukaschenkas vom Mai 2021 ließ die Entwicklungsrichtung erkennen. Im Fall seines gewaltsamen Todes sollte nicht mehr der Premierminister, sondern der Sicherheitsrat kollektiv die Macht übernehmen – so groß, deuteten Beobachter, war seine Angst vor einem Putsch aus den eigenen Reihen.

Schon zu dieser Zeit wurde spekuliert, dass das „kasachische Modell“ als Vorbild des Umbaus dienen könnte. Der „Präsident“ zieht sich auf ein neues, für ihn geschaffenes Amt zurück, das ihm de facto erlaubt, „aus dem Off“ die Zügel in der Hand zu (be)halten. Tatsächlich äußerte Lukaschenka in dieser Zeit, die Verfassung sei „für den nächsten Präsidenten“ und lobte die „Zusammenarbeit von Nasarbajew und Tokajew“. Einige seiner Beamten, einschließlich Vertretern des Sicherheitsrats und des KGB, unternahmen „Konsultationsreisen“ nach Nur-Sultan.

Nach der Erörterung des Verfassungsentwurfs im September setzte Lukaschenka zusätzlich eine Arbeitsgruppe seiner engsten Vertrauten ein, um das Projekt zu finalisieren. Später behauptete er, den Verfassungsentwurf gar persönlich diktiert zu haben.[iv] Das Parlament, das laut geltender Verfassung maßgeblich bei einem solchen Prozess beteiligt sein sollte, wurde hingegen nicht eingebunden. Öffentlich präsentiert wurde der Entwurf erst am 27.12.2021. Am Folgetag reiste Lukaschenka zu einem Gipfeltreffen der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) nach Sankt-Petersburg und traf sich danach bilateral mit Putin. Offiziell ging es um Forstschritte beim Aufbau des Unionsstaates und die gemeinsamen Militärbungen im Frühjahr 2022. Doch Experten vermuteten, dass er sich auch ein Placet zum Verfassungsentwurf holte.

 

Zentrale Neuerung: Die Volksversammlung

Dem Entwurf zufolge sollen elf Artikel neu aufgenommen und 77 verändert werden. Die geplanten Änderungen bedeuten einen tiefgreifenden Umbau der bestehenden Ordnung. Was die Venedig-Kommission des Europarats als „Verschärfung der bereits bestehenden starken Asymmetrie der Machtverteilung“ bezeichnet, bringt der Politikwissenschaftler Waleri Karbalewitsch auf den Punkt als „Betonierung des Systems Lukaschenka.“ Zentrale Neuerung ist die Erhebung der sogenannten Allbelarusischen Volksversammlung (ABVV) zum höchsten Verfassungsorgan. Hatte dieses 1996 von Lukaschenka geschaffene Gremium bislang eher einen folkloristischen Charakter – die im Fünfjahresrhythmus stattfindenden Zusammenkünfte von etwa 2.500 Delegierten erinnern im Stil an Parteitage der KPdSU und bieten Lukaschenka eine große Bühne vor treuen Gefolgsleuten – sollen ihm nun weitreichende Kompetenzen zuwachsen. Künftig wird sie die allgemeine Richtung der Innen- und Außenpolitik sowie der sozioökonomischen Entwicklung festlegen, über Militäreinsätze bestimmen, das nationale Sicherheitskonzept verabschieden und den Premier dazu anhören. Sie soll „über die Verfassungsordnung wachen“ und -änderungen wie auch Referenden initiieren sowie die Richter des Obersten und des Verfassungsgerichts ernennen oder entlassen können. Gleiches gilt für die Mitglieder der zentralen Wahlkommission. Zudem kann die ABVV über die Rechtmäßigkeit von Wahlen befinden und den Notstand ausrufen. Schließlich hat sie die Kompetenz, alle Rechtsakte und sonstigen Entscheidungen, mit Ausnahme der Erlasse von Justizbehörden, zu annullieren, sowie Staatsorganen und –bediensteten „bindende Anweisungen“ zu erteilen. Kritiker verweisen darauf, dass sich die Befugnisse der ABVV mit denen des Präsidenten, des Parlaments und der Judikative absehbar überschneiden.

