Asset-Herausgeber

Konrad-Adenauer-Stiftung
von Sönke Neitzel

Jörg Schönbohm und die Auflösung der Nationalen Volksarmee der DDR

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Die Jahre 1989/90 markieren den größten Einschnitt in der Geschichte der Bundeswehr. Die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen veränderten sich in den folgenden Jahren rasant, aber dies war zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung noch nicht abzusehen.

Die dringendste Frage war zunächst, was mit der Nationalen Volksarmee (NVA) geschehen sollte. In der Wendezeit hatte der erste zivile DDR-Verteidigungsminister Rainer Eppelmann die Vorstellung, dass beide deutsche Armeen weiterexistieren könnten. Doch in Bonn ist diese Position nie ernsthaft ventiliert worden. Als die DDR verschwand, hatte auch ihre Armee keine Existenzberechtigung mehr.

Am 3. Oktober 1990 waren von den einstmals 170.000 Männern und Frauen in NVA-Uniform nach Entlassung der Wehrpflichtigen sowie dem Ausscheiden der Generäle und anderer hoher Kader noch 51.000 Berufs- und Zeitsoldaten übrig. Zumindest ein Teil von ihnen sollte dauerhaft in die Bundeswehr übernommen werden, um eine gesamtdeutsche Armee der Einheit zu bilden. Man brauchte sie auch dringend, um das Waffen- und Gerätearsenal der NVA Schritt für Schritt abzubauen und es nicht in unbefugte Hände fallen zu lassen. Es gab weit über eine Million Handwaffen von Armee- und Parteiorganisationen, die eingesammelt und bewacht werden mussten. Zudem waren 5.000 Kettenfahrzeuge, über 70.000 Radfahrzeuge, 2.700 Geschütze und vor allem 220.000 Tonnen Munition zu entsorgen, zu verkaufen oder weiter zu nutzen.

Während die NVA schrittweise aufgelöst wurde, galt es, nach und nach neue Bundeswehrverbände auf dem Territorium der fünf neuen Länder zu bilden und so die westdeutsche Wehrorganisation auf den Osten auszudehnen. Niemand konnte voraussagen, ob sich die ehemaligen NVA-Soldaten, die am 3. Oktober 1990 vorläufig in die Bundeswehr übernommen wurden, dabei loyal verhalten würden. Mancher rechnete mit Chaos, Meutereien, sogar mit Anschlägen.

 

„Wir kommen als Deutsche zu Deutschen“

 

Die Verantwortung für diese Herkulesaufgabe übernahm der Befehlshaber des neuen Bundeswehrkommandos Ost, der im vergangenen Jahr verstorbene Jörg Schönbohm. Der damals 53-jährige General hatte eine Bilderbuchkarriere durchlaufen und war seit Anfang der 1980er-Jahre vor allem in politischen Verwendungen tätig gewesen: zuerst als Adjutant von Verteidigungsminister Manfred Wörner, zuletzt als Leiter des Planungsstabes im Verteidigungsministerium. In dieser Funktion war er mit allen politischen Hintergründen zur brisanten Frage der NVA-Auflösung vertraut. Er war zudem ein erfahrener Truppenführer, galt als unabhängiger und durchsetzungsstarker Kopf. Zudem: Schönbohm war 1937 südöstlich von Berlin in Neu Golm geboren und mit seiner Familie 1945 in den Westen geflohen. Die neue Aufgabe war für ihn auch eine Rückkehr in seine märkische Heimat.

Der Zusammenbruch der sozialistischen Ordnung hatte viele ratlose Menschen hinterlassen, und keiner wusste so recht, wie es weitergehen sollte. Auch Schönbohm musste sich erst ein Bild von der Lage verschaffen, und viele Grundsatzentscheidungen wurden nicht von ihm, sondern vom Verteidigungsministerium getroffen. So konnte er den verunsicherten ehemaligen NVA-Soldaten anfangs auch nicht sagen, wer in die Bundeswehr übernommen werden konnte. Aber er reiste viel durch das Land, besuchte zahllose Standorte, sprach mit Kommandeuren sowie mit den Soldaten, um sich ein eigenes Bild zu machen. Immer wieder gab er die Losung aus, dass die Bundeswehr nicht als Sieger oder Eroberer komme. „Wir kommen als Deutsche zu Deutschen“,1 und es gehe darum, eine Armee der Einheit aufzubauen, in der West- und Ostdeutsche mit gleichen Rechten und Pflichten dienten.

