Nachdem die Rockefellers, eine der reichsten Industriellenfamilien der USA, den fossilen Energien fast vollständig den Rücken kehren wollen, Firmen wie BMW Elektroautos im Rahmen von Carsharing anbieten, die konservativ-liberale Frankfurter Allgemeine Zeitung dem Veganismus eine ganze Seite widmet und rund 3.000 vorwiegend junge Menschen zur Degrowth-Konferenz nach Leipzig pilgern, dürfte klar geworden sein, dass das Thema Nachhaltigkeit in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Immer mehr Menschen richten ihr Handeln an diesem Prinzip aus – auch wenn der Begriff schwammig ist und derzeit nahezu so inflationär gebraucht wird wie das Wort „sozial“.
76 Prozent der Deutschen gaben im Frühjahr 2014 an, fast vollständig ihren Müll zu trennen. 61 Prozent bekundeten, sie bemühten sich, ihren Energieverbrauch zu verringern, indem sie mit Strom betriebene Geräte ganz ausschalteten oder energiesparende Produkte kauften. 52 Prozent achteten nach eigenen Angaben darauf, Ressourcen dadurch sparsamer einzusetzen, dass sie Produkte länger nutzten. 48 Prozent bevorzugten Lebensmittel aus der Region.[1] Auch sehen immer mehr Menschen in Deutschland den westlichen Lebensstil mit kritischeren Augen. So meinten 2013 rund 70 Prozent der Deutschen, dass diese über ihre Verhältnisse lebten und zu viel Energie und Rohstoffe verbrauchten. Nur jeder Sechste hielt diese Auffassung für übertrieben.[2]
Starkes Votum für den Umweltschutz
In Deutschland vollzieht sich ein Bewusstseinswandel. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen weiß, dass eine intakte und vielfältige Natur zu einem guten Leben gehört.[3] Das gewachsene Bewusstsein für den Zustand von Natur und Umwelt hat ihren Blick geweitet und sie auch für Probleme in anderen Bereichen sensibilisiert. Lebensqualität wird zunehmend nicht mehr nur an Wirtschaftswachstum und materieller Wohlstandsmehrung, sondern auch an immateriellen Wohlstandsformen wie Zeitsouveränität, Gesundheit, intakte Natur, gesellschaftlicher Zusammenhalt oder eine gleichere Einkommensverteilung festgemacht. Dies hat auch die Einstellung der Bevölkerung zur Wirtschaft und zu deren Ordnung verändert. Bereits 2010 plädierten fast 90 Prozent der Bürger in Deutschland für eine neue Wirtschaftsordnung, in der Umweltschutz einen höheren Stellenwert als bisher hat und die nach größerem Ausgleich in der Gesellschaft strebt. Wohlstand, der durch Schädigung der Umwelt oder durch hohe Staatsverschuldung erkauft wird, lehnten 80 Prozent der Bevölkerung ab.[4] Angesichts von globaler Bevölkerungsexplosion und Klimawandel kommen immer mehr Menschen zu der Überzeugung, dass grenzenloses Wachstum in einer Welt begrenzter Ressourcen nicht möglich ist. Mittlerweile votieren 48 Prozent der Deutschen für mehr Umweltschutz, selbst wenn dadurch das Wirtschaftswachstum verringert wird. 39 Prozent räumen dagegen dem Wachstum der Wirtschaft und der Schaffung von Arbeitsplätzen Priorität vor dem Schutz der Umwelt ein.[5]