Die „Volksversammlung“ soll sich aus 1.200 Mitgliedern zusammensetzen. Wie genau diese benannt werden, ist nicht fixiert. Bisher ist die Praxis jedoch, dass sie nicht vom Volk gewählt, sondern aus der Präsidialverwaltung heraus bestimmt werden. Absehbar werden ihr Beamte, Abgeordnete und Repräsentanten der (pro-staatlichen) „Zivilgesellschaft“ und amtierenden Vertretern aller Staatsgewalten, inklusive des Präsidenten angehören.[1] Delegierter der ABVV zu sein, ist jedoch kein Fulltimejob. Ihre Mitglieder sollen weiter uneingeschränkt ihrer „eigentlichen“ Arbeit nachgehen, was ihre zeitlichen Kapazitäten zur Mitarbeit im „höchsten Gremium des Staates“ stark beschränkt. Die maßgebliche Entscheidungsgewalt wird daher beim Präsidium der ABVV liegen, welches durch die Versammlung selbst gewählt wird. Auch dessen genaue Zusammensetzung ist noch nicht festgelegt, doch steht außer Zweifel, dass Lukaschenka an seiner Spitze zu stehen gedenkt.

 

Bub oder König? – Beides!

Belarus soll auch weiterhin eine „starke Präsidialrepublik“ bleiben, doch der Präsident verliert seine Ernennungsrechte für Richter und Wahlkommission an die ABVV und seine Dekrete werden keinen Vorrang vor Gesetzen mehr haben. Auch wird seine Amtszeitbeschränkung, die 2004 per Referendum aufgehoben worden war, wiedereingeführt (Art 81). Ab der nächsten Wahl (turnusgemäß 2025) gelten dann maximal zwei Amtszeiten – bisherige Amtszeichen werden nicht angerechnet. Wichtig ist jedoch, dass die Volksversammlung den Präsidenten bei „schweren Vergehen“ des Amtes entheben kann, wenngleich er nach Art 89 lebenslange Immunität behalten wird für „Handlungen, die im Zusammenhang mit der Ausübung seiner Befugnisse als Präsident begangen wurden“. Das präsidiale Mindestalter wird von 35 auf 40 Jahre angehoben und niemand darf für das Amt kandidieren, der oder die (!) in den letzten 20 Jahren außerhalb von Belarus gelebt und eine andere Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltserlaubnis innegehabt hat. Damit wird hunderttausenden politisch Exilierten das passive Wahlrecht entzogen. Die Kandidatur einer Sviatlana Tsikhanouskaya wäre damit schon aus mindestens drei Gründen nicht mehr möglich – sie wäre zu jung, hat im Ausland gelebt und außerdem ein Strafverfahren am Hals.

Während Lukaschenka noch im November 2021 betonte, wie wichtig die Verfassungsänderung für die Zukunft des Landes sei, ließ er sich am 18. Januar zitieren, dass er die Reform eigentlich „gar nicht brauche“ und ihm das Ergebnis egal sei. Die blutigen Proteste und die Entmachtung von Ex-Präsident Nasarabjew in Kasachstan hatten ihm offenbar vor Augen geführt, wie schwach die Garantien eines vergleichbaren Arrangements im Zweifelsfall sind. Um nichts dem Zufall zu überlassen, ließ er daher eine Sonderklausel einfügen (Artikel 144), die ihm ganz persönlich – nicht jedoch einem künftigen Nachfolger – gestattet, beide Ämter gleichzeitig innezuhaben: Präsident der Republik und Vorsitzender der ABVV.[2] Das Präsidialamt besetzen könnte er mit der neuen Verfassung theoretisch bis 2035. Ob er das auch vorhat, beantwortet er je nach Tagesform anders. Mal sagt er, er werde schon bald gehen, mal, dass er für immer Präsident bleibe.

