Asset-Herausgeber

Über russische Perspektiven zur Krim und die Abkehr vom Westen

Asset-Herausgeber

Russland, Februar 2014. Täglich sind die gleichen Bilder im Fernsehen: Demonstranten in Kiew, dazwischen schwarz maskierte Männer, die mit Gewalt gegen Polizisten vorgehen oder staatliche Gebäude besetzen. Dazu Kommentatoren, die von Faschisten und Kriminellen sprechen, die die Regierung stürzen wollen. Das zeigt Wirkung.

Moskau wirft dem Westen, besonders den USA vor, massiv Einfluss auf die Geschehnisse in der Ukraine zu nehmen. Vor allem die Besuche westlicher Politiker und die relativ leise Kritik gegenüber den rechten Gruppierungen auf dem Maidan werden angeprangert. Dass Mitglieder der rechtsorientierten Swoboda-Partei Posten in der neuen ukrainischen Regierung besetzen konnten und sogar den Generalstaatsanwalt stellen, wird als Nachweis für den Einfluss der „Faschisten“ auf die Politik in Kiew betrachtet.

Die Vereinbarungen vom 21. Februar 2014 zwischen dem ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch und der Opposition auf dem Maidan hielten nicht lange. Die geplante Abschaffung des Sprachengesetzes, das Russisch in vielen Regionen den Status einer Regionalsprache verlieh[1], brachte in Russland das Fass zum Überlaufen. In den hiesigen Medien wurde von Unterdrückung und Bedrohung der russischsprachigen Bewohner, sowohl der Russen als auch der Ukrainer, vor allem im Südosten und im Osten der Ukraine gesprochen. Dass der ukrainische Präsident Alexander Turtschinow den Plan der Abschaffung des Gesetzes nach kurzer Zeit wieder verhinderte, drang dagegen kaum durch – der Schaden war nicht gutzumachen. Aus russischer Sicht drohte die Situation in Kiew zu entgleiten. Die Hoffnungen, auf Entscheidungen in Kiew aktiv Einfluss nehmen zu können, schwanden.

Nun begannen die Ereignisse auf der Krim sich zu überschlagen. Die Verlautbarungen aus dem Kreml und kremlnahen Kreisen machten deutlich, dass Russland nicht einfach zuschauen würde. Die Bedeutung der Krim für Russland wurde immer wieder betont; an die Geschichte, wie die Krim 1954 von Chruschtschow als Geschenk an die damalige Ukrainische SSR überschrieben wurde, ohne dass die Bevölkerung befragt worden wäre, wurde stets aufs Neue erinnert. Dass Russland das Ergebnis des sehr schnell herbeigeführten Referendums über den Status der Krim am 16. März anerkennen würde, daran gab es keinen Zweifel. Was das aber im Konkreten bedeuten würde, blieb zunächst unklar. Noch in der ersten Märzhälfte verliefen die Gespräche mit Vertretern der politischen und wissenschaftlichen Elite inhaltlich so, dass die Vermutungen weit hinter dem zurückblieben, was dann am Ende wirklich passierte.

Wladimir Putin schuf viel schneller als erwartet Fakten. Nur zwei Tage nach dem umstrittenen Referendum verkündete er die Entscheidung, die Krim wieder russisch werden zu lassen. Die Mehrheit der Bevölkerung in Russland unterstützt seine Krim-Politik, selbst viele, die gegenüber Putin kritisch eingestellt sind. Nach einer Umfrage des Allrussischen Meinungsforschungsinstituts WZIOM mit Sitz in Moskau halten 96 Prozent der Befragten die Entscheidung zur Aufnahme der Krim für richtig.[2] Putins Umfragewerte stiegen seit März signifikant und befinden sich derzeit auf einem Höchststand von über achtzig Prozent.[3] Viele Russen sehen die Krim als „urrussisch“ an und betrachten die jetzige Aufnahme in die Russische Föderation als verspätete Korrektur der Geschichte.

