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Veranstaltungsberichte

Virtuelle Demokratie - In Zusammenarbeit mit der IBMEC

von Gregory Ryan

Wie das Internet und soziale Medien als Katalysator wirken, die Gesellschaft und Politik verändern

Das Internet betrifft bereits fast alle denkbaren Bereiche des menschlichen Verhaltens. Welche Rolle das Internet und die sozialen Netzwerke bei der globalen Welle von Protesten und Revolutionen gespielt hat - darüber möchten wir reden.

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Die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert, die industrielle Revolution im 18. Jahrhundert und die flächendeckende Einführung der Elektrizität im 20. Jahrhundert haben jeweils die Funktionsweise der sozialen und politischen Ordnungen ihrer Epoche fundamental verändert. In der heutigen Zeit ist das Internet das oberste Transformationsmedium. Es verändert in radikaler Art und Weise wie die Menschen auf der ganzen Welt arbeiten und interagieren. Die Datenautobahn hat bislang spärliche zugängliche Informationen in einen regelrechten Informationsfluss verwandelt und beeinflusst somit nahezu sämtliche Handlungen, die das tägliche Leben und das Leben eines jeden Einzelnen betreffen.

Die Diskussionsrunde begann mit dem Beitrag von Vinicius Braz, einem Aktivisten der Stiftung P2P, der die Veränderungen, die gerade dank der neuen Vernetzung auf einer globalen strukturellen Ebene passieren, analysierte. Das Phänomen der Vernetzung trägt dank des Internets seit etwa 20 Jahren dazu bei, dass das Lokale global wird und das Globale lokal. Um das Thema auszuführen, begann er mit einer historischen Herleitung, in der er erklärte, dass bereits in den Anfängen der menschlichen Existenz die Hominiden kooperative Eigenschaften besaßen und dass alle Theorien der modernen Staatsstruktur und Städte auf dem Regionalismus basieren. Außerdem erklärte er, dass das Bildungssystem dazu dient, die von der Industrie benötigten Arbeitskräfte auszubilden.

Im Sesshaftwerden lag der Ursprung, der zur Entstehung der Städte führte. Die Menschen begannen sich von der Natur zu isolieren und sie auszubeuten, anstatt im Einklang mit ihr zu leben, wie es die anderen Arten im Tierreich tun. Als Grundlage diente ein patriarchalisches oder matriarchalisches Muster. Somit begannen sich gesellschaftliche Bereiche herauszubilden, in denen Knappheit herrscht, weshalb sie Verwaltung benötigen. Von diesen gesellschaftlichen Bereichen aus entwickelte sich alles, was man unter Fortschritt und Zivilisation versteht. Aus der Sicht von Herrn Braz, haben wir alle verinnerlicht, dass es im sozialen Gefüge Herrschende und Beherrschte gibt.

Im Anschluss stellte Herr Braz den Gedanken vor, dass all unsere Wahrnehmung der Realität von Repräsentation und Vermittlung abhängt. Die Wirbelsäule der aktuellen Gesellschaft fußt auf der Hierarchie. Es wird begonnen, eine soziale Überstruktur zu entwerfen während die Empathie weiterentwickelt wird. Dieser Prozess der Repräsentation und Vermittlung in nahezu allen sozialen Bereichen war unumgänglich, nachdem das Leben in Gruppen und Städten organisiert wurde.

Herr Braz führte im Folgenden aus, dass die Demokratie zwei Mal erfunden wurde. Zuerst im alten Griechenland, mit der Demokratie von Perikles und zum zweiten Mal von Thomas Hobbes¹. Laut ihm werden wir aktuell Zeuge davon, wie die Demokratie zum dritten Mal erfunden wird, in deren Entwicklung die neuen Netzwerke (die aus Menschen bestehen) und sozialen Netzwerke, bzw. Medien (wie Facebook und Twitter) eine entscheidende Rolle spielen.

Der Diskussionsteilnehmer sieht in dieser Evolution mit analogen und digitalen Eigenschaften den Bürger („smart citizen“) als die Hauptperson und nicht die Städte („smart city“). Als Beispiel nannte er die Besetzungen vieler Kammern des Landes durch Demonstranten, die seiner Ansicht nach eine Ausübung der direkten, ja sogar der flüssigen Demokratie ist. Zum Abschluss sagte er, dass die Mobilisierungen der letzten Monate nicht von politischer, sondern von sozialer Natur seien.