 

Richtung Totalitarismus

Das zweithöchste Amt im Staat verlagert sich vom Premierminister auf den Vorsitzenden des Oberhauses des Parlaments. Dieser ist Chef des Sicherheitsrates, welcher den Präsidenten im Fall seines gewaltsamen Todes kollektiv ersetzen soll (Art. 881). Doch auch das Verständnis von Staat und Gesellschaft fasst die neue Verfassung enger. Während derzeit noch gilt, dass sich „[die] Demokratie in der Republik Belarus […] auf die Vielfalt der politischen Institutionen, Ideologien und Meinungen [stützt]“ (Art 4, 1) soll nun stattdessen die „Ideologie des belarusischen Staates“ festgeschrieben werden. Was das heißt, kann das Regime selbst festlegen, doch geben die neuen Artikeln 54 Abs. 2 und 15 Abs. 2 einen ersten Eindruck. Ersterer erlegt den Bürgern die Pflicht auf, „Patriotismus zu zeigen und die historische Erinnerung an die heldenhafte Vergangenheit des belarusischen Volkes zu bewahren“ – die jahrhundertelangen Kriege gegen Moskau sind damit wohl nicht gemeint. Zweiterer verpflichtet den Staat, „für die Bewahrung der historischen Wahrheit und der Erinnerung an die Heldentaten des belarusischen Volkes während des Großen Vaterländischen Krieges“ zu sorgen. Beobachter deuten dies – wie das gesamte Verfassungsprojekt – als Schritt vom Autoritarismus zum Totalitarismus und sehen Parallelen zur Entwicklung in Russland. Parteien und Vereine sollen künftig nicht mehr „zur Ermittlung und zum Ausdruck des politischen Willens der Bürger beitragen und an Wahlen teilnehmen“, sondern nur mehr „zur Ausübung und zum Schutz von Rechten, Freiheiten und Interessen des Menschen und des Bürgers beitragen“ (Art 5). Bemerkenswert ist auch, dass in einem neuen Artikel (45 Abs. 4) die Bürgerinnen und Bürger dazu verpflichtet werden, „Maßnahmen zur Erhaltung und Förderung ihrer eigenen Gesundheit zu ergreifen.“ Mit Blick auf die selektive Leugnung der Coronapandemie durch Lukaschenka werten Kritiker dies als einen Rückzug des Staates aus seiner Schutzverantwortung.

 

Außenpolitische Implikationen

Das Referendum findet unter Bedingungen statt, die die demokratischen Kräfte als „faktische Okkupation“ bezeichnen. Über 30.000 russische Soldaten sind im Land – nicht nur auf breiter Linie an der ukrainischen Grenze, sondern so gut wie überall. Die gesamte belarusische Armee zählt nicht viel mehr eigenes Personal. Ein Referendum unter den Augen russischer Kampftruppen weckt Erinnerungen an die Krim 2014, wenngleich dieser Zusammenfall wohl eher ein Zufall mit hoher Symbolwirkung sein dürfte. Wegweisend ist jedoch, dass der momentan in der Verfassung formulierte Anspruch, ein kernwaffenfreies Land zu sein und sich geopolitisch „neutral“[3] zu verhalten aus der Verfassung geworfen wird. Russland könnte also (wieder) Atomwaffen in Belarus stationieren. Es beruhigt wenig, dass dafür die Formulierung aufgenommen wird, dass „die Republik Belarus eine militärische Aggression von ihrem Hoheitsgebiet aus gegen andere Staaten ausschließt“. Während belarusische Truppen schon im Januar aktiv an der Niederschlagung des Aufstands in Kasachstan teilnahmen, gab Lukaschenka an, über Russlands Bombardierung der Ukraine von belarusischem Territorium am 24. Februar aus über die Medien erfahren zu haben.