Ein Blick auf die Wirklichkeit zeigt jedoch, dass gewollte und gelebte Nachhaltigkeit weit auseinanderklaffen. So lehnt zwar jeder dritte Deutsche ab, Kleidung zu kaufen, die durch Kinderarbeit entstanden ist. Doch sprechen die Umsätze von Billigangeboten eine andere Sprache. Auch stimmten 2013 95 Prozent der Deutschen der Aussage zu, dass es die Pflicht der Menschen sei, die Natur zu schützen.[6] Zugleich geht jedoch beispielsweise in Brasilien die Zerstörung des größten Regenwaldgebietes der Welt weiter. Allein von Mitte 2012 bis Mitte 2013 wurde im Amazonasbecken mit 5.891 Quadratkilometern eine Fläche gerodet, die einem Drittel des Bundeslands Sachsen entspricht.[7] Die Folge: Die Menschheit zerstört ihre natürlichen Lebensgrundlagen mit wachsender Geschwindigkeit. Folgt man dem neuesten Bericht des WWF, hat sich der Artenschwund dramatisch beschleunigt. Etwa 10.000 Arten sterben jährlich aus, rund 30 Prozent gelten als gefährdet. Die Zahl der Säugetiere, Vögel, Fische und Pflanzen hat sich zwischen 1970 und 2010 halbiert![8] Mittlerweile beansprucht die Weltbevölkerung die Ver- und Entsorgungskapazitäten von 1,5 Globen. 2030 werden es zwei sein. Auch in Deutschland gibt es keine Anzeichen für eine Trendwende. Trotz aller Klimaschutzmaßnahmen, Mülltrennung und Energiesparlampen verbrauchen die Deutschen (prozentual auf die Weltbevölkerung hochgerechnet) seit 2004 die Ressourcen von etwa 2,5 Erden.[9]
Zwar gibt es auch positive Meldungen wie die, dass das Loch in der Ozonschicht, die die Erde vor den UV-Strahlen der Sonne schützt, kleiner geworden ist – ein Zeichen dafür, dass die ergriffenen Maßnahmen wirken. Aber die Gefahr besteht, dass Erfolge auf der einen Seite durch höheren Konsum auf der anderen Seite zunichte gemacht werden. Dieser sogenannte Reboundeffekt verhindert, dass Bevölkerungs- und/oder Wirtschaftswachstum sowie Ressourcenverbrauch wirksam entkoppelt werden. Dabei wäre die Entkopplung von Bevölkerungs- und/oder Wirtschaftswachstum sowie Ressourcenverbrauch die Voraussetzung, um nachhaltig zu produzieren und zu konsumieren und damit zu Wirtschafts- und Lebensweisen zurückzukehren, die sich innerhalb der Tragfähigkeitsgrenzen der Erde befinden.
Denken und Handeln klaffen auseinander
Warum klaffen Sicht- und Verhaltensweisen im Bereich Nachhaltigkeit so weit auseinander? Die Gründe sind vielfältig. Da gibt es Menschen, die nicht wissen, wie beispielsweise mit naturbelassenen Lebensmitteln eine gute Mahlzeit zubereitet werden kann oder kaputte Gebrauchsgegenstände repariert werden können. Über Jahrhunderte erworbenes Wissen über natürliche Zusammenhänge droht verloren zu gehen.
Für Nachhaltigkeit zu sein, gehört heute für viele zum guten Ton. Wenn sie allerdings selbst nachhaltig handeln sollen, weichen sie aus. Für Nachhaltigkeit sollen andere sorgen, am besten Wirtschaft und Staat. So stehen den bereits erwähnten 95 Prozent der Deutschen, die es für eine Menschenpflicht halten, die Natur zu schützen, nur 18 Prozent gegenüber, die sich hierfür persönlich verantwortlich fühlen. Dass es sich bei Nachhaltigkeit häufig nur um eine Schönwetter-Strategie handelt, wird auch deutlich, wenn nach den politischen Prioritäten in wirtschaftlichen Krisenzeiten gefragt wird. Zwar sehen beispielsweise 86 Prozent Naturschutz als wichtige Aufgabe an. Aber die Mehrheit will dem Schutz der Natur nicht zu jeder Zeit Priorität einräumen. So plädieren 62 Prozent dafür, in Krisenzeiten Gelder für den Naturschutz zu kürzen. Zudem: Der Mensch lebt seine Gewohnheiten. Viele sind zu bequem, um ihre ressourcenintensiven Lebensweisen aufzugeben und nachhaltigere zu pflegen. Dies gilt zum Beispiel für die meisten der 60 Prozent deutscher Autofahrer, für die das Auto das Hauptverkehrsmittel im Alltag ist. Nach den Gründen für ihre Verkehrsmittelwahl gefragt, geben fast alle Bequemlichkeit und Schnelligkeit an.