Nachdem Vinicius Braz die aktuellen Geschehnisse auf einer globalen strukturellen Ebene analysierte, ging als nächster Fabro Steibel, Professor an der ESPM, dazu über, seine Sichtweise auf der lokalen Ebene auszuführen, nämlich was auf den Strassen und in der Regierung passiert ist. Gleich zu Beginn bekräftigte er, dass er als Politikwissenschaftler noch nicht mit Sicherheit sagen könne, was gerade auf den Strassen geschieht und dass er weder eine Erklärung für die Gründe der Proteste hat, noch für den Zeitpunkt zu dem sie aufkamen.

In diesem zweiten Teil der Diskussion erklärte Herr Steibel, dass die aktuellen Mobilisierungen möglicherweise keinerlei Einfluss auf die Gesetzgebung haben werden, weil es einfach keine Mechanismen gibt, um die Forderungen umzusetzen. Deshalb befürchtet er, dass diese große soziale Bewegung, die wir momentan beobachten können, in großen Frust für Regierte und Regierung umschlagen könnte. Dies wäre nur zu verhindern, wenn jemand auf der Seite der Politik bereit wäre tatsächlich zuzuhören und einen Weg fände, um Brücken zwischen beiden Seiten zu bauen. Man darf nicht vergessen, dass wenn man von einem Vermittlungsprozess spricht, die Öffentlichkeit der größte Empfänger ist.

Der Diskussionsteilnehmer unterstreicht, dass es wie immer wenig Grund für Optimismus gäbe und erklärt dies mit folgenden Argumenten: erstens seien nur wenige Menschen wirklich online; zweitens werde die Kommunikation immer von der Regierung kontrolliert werden und drittens existiere keine einheitliche digitale Plattform. Tendenziell gibt es einen Dezentralisierungsprozess, bei dem sich eine potentielle digitale Plattform auf immer mehr Geräte, Medien und Netze verteilt, anstatt dass eine Art zentrale digitale „Black Box“ entstehen würde.

Seiner Ansicht nach hat das Volk mit den Demonstrationen eine Nachricht gesendet, so wie auch die Regierung es daraufhin getan hat. Dennoch könne man nicht von einer tatsächlichen Kommunikation oder gar einem Dialog zwischen Regierung und dem Volk sprechen. Die Hürde läge in den strukturellen Unterschieden beider. Die Regierung sei eine komplett formelle Institution, mit ihren vorgegebenen Prozessen, die nur schwer und langsam geändert werden können. Die Gesellschaft hingegen sei ein sehr flexibles Netzwerk, welches in konstanter Bewegung und Veränderung sei. Deshalb ist das Netzwerk daran gewöhnt, dass ihre Handlungen schnell seien, während jeglicher bürokratischer oder legislativer Prozess langwierig ist, womit eine zufriedenstellende Kooperation beider Akteure sehr schwierig ist.

Unter Berücksichtigung dieses Gedankens, sagt Herr Steibel, dass man von einem Konzept für eine Zusammenarbeit in Gesetzgebungsprozessen sehr weit entfernt sei. Er verweist aber auch auf den „Marco Zivil“ als ersten Anlaufversuch, der die erste Onlinebefragung der Bürger war.

Der dritte Diskussionsbeitrag stammte von Ricardo Weber, Professor an der IBMEC, der zunächst feststellte, es sei ein enormer Widerspruch, dass eine Massenprotestbewegung in diesem Moment entstanden sei, wenn man berücksichtige dass die aktuelle volkswirtschaftliche Entwicklung zu einem anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung und einer sozialen Umverteilung geführt habe. Eine Erklärung seinerseits ist, dass vor allem die Basis und die Spitze der gesellschaftlichen Pyramide von diesen Entwicklungen profitiert haben, während die Mittelklasse seit Jahren Stagnation erlebe. Außerdem bekräftigte er, dass die demokratischen Prozesse in Brasilien zunehmend an Inhalt verlieren, weil es keine politische Opposition mehr gäbe.