 

Erörterung des Entwurfs

Nach Veröffentlichung des Entwurfs im Dezember 2021 gab es offiziell eine dreiwöchige Phase der „Bürgerbeteiligung“. Obwohl die Periode der Weihnachts- und Neujahrsfeiern klassisch als „tote Zeit“ gilt, wurde der Entwurf nach Angaben des Nationalen Rechtsinformationszentrums 230.000-mal von der Webseite abgerufen und es gingen 8.919 Anregungen von Bürgern ein, von denen 99,25 % den Entwurf grundsätzlich unterstützen. Überprüfbar sind diese Zahlen nicht. Hingegen wurden Fälle bekannt, dass gegen Bürger, die kritische Änderungsvorschläge einreichten, Strafverfahren wegen „Aufstachelung zu Hass und Feindschaft“ eingeleitet wurden. Kritiker verurteilen die „Diskussion“ deshalb als Farce, die vor allem einer Agitation innerhalb staatlicher Betriebe und Organisationen diente. Die Venedig-Kommission des Europarats kritisiert, dass weder bei der Entstehung noch der Beratung des Entwurfs Transparenz oder ernsthafte Beteiligung der Gesellschaft und der Opposition gegeben gewesen seien und damit der „Mindeststandard der notwendigen Inklusivität“ nicht erreicht wurde.[v]

Am 27. Februar, bzw. seit dem 22. Februar im early voting, werden die 6,8 Millionen stimmberechtigten Belarusen[4] auf dem Wahlzettel eine einfache Frage vorfinden: „Stimmen Sie den vorgeschlagenen Änderungen zu?“ Damit haben sie die Wahl zwischen Lukaschenkas jetziger Verfassung und einer Version, die er nach eigenen Worten „selbst diktiert hat“. Die von nicht wenigen Menschen favorisierte Rückkehr zur Verfassung von 1994 – vor den unter Lukaschenka eingeführten autoritären Änderungen – steht nicht zur Auswahl.

 

Strategie der demokratischen Kräfte

Auch der Entwurf einer „Volksverfassung“, den die demokratischen Kräfte unter Moderation von Sviatlana Tsikhanouskajas Verfassungsbeauftragtem Anatoliy Liabedzka ausgearbeitet haben, wird (wenig überraschend) nicht zur Wahl stehen. Die Arbeit an diesem Projekt hatte schon im Frühjahr 2019 begonnen, anderthalb Jahre vor der gefälschten Präsidentschaftswahl, als noch Hoffnung bestand, mit Staatsvertretern in manchen Fragen gemeinsame Kompromisse erzielen zu können. Angesichts der neuen Realitäten konzentrieren sich die demokratischen Kräfte nun auf einen eigenen „Idealvorschlag“, der mit internationalen Experten und der Zivilgesellschaft besprochen wurde. Zwischen Juli und Oktober registrierten sich dazu rund 17.000 Nutzer per Chat-Bot, 1.600 Änderungsvorschläge gingen ein und knapp 5.000 Personen nahmen an der Schlussabstimmung teil. Laut einer gewichteten Online-Umfrage haben 37 Prozent der Bürgerinnen und Bürger von diesem Projekt gehört. Über 40 internationale Verfassungsrechtsexperten wurden um Prüfung und Stellungnahmen gebeten – zuletzt Ende Januar 2022 bei einer geschlossenen Anhörung der PACE in Straßburg, u.a. vor Vertretern der Venedig-Kommission.[vi]

Einerseits lehnen die demokratischen Kräfte das Referendum grundsätzlich als illegitim ab. Da Lukaschenka selbst jedwede Legitimität verloren hat, darf er nun nicht auch noch die Verfassung umschreiben. Auch die Venedig-Kommission mahnt, dass demokratische Referenden nicht ohne Respekt für Menschenrechte, insbesondere Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie politische Selbstorganisation möglich sind – und nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen herrscht in Belarus ein Klima der „totalen Angst“. Es gibt knapp 1.100 anerkannte politische Gefangene (die Dunkelziffer ist eher dreimal so hoch), die organisierte Zivilgesellschaft wurde weitgehend zerstört und auch die Strukturen des Staatsapparats politisch gesäubert.

