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Seine Frankreichpolitik und sein Frankreichbild in einer fundierten Gesamtschau

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Ulrich Lappenküper: Bismarck und Frankreich 1815 bis 1898. Chancen zur Bildung einer „ganz unwiderstehlichen Macht“?, Ferdinand Schöningh, Stuttgart 2019, 677 Seiten, 68,00 Euro.

 

Dem 19. Jahrhundert kommt für die deutsch-französischen Beziehungen eine besondere Bedeutung zu, denn damals wechselten gegenseitige Anziehung und Ablehnung in besonders schneller Folge: Beide Völker bewunderten einander, doch beide fürchteten, ja hassten sich auch, wobei die konfliktuellen Phasen auf deutscher Seite mit keinem anderen Politiker der Zeit so sehr verbunden sind wie mit Otto von Bismarck. Insofern ist es erstaunlich, dass Bismarcks Frankreichpolitik und sein Frankreichbild bisher noch nicht systematisch untersucht worden sind.

Hier liegt die Bedeutung der Studie von Ulrich Lappenküper. Auf der Basis einer systematischen Auswertung der deutschen und französischen Quellen sowie der relevanten Fachliteratur zeichnet er Bismarcks Einstellung zu Frankreich in allen ihren Entwicklungen – und Ambivalenzen – nach und liefert nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Bismarckforschung, sondern auch zur Untersuchung der deutsch-französischen Beziehungen im 19. Jahrhundert und des internationalen Systems der Zeit. Für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts bedeutet dies, dass sich Lappenküper mit einem allgemeinen Abriss der damaligen Beziehungen zwischen den „Deutschländern“ und deren Nachbarn jenseits des Rheins bescheiden muss, denn Bismarck selbst spielte damals noch keine politische Rolle.

Immerhin wird so vor allem eine entscheidende historische Hypothek deutlich, die später auch die deutsch-französischen Beziehungen in der Bismarckzeit belasten sollte: In den „Befreiungskriegen“ von 1813 bis 1814 trat neben die traditionelle machtpolitische Rivalität und den hergebrachten territorialen Streit vergangener Jahrhunderte auf beiden Seiten erstmals eine antagonistische nationale Identität als neue Konfliktursache. In diesem Kontext markierte, wie Lappenküper herausarbeitet, die Berufung Otto von Bismarcks zum preußischen Ministerpräsidenten im September 1862 aufgrund der nun beginnenden Reichseinigungspolitik „von oben“ eine entscheidende Zäsur. Anders als die ihm bis dahin politisch nahestehenden preußischen Hochkonservativen ging Bismarck dabei nicht von einer grundsätzlichen Gegnerschaft zum revolutionären Frankreich und einer ebenso selbstverständlichen Interessenidentität mit dem restaurativen Österreich aus, sondern forderte, ein Zusammengehen mit dem Frankreich Napoleons III. nicht grundsätzlich auszuschließen.

Hierbei spielten allerdings weniger frankophile Neigungen eine Rolle, wenngleich Bismarck sie ungeachtet früher familiärer frankophober Prägungen zumindest zeitweise durchaus hegte, sondern ein rein „realpolitisches“ Kosten-Nutzen-Kalkül. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen maß er dem Zusammengehen mit Frankreich, so Lappenküper, bereits Ende der 1850er­Jahre eine „kardinale Bedeutung“ bei, da der Nachbar im Westen an einer Aufwertung Preußens in Deutschland interessiert war, während sein traditioneller Verbündeter Österreich Preußen selbst im Deutschen Bund keine Gleichberechtigung zugestand.

 

„Zwei antagonistische Nationalismen“

 

Tatsächlich stimmte der französische Kaiser einem preußischen Machtzuwachs in Deutschland zu, sofern dieser auch seinem Land territoriale Gewinne und damit weiteren politischen Einfluss einbrachte. Der unerwartet schnelle Sieg über Österreich im Deutschen Krieg von 1866, der Preußen die Möglichkeit zur kleindeutschen Reichseinigung bot, stellte dieses Kalkül indes infrage. Der etwaige Gewinn der nun von französischer Seite offen geforderten Territorien – Belgien und Luxemburg – musste entscheiden, ob der grundsätzlich friedenswillige Kaiser oder seine kriegerische Entourage die Oberhand behielt. Doch selbst nachdem sich die entsprechenden Hoffnungen zerschlagen hatten, arbeitete noch keine der beiden Regierungen zielstrebig auf einen Krieg hin. Als dieser dann aber im Zuge der Juli-Krise 1870 rund um die etwaige spanische Thronkandidatur des Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen drohte, war auch keine Seite bereit, ihm auszuweichen. Indes war dies eben kein Ergebnis zielgerichteter Politik, sondern, wie Lappenküpers minutiöse Analyse bestätigt, die Folge „zweier antagonistischer Nationalismen“, aber auch unerwarteter Entwicklungen einschließlich eines verfehlten französischen Krisenmanagements.

Immerhin schien auch dieser Krieg, wie bereits jener von 1866, wieder durch eine Entscheidungsschlacht, den deutschen Sieg in Sedan am 2. September 1870, rasch beendet werden zu können. Doch schon in einer frühen Phase der Auseinandersetzung war auf deutscher Seite die Forderung nach einer Annexion von Elsass und Lothringen erhoben worden. Dem glaubte Bismarck aus nationalpolitischen wie militärstrategischen Gründen nicht widersprechen zu dürfen. Folglich eskalierte der Deutsch-Französische Krieg: Hatten sich ursprünglich die Deutschen als Opfer einer französischen Aggression gefühlt, so glaubten nun die Franzosen, sich gegen preußisch-deutschen Expansionismus verteidigen zu müssen. Erst am 26. Januar 1871 unterzeichneten die beiden Kriegsparteien einen Waffenstillstand.