Jörg Schönbohm war ein Mann der klaren Worte, er warb um Vertrauen und darum, gemeinsam einen Beitrag zur Einigung des Landes zu leisten. Schönbohm machte aber auch klar, dass die Bundeswehr eine andere Armee ist, als es die NVA gewesen war. Er nannte die DDR-Diktatur beim Namen und verdeutlichte, dass nun das Recht des Individuums im Mittelpunkt stand, nicht mehr das Kollektiv und die SED-Ideologie. Nur wer sich der neuen Rechtsordnung verschrieb und mit der Vergangenheit brach, konnte einen Platz in der Bundeswehr einnehmen.

 

CC BY-SA 3.0 de / Bundesarchiv Bild 183-1990-1004-025, Leipzig, Befehlsübernahme Jörg Schönbohm
Generalleutnant Schönbohm bei der Befehlsübernahme am 4. Oktober 1990

Armee nicht gleich Armee

 

Die Probleme, vor denen er stand, waren enorm: Die Unterkünfte waren marode, Kommunikationsleitungen in den Westen kaum vorhanden. Die im Osten eingezogenen Wehrpflichtigen mussten zunächst im Westen ausgebildet und dann an die Standorte in den neuen Ländern versetzt werden. Dort schoben viele von ihnen langweilige Wachdienste, um die riesigen Waffen- und Munitionsdepots, die Materiallager und Fahrzeughallen zu sichern. Anfangs gab es kaum Gefechtsausbildung, weil die neuen Waffen fehlten. Die Motivation war gering, und Wehrdienstleistende hatten kein Vertrauen in die ehemaligen NVA-Vorgesetzten. Das seien „alte Stalinisten, die früher SED-hörig waren und jetzt vor Selbstmitleid zerflössen“,2 hieß es. Schönbohm hielt solche Urteile für übertrieben und würdigte das redliche Bemühen, sich den neuen Rahmenbedingungen anzupassen. Aber ihm war klar, dass der Aufbau Zeit brauchte. Viele Verbände hatten lediglich neue Bataillonskommandeure und zwei bis drei neue Offiziere und Feldwebel aus dem Westen erhalten. Die Kompaniechefs und Zugführer kamen alle aus der NVA. Es war ein Zusammenprall der Kulturen, und die wechselseitige Fremdheit war offensichtlich. Wie in einem Brennglas zeigte sich, dass Armee nicht gleich Armee war, dass die innere Logik der deutschen Streitkräfte in Ost und West vollkommen unterschiedlich gewesen war: Die aus dem Grundgesetz abgeleiteten Vorschriften, die Leitideen der Inneren Führung und des Staatsbürgers in Uniform, waren im Osten unbekannt. Anfangs fehlte auch das Personal, um den dringend notwendigen Unterricht über die neuen Rechtsvorschriften abzuhalten.

Die Vermittlung der Inneren Führung blieb in der chaotischen Situation zu Beginn der 1990er-Jahre Stückwerk. Die Bewältigung des täglichen Dienstes war dringender. Im Vordergrund stand die militärische Ausbildung der Mannschaften. Wie die ehemaligen Wehrmachtsoldaten in den 1950er-Jahren waren auch die ehemaligen NVA-Offiziere unsicher, was konkret unter Innerer Führung zu verstehen war. Die zweiwöchigen Schnellkurse konnten nicht mehr als ein Anfang sein. Problematisch war auch, dass es ein Unteroffizierkorps, wie man es im Westen kannte, in der NVA nicht gegeben hatte. Daher fehlte es auf der mittleren Ebene an Führungsverantwortung, Einstellung und Ausbildung. Die Bundeswehr unternahm gleichwohl große Anstrengungen, die NVA-Offiziere und -Unteroffiziere mit den neuen Realitäten vertraut zu machen. Tausende absolvierten ein Praktikum bei einem Truppenteil im Westen, um in die Führungsaufgaben und Verwaltungsabläufe eingewiesen zu werden. Mehr als 3.000 durchliefen an den Schulen der Bundeswehr Ergänzungslehrgänge. Zudem sorgte Schönbohm dafür, dass Patenverbände aus dem Westen die Einheiten im Osten betreuten und unbürokratische Aufbauhilfe leisteten.

