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Erinnerung an Karl Carstens anlässlich seines 100. Geburtstags

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Bei der Feier zum 70. Geburtstag von Karl Carstens, der am 14. Dezember 1914 in Bremen geboren wurde, sprach Bundeskanzler Helmut Kohl von einer Lebensgeschichte, die eine Sonderstellung einnehme. Es gebe nur wenige, die dem Land in so vielen Ämtern gedient hätten. Sein 100. Geburtstag erinnert jetzt an Carstens’ politische Laufbahn.

Seine Erfahrungen während der NS-Diktatur hielten Karl Carstens zunächst davon ab, in den Staatsdienst einzutreten. Erst ein Studienaufenthalt in den USA 1948/49 änderte seine Meinung. Der Präsident des Bremischen Senats, der Sozialdemokrat Wilhelm Kaisen, konnte den Rechtsanwalt dafür gewinnen, im Oktober 1949 als Landesbevollmächtigter nach Bonn zu gehen. Carstens hatte großen Anteil an der Erhaltung der Eigenstaatlichkeit oder der Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen Bremens.

Auf Betreiben Konrad Adenauers wechselte Carstens, der zugleich seine wissenschaftliche Karriere betrieben hatte, im August 1954 in den Auswärtigen Dienst; wenig später trat er in die CDU ein. Er folgte der Werteskala Adenauers: Freiheit, Frieden, Einheit. Es war kein Zufall, dass Carstens im September 1955 mit der Leitung der für die europäische Einigung zuständigen Unterabteilung im Auswärtigen Amt betraut wurde. Mit Beginn der Brüsseler Konferenz zur Ausarbeitung von Verträgen über eine Europäische Wirtschafts- und Atomgemeinschaft im Juni 1956 hatte er den Vorsitz einer interministeriellen Koordinierungsgruppe inne. Er stellte die freiheits- und friedenssichernde Funktion eines vereinten Europa heraus, das institutionell stark sein sollte.

 

Neue Wege in der Ostpolitik

Als Staatssekretär des Auswärtigen Amts unterstützte Carstens ab Juli 1960 neue Wege in der Ostpolitik, für die Außenminister Gerhard Schröder verantwortlich zeichnete. 1963/64 konnten Handelsvertretungen in Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien eröffnet werden. Im September 1965 führte Carstens politische Gespräche in Moskau. So wichtig diese Transformationsphase auch war, ihre Grenzen markierten die Nichtanerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Grenze. Daran änderte sich auch 1968/69 nichts, als Carstens unter Kurt Georg Kiesinger das Kanzleramt leitete. In dieser Funktion war er auch als Reformer gefragt, der eine Reorganisation dieser Bundesbehörde in die Wege leitete.

Nach dem Ende seiner Laufbahn als politischer Beamter übernahm Carstens Anfang 1970 die Leitung des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Die Deutschland- und Ostpolitik Willy Brandts betrachtete er kritisch. 1972 kandidierte er erfolgreich für den Bundestag und katapultierte sich rasch in die erste Reihe der Unionsfraktion. Mit einer fulminanten Rede über die deutsche Nation am 15. Februar 1973 begründete er die Ablehnung des Grundlagenvertrags mit der DDR vom Dezember 1972. Im Mai 1973 wählte ihn die Fraktion zu ihrem Vorsitzenden.

 

Kampf gegen Verfassungsfeinde

In der Innenpolitik standen unter anderem die Bildungspolitik, die Bekämpfung des RAF-Terrorismus und der Umgang mit verfassungsfeindlichen Kräften, zum Beispiel DKP-Mitgliedern, im Mittelpunkt. Carstens trat vehement für die freiheitlich-demokratische Ordnung ein. So verurteilte er die Indoktrinierung mit marxistischer Ideologie, wie sie sich in den Rahmenrichtlinien für das Fach Gesellschaftslehre in Hessen manifestierte, als politpädagogische Eingriffe, die „bisher nur von den Nationalsozialisten und den Kommunisten bekannt“ waren; das sei der geistige Nährboden, auf dem der Terrorismus gedeihe.