Da unter den gegebenen Bedingungen jedoch gesellschaftlich-politische Arbeit kaum überhaupt noch möglich ist, rief ein breites Bündnis aus politischen und NGOs – darunter der Stab Tsikhanouskayas, das Nationale Anti-Krisen-Management, der Koordinierungsrat und die Initiativen ZUBR, Golos und Honest People – die Menschen dazu auf, an der Abstimmung teilzunehmen, aber die Ablehnung des Prozesses zum Ausdruck zu bringen, indem sie die Stimmzettel durch Ankreuzen von Ja und Nein ungültig machen. Auch appellierten sie an die Menschen, die Stimmzettel wie im Sommer 2020 abzufotografieren und zur Dokumentation an die Online-Plattform „Golos“ zu schicken. Zur Koordinierung der Kommunikation und von Aktionen wurde in Vilnius ein gemeinsamer operativer Stab der demokratischen Kräfte ins Leben gerufen.

Während radikalere Oppositionsstimmen einen Totalboykott fordern, beteiligt sich bemerkenswerter Weise auch das Team des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Babaryka nicht an der gemeinsamen Kampagne, sondern präsentierte eine eigene Strategie. Diese ist zwar fast identisch mit der anderen doch stellt sie den Menschen frei, statt Ungültigmachung mit Nein zu stimmen und ermuntert die Menschen, sich in der Schlange vor den Wahllokalen anzulächeln – als Geste der Verbundenheit der unterdrückten demokratischen Mehrheit.

 

„Eher eine Polizeiaktion“

Lukaschenka nannte die Strategie „lächerlich“.[vii] Dass das Regime dennoch nervös ist, sieht man daran, dass die Vorhänge der Wahlkabinen entfernt werden – offiziell aus Gründen des Coronaschutzes – vermutlich aber um das Abfotografieren der Wahlzettel zu erschweren. Außerdem soll ein massives Aufgebot aus unterschiedlichen Sicherheitskräften garantieren, dass es nicht zu „Aufständen“ kommt. Selbst das Katastrophenschutzministerium stellt 5.000 Beamte, sodass das Referendum mit Worten des Politikwissenschaftlers Karbalewitsch „eher einer Polizeiaktion“ gleicht.

Zu Massenprotesten haben die demokratischen Kräfte selbst nicht aufgerufen. Zwar ist die Unzufriedenheit der Menschen im Land nur mit Gewalt unterdrückt, aber keinesfalls verschwunden. Umfragen belegen, dass weiterhin eine Mehrheit Wandel, Rechtsstaat und ein Ende der Gewalt fordert. Soziologen sehen die Anhängerschaft Lukaschenkas bei höchstens 30 Prozent, seine eingeschworene „Bastion“ an Unterstützern sogar bei unter 15 Prozent.[viii] Doch für Proteste scheint das persönliche Risiko angesichts der Gewaltbereitschaft des Staates unverhältnismäßig hoch. Dass zur Not auch ein paar tausend russische Soldaten „Amtshilfe“ leisten könnten, macht die Stimmung nicht besser. Doch auch für sich genommen ist das Mobilisierungspotenzial des Referendums recht gering. Bei den Präsidentschaftswahlen 2020 glaubten die Menschen an die Möglichkeit positiver Veränderungen. Diesmal tut dies nach Daten des Analytical Workroom nur eine Minderheit. Eine Verminderung der gesellschaftlichen Spaltung erwartet sogar nur ein Drittel. Während 2020 starke Kandidatinnen und Kandidaten der Hoffnung ein Gesicht verliehen, steht jetzt zweimal Lukaschenka auf dem Zettel. Wie jener selbst bei einer großen Ansprache Ende Januar festhielt: „Wenn die Menschen für die neue Verfassung stimmen, gewinnt der Diktator, wenn sie dafür nicht stimmen, gewinnt er auch“. Und dennoch führten Sonderpolizei und Innenministerium Mitte Januar Übungen zur Bekämpfung von Unruhen durch. Sicher ist sicher.