Herr Weber setzte damit fort zu sagen, dass die Bewegung kein Gesicht habe und dass die „black bloc“ (dem „Schwarzen Block“ in Deutschland sehr ähnlich) dieses Vakuum gefüllt haben, da sie schließlich die Führung der Bewegung dominierten. Da dies also eine gesichtslose Bewegung sei, habe sie auch keine definierte Identität, weshalb Forderungen oder Positionen nicht erkennbar sein könnten. Außerdem fragte er nach der Beziehung der Bewegung zu den politischen Parteien. Er beantwortete dies gleich mit der Aussage, dass die Bewegung Parteien ablehne und fordere, dass jemand Veränderungen vornehme, ohne selber konkrete Vorschläge zu machen.

Für den Diskussionsteilnehmer ist die Gewalt, die man auf den Strassen sieht, eine Art Spektakel. Der Versuch aber mit dem Prügel Veränderungen herbeiführen zu wollen, sei an sich besorgniserregend. Laut Herrn Weber ist die Art von Demonstrationen die man in letzter Zeit erlebt habe antidemokratisch, da sie sich schließlich den demokratischen Kanälen, die heutzutage existieren, verweigere. In den Demonstrationen erlebe man die Abwesenheit der Politik, denn für ihn sei das Spektakel der Gewalt eher eine Form von Kunst als von Politik. Er kommt deswegen zu dem Schluss, dass man die Parteien lieber durch Reformen in die Gegenwart holen müsse, statt Bewegungen zu gründen.

Zum Schluss stellte der vierte Diskussionsteilnehmer, Eduardo Murad, ebenfalls Professor an der IBMEC, seine Sichtweise zu dem Thema dar. Sein Vortrag begann mit der Frage, ob man das, was auf den Straßen zu sehen ist, als eine Bewegung bezeichnen müsse. Schließlich handele es sich möglicherweise um einen Zusammenschluss vieler kleiner Bewegungen.

Aus Sicht von Herrn Murad müsse man beginnen zu verstehen, wie die Logik der Medien funktioniere und wie die verschiedenen Gruppen es schaffen können, der Bewegung Kontinuität zu geben. Die Bewegung sei noch zu sehr im Fluss, um ihr ein Gesicht geben zu können. Anschließend sprach er über die aktuellen politischen und sozialen Bewegungen und schloss mit der Frage ab bis zu welchem Punkt es eine westliche kapitalistische Gesellschaft schaffe Fähigkeiten des kollektiven Denkens zu haben.

In der anschließenden Diskussion der Referenten mit dem interessierten Publikum, lag der Fokus auf den Praktiken der brasilianischen Regierung, wobei der Umstand betont wurde, dass es sich um ein präsidentielles System handelt. Außerdem ging es um die Reaktionen der Demonstranten gegenüber den Regierungsaktionen. Beide Teilnehmergruppen waren sich einig, dass Themen wie Korruption oder das Gefühl von der politischen Elite nicht gehört zu werden, zu den grundlegendsten Problemen der brasilianischen Demokratie gehören. Allerdings wurde auch darauf hingewiesen, dass viele der Aktionen der Protestierenden wenig den Eindruck erwecken an einem echten Dialog interessiert zu sein, sondern dass man sich darauf beschränkt die Unzufriedenheit zu artikulieren.

¹Man kann die westlichen Demokratien als hobbesianisch bezeichnen, denn erstens steht in einer modernen Demokratie der Staat für die souveräne Macht des Leviatans, weshalb er über politische Autorität verfügt und alle Lebensbereiche seiner Bürger erreichen kann. Seine Autorität wird dadurch beschränkt, dass er sich an bestimmte rechtsstaatliche Prozesse und Regeln zu halten hat. Zweitens besteht eine besondere Eigenschaft dieser Art von Demokratie darin, dass die souveräne Macht des Staates einer bestimmten Gruppe anvertraut wird, welche mittels der geheimen Wahl und des allgemeinen Wahlrechts gewählt wird.

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Kontakt

Gregory Ryan

Begrüssung KAS
Die Diskussionsteilnehmer KAS
Publikum und Diskussionsteilnehmer KAS
Fabro Steibel beim Vortrag KAS
Zuschauer beim Stellen einer Frage KAS

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