Aber nicht alle Russen teilen diese Auffassung. Am 15. März demonstrierten mehrere 10.000 Menschen in Moskau gegen das Vorgehen auf der Krim.[4] Sie wurden von Putin umgehend als „fünfte Kolonne der Nationalverräter“ bezeichnet.[5] Damit waren die öffentlichen Diskussionen beendet. Wer anders denkt, spricht nur im kleinen Kreis darüber. Dass über diese Frage ein Riss durch manche Familien geht, beschreibt die junge Moskauer Journalistin Jelena Kostjutschenko in ihrem Artikel „Freude, angefüllt mit Hass“ sehr eindrücklich.[6]

Die korrekte Bewertung der Krimentscheidung gab der russische Präsident in seiner Rede im Rahmen der Föderativen Versammlung am 18. März 2014 vor. In ihr gab er die Aufnahme der Stadt Sewastopol und der Krim in die Russische Föderation bekannt.[7] Mit viel Pathos und reich an historischen Verweisen auf die über 200-jährige Geschichte der Verbundenheit der Krim mit Russland nahm Putin die Bevölkerung Russlands für sich ein. Er stellte die Behauptung auf, dass das Krim-Referendum gemäß internationaler Normen stattgefunden habe und die Aufnahme in die Föderation dem Selbstbestimmungsrecht der Völker entspreche. Auch appellierte er besonders an die Deutschen, deren Wiedervereinigung vor bald 25 Jahren Russland von Beginn an unterstützt habe. Dass in diesem Falle ein internationaler Vertrag, der Zwei-plus-Vier-Vertrag, geschlossen worden war und kein anderes Land dadurch Gebiete verloren hatte, macht den Vergleich allerdings wenig passend. Ebenso wenig hält auch der Vergleich mit den Geschehnissen im Kosovo, den der Präsident in seiner Rede anstellte, der Realität stand: Hier ist es trotz jahrelanger Verhandlungen nicht gelungen, einen Konsens herzustellen. Dieser ist an Serbien, aber mit großer Unterstützung Russlands, das immer wieder auf die Souveränität des serbischen Staates verwies, gescheitert.

Bei Diskussionen mit Vertretern russischer Thinktanks und Universitäten werden Putins Argumentationslinien vom 18. März perpetuiert. Dabei findet eine spürbare Entfremdung zwischen der russischen und der westlichen Wahrnehmung statt. Russland, so wird häufig betont, vertrete andere Werte als der Westen, und dies müsse respektiert werden. Dies beziehe sich im Übrigen auch auf die Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat.

In der Praxis spiegelt sich diese Haltung in weiteren Einschränkungen für den zivilgesellschaftlichen Bereich wider. So liegt der Duma ein Gesetzentwurf vor, der als „Anti-Maidan-Gesetz“ bezeichnet wird und der das Demonstrationsrecht weiter beschränken soll. Medien sind bereits von weiteren Restriktionen betroffen. Die beiden regierungskritischen Websites grani.ru und kasparov.ru wurden beispielsweise gesperrt. Die Chefredakteurin Galina Timtschenko von dem populären unabhängigen Nachrichtenportal lenta.ru musste gehen, um Einfluss auf die Ausrichtung der Website zu nehmen.[8] Pluralismus bei den überregionalen TV-Sendern gibt es in Russland schon seit Längerem nicht mehr.

Russland sieht seine Abkehr vom Westen als Neubesinnung auf die eigenen Kräfte – es will ein eigener Pol in einer multipolaren Welt sein. Es gibt ein gewachsenes Selbstbewusstsein und den Glauben, dass man den schwächer werdenden Westen nicht brauche. Fünfzig Prozent der Russen meinen, eine Isolation Russlands durch den Westen sei kaum möglich. Ein zusätzlicher Anteil von dreizehn Prozent ist überzeugt, dass das fast unmöglich sei. 47 Prozent glauben, dass eine Isolation Russlands keinen Einfluss auf das Land haben werde.[9] Wer das sowjetische Versorgungssystem und den Hunger der 1990er-Jahre überlebt hat, kann Sanktionen des Westens anscheinend gar nicht fürchten.[10]

Für manchen markiert Putins bekannte Münchner Rede 2007 den Wendepunkt der russischen Außenpolitik. Spätestens die Entscheidung im Jahr 2011 für eine Eurasische Wirtschaftsunion zeigt die Neuorientierung auf: Gemeinsam mit einigen zentralasiatischen Ländern, mit Belarus und – deswegen das große Interesse Russlands – mit der Ukraine soll ein eigener Wirtschaftsraum entstehen, der als eigenständiges Machtzentrum perspektivisch auch politisch enger zusammenrückt. Woher die wirtschaftlichen Modernisierungspotenziale dieses Integrationsprojekts kommen sollen, ist allerdings nicht offensichtlich.