In den ereignisreichen Monaten hatte es sich immer wieder als hilfreich erwiesen, dass Schönbohm das „Ohr“ von Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg hatte und in Bonn auf die besondere Lage in den neuen Ländern hinweisen konnte. So verschaffte er sich mehr Zeit bei der Auflösung der NVA, erwirkte, dass die Bundesregierung mehr Geld in die Sanierung der maroden Kasernen investierte und die soziale Absicherung der Soldaten in den Vordergrund stellte.

KAS/ACDP 10-033 : 400 CC-BY-SA 3.0 DE
Jörg Schönbohm, Wahlplakat 1999 (KAS/ACDP 10-033 : 400 CC-BY-SA 3.0 DE)

Wechsel in die Politik

 

Mitte 1991 waren die Abwicklung der NVA und der Aufbau neuer Bundeswehrstrukturen weitgehend abgeschlossen. Das Bundeswehrkommando Ost konnte aufgelöst werden, und die Teilstreitkräfte übernahmen die Führung der neu aufgestellten Verbände in der ehemaligen DDR. Jörg Schönbohm hatte seine Aufgabe erfüllt: Von den am 3. Oktober 1990 verbliebenen 51.000 Berufs- und Zeitsoldaten der NVA bewarben sich 25.000 für den weiteren Dienst in der Bundeswehr. Bis Mitte 1991 wurden 18.000 Soldaten für zunächst zwei Jahre übernommen. Außerdem taten 2.000 Soldaten aus dem Westen Dienst in den Neuen Ländern, hinzu kamen rund 20.000 Wehrpflichtige. Weitere 30.000 ostdeutsche Wehrpflichtige dienten mittlerweile in den alten Bundesländern. Die Armee der Einheit war zumindest in den Strukturen in kurzer Zeit Realität geworden. Allen war jedoch bewusst, dass es bis zur Verwirklichung der Einheit im Denken und Handeln noch ein weiter Weg war.

Jörg Schönbohm begleitete die weitere Entwicklung zunächst noch in seinem neuen Amt als Inspekteur des Heeres und schlug dann eine bemerkenswerte politische Karriere ein: Ab 1992 war er als beamteter Staatssekretär im Verteidigungsministerium für Sicherheitspolitik, Planung und Rüstung verantwortlich. Er war erst der zweite General, der in dieses verantwortungsvolle politische Amt berufen wurde. Und Schönbohm war der einzige hohe Militär, der schließlich ganz in die Politik wechselte. 1996 holte Eberhard Diepgen den geschichtsbewussten Streiter für einen aufgeklärten Konservatismus als Innensenator nach Berlin. 1999 ging er schließlich in die Brandenburger Landespolitik, amtierte dort bis 2009 als Innenminister, bis 2007 auch als stellvertretender Ministerpräsident und Landesvorsitzender der CDU.

Die Wiedervereinigung bot Jörg Schönbohm die Möglichkeit zu dieser außergewöhnlichen militärischen und politischen Karriere. Nach seinem Tod im Februar 2019 wurde er zu Recht als eine der herausragenden Persönlichkeiten der Bundeswehr und der CDU geehrt.

 

Sönke Neitzel, geboren 1968 in Hamburg, seit 2015 Inhaber des Lehrstuhls für Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt, Historisches Institut, Universität Potsdam.

 

 

 

1 Jörg Schönbohm: Zwei Armeen und ein Vaterland. Das Ende  der Nationalen Volksarmee,  Berlin 1992, S. 61.

2 Beauftragter Erziehung und Ausbildung des Generalinspekteurs: Chronik 1970–2006, Berlin 2006, S. 127.

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