 

Sterile Wahlkommissionen und –beobachter

Erstmals findet sich unter den knapp 60.000 Mitgliedern der 5.510 lokalen Wahlkommissionen kein einziges Mitglied einer demokratischen Partei. Die 42 eingegangen Bewerbungen wurden abgelehnt. Stattdessen rekrutieren sich die Kommissionen „traditionell“ aus prostaatlichen Organisationen und Gewerkschaften, wie der Frauenunion, Belaja Rus und dem Republikanischen Jugendverband BRSM sowie regierungstreuen Parteien. Durch den Wechsel im Vorsitz der Zentralen Wahlkommission – die unter Demokraten berüchtigte Vorsitzende Jarmoschina ging im Dezember in Ruhestand und übergab an den ehemaligen Bildungsminister Ihar Karpenka – ist sichergestellt, dass ein linientreuer Regimegänger den Prozess kontrolliert. Obwohl der Wahlkodex gem. Art. 34 eigentlich eine Veröffentlichung der Mitgliederlisten der Wahlkommissionen fordert, wurden diese vielerorts geheim gehalten oder erschienen nur in Lokalzeitungen. Der Innenminister begründete dies mit Sicherheitsbedenken, da die „Mitglieder bedroht“ würden. Die demokratischen Kräfte hatten darauf hinwiesen, dass (nach geltendem Recht der Republik Belarus!) das Fälschen von Wahlen bei Strafe verboten ist und an die Mitglieder der Wahlkommissionen appelliert, wahrheitsgemäß die Stimmen zu zählen und darüber zu berichten.

Eine unabhängige Wahlbeobachtung ist aber, abgesehen von der Kampagne des Stimmzettelabfotografierens, nicht möglich. Unter knapp 45.000 nationalen Beobachtern soll nur (oder: „immerhin“?) einer aus den Oppositionsparteien zugelassen worden sein. Der Rest rekrutiert sich aus denselben staatsnahen Verbänden wie die Kommissionsmitglieder.[ix] Die sonst übliche verbundene Beobachtungskampagne „Right to Choose“ werden die demokratischen Parteien und NGOs dieses Mal nicht durchführen können. Polizei und Staatsanwaltschaft hatten viele Aktivisten zu „präventiven Gesprächen“ vorgeladen, Wohnungen durchsucht und manche vorübergehend weggesperrt.[x]

Zur internationalen Wahlbeobachtung werden knapp 200 Personen erwartet – die meisten aus Ländern der GUS, der OVKS oder der Schanghai Organisation für Zusammenarbeit.[xi] Das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) wurde nicht eingeladen und auch die EU wird keine offizielle Wahlbeobachtungsmission entsenden, wenngleich angeblich „30 EU-Bürger“ auf eigene Faust als Beobachter erwartet werden. Die im Jahr 2020 erfolgreiche Taktik, Wahlfälschungen durch Exit Polls vor den weltweiten Botschaften zu dokumentieren, ist dieses Mal keine Option. Die Stimmabgabe im Ausland wurde schlichtweg abgesagt –mit einem Potpourri aus Begründungen von Corona über Sicherheitsrisiken, Personalmangel und dem Hinweis, dass ohnehin nur wenige Menschen betroffen seien. Schätzungen zufolge wird derart bis zu einer halben Million Auslandsbelarusen kurzerhand das Wahlrecht entzogen.