Bereits am 18. Januar 1871 war Wilhelm I. in Versailles zum „Deutschen Kaiser“ ausgerufen worden. Dies war mehr als nur eine zufällige Koinzidenz, sondern machte den Gegensatz zu Frankreich zur außenpolitischen Prämisse des Deutschen Reiches, ja zu einem identitätsstiftenden Kitt der jungen Nation. Natürlich war diese vermeintliche „Erbfeindschaft“ primär ein ideologisches Konstrukt, doch die Bestimmungen des Frankfurter Friedensvertrags vom Mai 1871, insbesondere die hier stipulierte Angliederung von Elsass und Lothringen an das neue Deutsche Reich, trugen das Ihre dazu bei.

Letztlich erwiesen sich die französischen Gebietsverluste als eine schwere außenpolitische Hypothek für die deutsche Frankreichpolitik der restlichen Bismarckzeit, zumal das Reich Elsässer und Lothringer nicht für sich gewinnen konnte und auch Bismarck, wie Lappenküper darlegt, nichts dafür tat, ihnen den Status von Staatsbürgern zweiter Klasse zu nehmen. Dem Reichskanzler schien eine dauerhafte Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten deshalb unmöglich, eine etwaige neue Auseinandersetzung hingegen wahrscheinlich und damit entsprechende Vorsorge notwendig. Dabei arbeitet Lappenküper interessanterweise heraus, wie sich hier realpolitische Überlegungen mit traditionellen antifranzösischen Ressentiments paarten. Vor diesem Hintergrund sah Bismarck 1875 noch einmal die Möglichkeit, Frankreich durch eine massive Kriegsdrohung einzuschüchtern, scheiterte indes an der Solidarisierung der übrigen europäischen Großmächte mit dem bedrohten Land.

 

Betonte Prestigepolitik

 

Deutschlands „halbhegemoniale Stellung“ (Ludwig Dehio) barg offensichtlich die Versuchung in sich, das eigene Potenzial gegen die anderen Großmächte auszuspielen, wie dies einst Napoleon I. versucht hatte, oder aber im Zuge einer betonten Prestigepolitik eine Sonderrolle innerhalb der europäischen Pentarchie anzustreben.

Lappenküpers entsprechende Analyse belegt, dass der Reichskanzler letztlich gegen beide Gefahren gefeit war; sein Bemühen, die französischen Revanchegelüste einzudämmen, verlagerte sich fortan auf die rein diplomatische Ebene mit dem Ziel, wie er 1877 im berühmten Kissinger Diktat darlegte, eine „politische Gesamtsituation“ herbeizuführen, „in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden“.

 

„Die blauen Kämme der Vogesen“

 

Eine solche optimale Konstellation erwies sich seit der russischen Verstimmung über Deutschland auf dem „Berliner Kongress“ 1878 zwar als illusorisch, doch sollte Frankreich auch fortan wo immer möglich ausgegrenzt werden, zumindest aber dauerhaft ein Keil zwischen dem deutschen Nachbarn im Westen und dem im Osten geschoben werden, sodass dem Reich auf jeden Fall ein Zweifrontenkrieg erspart blieb. Für einige Jahre – zwischen 1880 und 1885 – schien allerdings sogar ein Ausgleich zwischen Deutschland und Frankreich mittels einer engen kolonialen Zusammenarbeit möglich: Da Bismarck Deutschland als „saturiert“ betrachtete, war er bereit, territoriale Aspirationen der französischen Regierung in Übersee nach Kräften zu fördern – in der Hoffnung, dass eine solche Kompensation die Franzosen „die blauen Kämme der Vogesen“ vergessen ließe. Überdies musste eine forcierte französische Kolonialpolitik Frankreich und Großbritannien einander entzweien und damit Deutschlands außenpolitische Lage weiter verbessern. Doch diese Kooperation blieb Episode, denn am Ende wurde der hierfür aufgeschlossene französische Ministerpräsident Jules Ferry wieder gestürzt, auch weil seine prodeutsche Außenpolitik in Frankreich äußerst unpopulär gewesen war.

Fortan betrachtete Bismarck Frankreich wieder vorrangig als einen unversöhnlichen Gegner und überließ daher auch hier seinen Erben lediglich ein „System der Aushilfen“ (Lothar Gall). Der „Neue Kurs“ der deutschen Außenpolitik schuf dann allerdings nach Bismarcks Entlassung 1890 zusätzlichen Konfliktstoff sowohl im deutsch-englischen als auch im deutsch-russischen Verhältnis, sodass sich Frankreich vollends aus jener europäischen Isolierung zu lösen vermochte, die der erste Reichskanzler einst als zentrales außenpolitisches Ziel vorgegeben hatte. Es bedurfte der Erfahrung zweier Weltkriege, um die deutsch-französischen Beziehungen auf eine völlig neue Grundlage zu stellen und damit eine dauerhafte Verständigung der beiden Völker zu ermöglichen, die deutlich mit den Prämissen der Bismarckzeit brach: War Frankreich für den ersten Reichskanzler letztlich doch vor allem ein außenpolitischer „Negativfaktor“, wie Lappenküper resümiert, so wurden die Beziehungen zum Nachbarn jenseits des Rheins nach 1949 zunächst zum entscheidenden Orientierungspunkt westdeutscher und seit 1990 auch gesamtdeutscher Außenpolitik.

 

Reiner Marcowitz, geboren 1960 in Rheydt, Historiker, Professor für Deutschlandstudien, Universität Lothringen („Université de Lorraine“) in Metz.

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