Carstens legte die heterogene Fraktion auf einen harten Kurs fest, wirkte aber intern integrierend. Rhetorisch begabt und analytisch scharf, hielt er Herbert Wehner oder Helmut Schmidt stand. Doch nicht immer erwies sich seine Linie als weitsichtig. Beispielsweise stellte sich die KSZE-Schlussakte von 1975, deren Unterzeichnung er ablehnend gegenüberstand, als ein wichtiger Bezugspunkt für die Bürger- und Menschenrechtsbewegungen in Osteuropa heraus.

 

Weg zum Staatsoberhaupt

Mit einem wenig glanzvollen Ergebnis wurde Carstens im Dezember 1976 zum Präsidenten des Bundestags gewählt. Allerdings stieg seine Anerkennung, da er parteipolitische Neutralität und Integrationskraft unter Beweis stellte. Im Mai 1979 nutzten CDU und CSU ihre Mehrheit in der Bundesversammlung und wählten ihn zum Bundespräsidenten. Seine Kandidatur war umstritten, selbst in den eigenen Reihen: Carstens hatte 1937 einen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP gestellt, um sein berufliches Fortkommen zu sichern.

Viele politische Beobachter sahen in seiner Präsidentschaft den Auftakt für den politischen Machtwechsel in Bonn. Eine Abwendung von der sozialliberalen Koalition zeigte das Verhalten der FDP an, die nicht für die SPD-Kandidatin stimmte, sondern sich bei der Wahl enthielt.

Als Staatsoberhaupt stellte Karl Carstens bürgerliche und christliche Tugenden in den Mittelpunkt. Immer wieder kam er auf die Verantwortung des Einzelnen zu sprechen – für die Familie, die Gesellschaft und den Staat. Ihn als Vorkämpfer einer geistig-moralischen Wende zu beschreiben, wäre jedoch unangemessen. Carstens wollte ein ausgewogenes Geschichtsbild vermitteln und freiheitliche Traditionen betonen: „Zwölf Jahre dürfen sich nicht wie ein Riegel vor unsere ganze Geschichte schieben.“

Vor die schwerste Belastungsprobe sah sich Carstens gestellt, als Bundeskanzler Helmut Kohl am 17. Dezember 1982 eine unechte Vertrauensfrage mit dem Ziel stellte, zu Neuwahlen zu kommen, um seiner Regierung Legitimität zu verleihen. Carstens hatte rechtliche Bedenken, traf aber mit seiner Anordnung über die Auflösung des Bundestags eine politische Entscheidung.

 

„Durchdachter Sachverstand“

Carstens war nie ein unpolitischer Präsident. Entschieden verteidigte er das Bündnis mit den USA, die NATO und die Bundeswehr. Er machte deutlich, dass die Urteile der Friedensbewegung über die sicherheitspolitischen Begebenheiten naiv seien. Konsequent befürwortete er die Dislozierung neuer nuklearer Mittelstreckensysteme, sollten die INF-Verhandlungen (Intermediate Range Nuclear Forces) zwischen den USA und der UdSSR scheitern. Gegenüber dem sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew betonte er im November 1981, dass der Nachrüstungsteil des NATO-Doppelbeschlusses anderenfalls umgesetzt werde.

Als Karl Carstens am 30. Mai 1992 gestorben war, würdigte ihn Bundespräsident Richard von Weizsäcker: „Was in Deutschland nur allzu selten gelingt, vereinigte er in seiner Person: die Verbindung eigener wissenschaftlicher Erkenntnis mit staatlicher Praxis. Sie befähigte ihn zeitlebens, die Theorie auf den Prüfstand der Lebenswirklichkeit zu stellen, andererseits aber der Oberflächlichkeit des politischen Alltags mit durchdachtem Sachverstand zu begegnen.“ Die Erinnerung an ihn sollte zugleich ein Impuls sein, Politik heute im Sinne seiner Verbindung von theoretischer Reflexion und praktischer Klugheit zu gestalten.

 

Tim Szatkowski, geboren 1976 in Bremen, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Edition der „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“ (AAPD) des Instituts für Zeitgeschichte im Auswärtigen Amt in Berlin, Redakteur des Rezensionsjournals „sehepunkte“ für den Bereich „Zeitgeschichte Westeuropa“.

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