 

Mögliche Folgen

Während Lukaschenka noch Anfang Dezember sagte, er werde das Referendum nicht durchführen, falls es zu einem Krieg kommt, scheint das Regime entschlossen, die Abstimmung durchzuziehen. Das early voting läuft bereits seit Dienstag und vermutlich will man den Eindruck erwecken, dass alles unter Kontrolle sei. Unabhängige Prognosen deuteten zuletzt daraufhin, dass die Wahlbeteiligung bei etwa 60 Prozent liegen und sogar gut die Hälfte für die Änderungen stimmen könnte, während gut 20 Prozent dem Aufruf zur Stimmzettelungültigmachung folgen wollen. Gültig wäre das Ergebnis damit trotzdem nicht. Bei einem

verfassungsändernden Referendum reicht laut Wahlkodex weder eine einfache Mehrheit der gültigen noch der abgegebenen Stimmen, sondern mindestens die Hälfte aller im Lande Wahlberechtigten müsste mit Ja stimmen– also knapp 3,5 Millionen Menschen.[xii] Bei einer Wahlbeteiligung von 60 Prozent müssten also mindestens 85 Prozent dafür votieren – und das scheint so gut wie ausgeschlossen. Auch deshalb haben führende westliche Politiker und Institutionen bereits klargestellt, das „illegitime Referendum“ nicht anzuerkennen.  Dass die Minsker Wahlkommission eine erfolgreiche Annahme der Verfassungsänderungen verkünden wird, scheint dennoch sicher.[5] Zehn Tage nach Veröffentlichung des Ergebnisses treten die Verfassungsänderungen in Kraft, doch da manche Bestimmungen zur Allbelarusischen Volksversammlung unklar formuliert sind, soll zunächst ein einsprechendes eigenständiges Gesetz ausgearbeitet werden. Der Ministerrat hat schon ankündigt, bis September 2022 einen Entwurf vorzubereiten.[xiii]

Abgesehen davon, dass auch Belarus bereits faktisch durch Nutzung seines Territoriums durch russische Truppen in den Krieg gegen die Ukraine hineingezogen wurde und nicht abzusehen ist, was dies für die Entwicklung im Lande bedeutet – selbst unter Anhängern des Regimes dürfte diese Entwicklung hochgradig unpopulär sein – verschärft sich auch die belarusische Krise im Inneren nun absehbar noch um den Aspekt einer Verfassungskrise, wenn aus Regimesicht bald die neue Verfassung gilt, für seine Gegner aber die alte. Langfristig wird die Krise in Belarus nur durch einen Versöhnungsprozess zu lösen sein, der freie und faire Neuwahlen beinhaltet. Doch nun wird zunächst die Frage zu beantworten sein: Neuwahlen auf Grundlage welcher Verfassung?

 

[1] Dies scheint im Widersprich zu Art. 86 zu stehen, laut dem der Präsident kein anderes politisches Amt innehaben darf.

[2] Auch dies scheint im Widerspruch zu Art. 86 (keine anderen Ämter für den Präsidenten) und Art. 6 (Gewaltenteilung) zu stehen. Eine Machtusurpation ist laut Art. 357 Teil 2 des Strafgesetzbuches (verfassungswidrige Ergreifung bzw. Erhaltung der Macht) strafbar.

[3] Angesichts der bestehende Wirtschafts-, Militär- und Integrationsbündnisse (OVKS, EaWU, GUS, Unionsstaat) mit Russland galt dies zwar schon bislang nur mit Einschränkung. Andererseits hatte sich Minsk in den Jahren 2015-2020 bemüht, die Neutralität maximal herauszustellen und als Ziel verkündet, eine „osteuropäische Schweiz“ zu werden.

[4] Die genaue Anzahl der Wahlberechtigten wird erst bis zum Wahltag genau ermittelt. Die vorläufigen Zahlen zeigen ein Minus von 85.000 Wählern ggü. dem Jahr 2020. Unter Abzug der Erstwähler sogar 170.000 (Quelle: https://t.me/euroradio/27396).