Viele im Westen sehen in der Eurasischen Wirtschaftsunion den Wunsch Russlands, die untergegangene Sowjetunion wiederauferstehen zu lassen. Sie verweisen auf Putins Aussage aus dem Jahr 2005, dass der Untergang der Sowjetunion „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei“.[11] Allerdings haben die Bolschewisten bei der jetzigen Elite keinen guten Ruf. Vielleicht liegt der Gedanke an das alte russische Kaiserreich näher. Wichtig sind wieder die traditionellen Werte, die Anlehnung an die Orthodoxie und die eigene Größe, die immer auch als Stärke gesehen wird. Wenn heute nach Erklärungsmustern dafür gesucht wird, warum Russland diese Westabkehr vollzieht, so wird oft darauf verwiesen, dass sich Russland in den letzten Jahren häufig zurückgesetzt und gedemütigt fühlte. Die tiefer liegende Ursache könnte aber auch dieses Bedürfnis nach Größe sein. Es spielte in den letzten drei Jahrhunderten russischer Außenpolitik häufig eine Rolle und war im Zweifel wichtiger als innere Stärke. In seiner Blütezeit hatte das russische Kaiserreich eine größere Ausdehnung als die spätere Sowjetunion.

Wie im Westen, so wird auch in Russland die Frage danach gestellt, auf welche Weise der Konflikt in der Ukraine befriedet werden könnte. Ein der Krim vergleichbares Szenario wird von vielen in Russland ausgeschlossen. Aus politischen Kreisen wird immer wieder auf die Vereinbarung vom 21. Februar als Lösungsansatz verwiesen. In erster Linie geht es um die Entwaffnung aller nichtstaatlichen Gruppierungen – einschließlich der kürzlich gegründeten ukrainischen Nationalgarde, die man als Auffangbecken des rechten Sektors sieht, da eine Entwaffnung nicht möglich war. Aber auch die Aufklärung der Todesschüsse auf dem Maidan gehört dazu. Die Präsidentschaftswahl am 25. Mai wird dagegen kritisch gesehen, da in der jetzigen Situation im Osten und Süden der Ukraine die Durchführung der Wahl kaum möglich erscheint. Die letzten Gespräche zwischen Russland und der OSZE könnten allerdings als ein Hoffnungszeichen dafür gesehen werden, dass Einigungspotenzial vorhanden ist.


Claudia Crawford, geboren 1966 in Rostock, Bundesministerin a. D., Leiterin des Auslandsbüros Moskau/ Russland der Konrad-Adenauer-Stiftung.


[1] http://de.ria.ru/politics/20140223/267896328.html (letzter Zugriff am 14.05.2014)
[2] www.interfax-russia.ru/main.asp?id=486843 (Artikel zur Umfrage, letzter Zugriff am 12.05.2014) und http://wciom.ru/index.php?id=459&uid=114766 (die Umfrage selbst, letzter Zugriff am 12.05.2014). WZIOM entspricht dem englischen WCIOM.
[3] http://www.levada.ru/indeksy – siehe Tabelle: Одобряю (Путин) 82 Prozent 04.2014 (letzter Zugriff am 15.05.2014)
[4] http://www.tagesschau.de/ausland/protestputin102.html (letzter Zugriff am 12.05.2014)
[5] http://www.rg.ru/2014/03/18/obrashenie.html (letzter Zugriff am 14.05.2014)
[6] http://www.mdz-moskau.eu/ukraine-konflikt-polarisiert/ (letzter Zugriff am 13.05.2014)
[7] http://eng.kremlin.ru/news/6889 (letzter Zugriff am 14.05.2014)
[8] http://www.tagesspiegel.de/medien/wegen-ukraineberichterstattung-russische-website-feuertchefredakteurin/9609136.html (letzter Zugriff am 12.05.2014)
[9] http://wciom.ru/index.php?id=459&uid=114802 (letzter Zugriff am 12.05.2014)
[11] http://www.mdz-moskau.eu/ukraine-konflikt-polarisiert/ (letzter Zugriff am 13.05.2014)
[12] http://www.zeit.de/2005/17/Putin_Rede (letzter Zugriff am 12.05.2014)


Redaktionsschluss für diesen Beitrag war der 16. Mai 2014.