Immer mehr Menschen verhalten sich nachhaltig, indem sie beispielsweise urbane Gärten anlegen oder in Passivhäuser investieren. Wie aber kann der Ressourcenverbrauch sinken, wenn in dem Passivhaus so viele Flachbildschirme und Computer wie Zimmer installiert werden oder wenn urbane Gärtner ihre Ferien in der Karibik verbringen oder zu einer Umweltkonferenz nach Brasilien jetten? Die ökologischen Folgen dieses Verhaltens werden verdrängt. Viele vermeiden eine echte Umweltbilanzierung ihres Verhaltens.
Der Hauptgrund für die Diskrepanz zwischen Wollen und Tun liegt jedoch darin, dass es Individuen, aber mehr noch Gesellschaften unendlich schwer fällt, über Jahrzehnte eingeübte Verhaltensmuster aufzugeben. Denn diese stehen nicht nur in Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Institutionen, die sie wiederum formieren und verstärken, sondern sind auch Quelle gesellschaftlichen Prestiges und Status. Es geht heute um nichts Geringeres als um den Wandel einer Gesellschaft, die ihre Probleme bislang nicht selten durch die Ausweitung ihres Ressourcenverbrauchs löste, hin zu einer Gesellschaft, deren Ziel es sein sollte, möglichst wenig Materielles zu benötigen.
Bisher ist erst in Umrissen erkennbar, wie nachhaltige Wirtschafts- und Lebensweisen aussehen könnten. Zwar gibt es eindrucksvolle Beispiele dafür, wie Menschen mit geringerem Ressourceneinsatz nicht nur ausreichend mit Gütern und Diensten versorgt werden können, sondern dies sogar als Lebensbereicherung empfinden. Aber solange nicht überzeugend geklärt ist, wie innere und soziale Sicherheit, Infrastruktureinrichtungen, ein hoher Beschäftigungsstand, ausgeglichene Haushalte und vieles andere mehr in einer Gesellschaft gewährleistet werden, deren Wirtschaft und materieller Wohlstand – wofür vieles spricht – nicht mehr wachsen, bleibt die Akzeptanz kultureller Erneuerung gering. Auch wenn diese Themen inzwischen Eingang in die Forschungsagenda gefunden haben, besteht nach wie vor Forschungsbedarf. Wichtig ist ferner, dass auch auf politischer und staatlicher Ebene ein Bewusstseinswandel vollzogen und wachstumsfokussiertes Denken überwunden wird. Darüber hinaus muss jetzt alles darangesetzt werden, um auch international – etwa auf dem nächsten großen Klimagipfel im Dezember 2015 in Paris – zu verbindlichen Klimazielen für die Zeit nach 2020 zu kommen.
Stefanie Wahl, geboren 1951 in München, 2006/2007 Mitglied in der CDU-Grundsatzprogrammkommission, seit 2008 Geschäftsführung des Denkwerks Zukunft – Stiftung kulturelle Erneuerung.
[1] Vgl. Europäische Kommission (2014), Attitudes of European citizens towards the environment, Special Eurobarometer 416, Brüssel.
[2] Vgl. Miegel, Meinhard (2013), Der Anfang ist gemacht, FAZ-Spezial, 23.10.2014.
[3] Vgl. Bundesumweltministerium (2014), Naturbewusstsein 2013, S. 9.
[4] Vgl. Bertelsmann Stiftung (2010), Umfrage: Bürger wollen kein Wachstum um jeden Preis.
[5] Die verbleibenden 13,1 Prozent verteilten sich auf „andere Antwort“, „keine Antwort“ sowie „weiß nicht“. Vgl. World Values Survey, wave 6 (2010–2014), Results, S. 103.
[6] Vgl. Bundesumweltministerium (2014), S. 9.
[7] Vgl. The Guardian (2014), Amazon deforestation jumps 29% in a year, 11.09.2014.
[8] Vgl. WWF (2014), Living Planet Report 2014, S. 8.
[9] Vgl. Denkwerk Zukunft (2014), Das Wohlstandsquintett 2014, S. 20 f.