[5] Staatliche Institute prognostizieren gut 60 Prozent, doch Lukaschenka sagte, man könne Ergebnisse wie in den 1990ern erreichen. Damals lag die offizielle Beteiligung zwischen 65 und 90 Prozent. Siehe: Belta vom 16.12.22:  Более 58% белорусов поддерживают необходимость изменений в Конституцию, online unter: https://www.belta.by/society/view/bolee-58-belorusov-podderzhivajut-neobhodimost-izmenenij-v-konstitutsiju-475156-2021/ (abgerufen am 25.02.22).

 

[i] Venedigkommission (2022): Urgent interim Report on the constitutional referendum, online unter: https://www.venice.coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-PI(2022)002-e, Seite 4. Abgerufen am 24.02.22

[ii] Vergleich dazu: Belarus in der Nuss – Eine Brust, zwei Seelen? Online unter https://www.youtube.com/watch?v=YCxZcur3yGM.

[iii] Laut einer Umfrage des ZOiS vom Dezember 2020 sahen etwa 20 Prozent der Belarusen die Verfassungsreform als Weg zur Überwindung der Krise. 44,9 Prozent der Belarusen wollten Neuwahlen. Online unter: https://www.zois-berlin.de/publikationen/wie-vereint-ist-belarus-gegen-das-regime.

[iv] Ria Novosti vom 02.12.21: Лукашенко рассказал о проекте новой Конституции Белоруссии, online unter: https://ria.ru/20211202/konstitutsiya-1761745563.html. (Abgerufen am 24.02.22)

[v] Venedig-Kommission (2022): S 8f. (vg. Fußnote 1).

[vi] https://tsikhanouskaya.org/ru/events/news/f1e5bdb3adf2b81.html, https://kanstytucyja.online/, https://narodnaja.com/

[vii] Radio Svaboda vom 01.12.2021: Чаму ГУБАЗіК баіцца несапраўдных бюлетэняў на рэфэрэндуме? Тлумачыць былы чыноўнік Адміністрацыі прэзыдэнта. Online unter: https://svb1234.azureedge.net/a/31588903.html (Abgerufen am 22.02.2022).

[viii] So der ehemalige Leiter des Soziologieinstituts der staatlichen Akademie der Wissenschaften Korschunau https://svb1234.azureedge.net/a/31708756.html. Auch Daten des ZOiS legen dies nahe: https://www.zois-berlin.de/publikationen/gesellschaftliche-fragmentierung-in-belarus.

[ix] Übersicht der Zusammensetzung der Wahlbeobachter vom 24. Februar 2022: https://rec.gov.by/uploads/folderForLinks/elect6.pdf (abgerufen am 24.02.2022).

[x] Belsat vom 23.02.2022: Какие законы уже нарушили во время подготовки к «референдуму». Online unter: https://belsat.eu/ru/news/23-02-2022-kakie-zakony-uzhe-narushili-vo-vremya-podgotovki-k-referendumu/ (abgerufen am 23.02.2022).

[xi] Offizielle Übersicht der internationalen Wahlbeobachter: https://rec.gov.by/uploads/folderForLinks/sved2.pdf (abgerufen am 21.02.2022).

[xii] Wahlgesetzbuch der Republik Belarus Art 121, Vgl. Belta vom 16.02.22: Более 6,8 млн граждан включены в списки для голосования на республиканском референдуме, online unter: https://www.belta.by/society/view/bolee-68-mln-grazhdan-vkljucheny-v-spiski-dlja-golosovanija-na-respublikanskom-referendume-485135-2022/, (abgerufen am 21.02.2022).

[xiii] Nascha Niwa vom 10.02.222: Закон аб Усебеларускім народным сходзе плануюць падрыхтаваць да верасня. Хоць яшчэ не прагаласавалі па новай Канстытуцыі, online unter: https://nashaniva.com/?c=ar&i=284500 (abgerufen am 25.02.22).

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