Vor bald siebzig Jahren hielt in Andernach der erste Kanzler unserer Republik seine Rede aus Anlass der Vereidigung der ersten Soldaten der Bundeswehr. Als ich diesen Herbst meinen Amtssitz für drei Tage in die Stadt am Rhein verlegt habe – die siebzehnte meiner „Ortszeiten“ in ganz Deutschland –, war der Besuch am historischen Ort der Bundeswehrgründung Pflichtprogramm. Mit dem Faksimile jener Rede in der Traditionsbaracke der Krahnenberg-Kaserne vor Augen wurde mir einmal mehr klar, wie bedeutend und wie aktuell das politische Erbe von Konrad Adenauer für unser Land gerade heute ist.
Mit Konrad Adenauers Kanzlerjahren verbinden wir nicht nur politische Klugheit und Durchsetzungsstärke, er prägte darüber hinaus die Ausgestaltung der bundesrepublikanischen Verfassungsordnung in einer Zeit, als das Grundgesetz jung war, noch unerprobt, und sich noch keine Staatspraxis der Nachkriegsdemokratie etabliert hatte. Die Belastungen des Neuanfangs waren riesig, schier untragbar. Ein Land, das buchstäblich in Trümmern lag, eine Bevölkerung ohne politischen Kompass nach den Versehrungen des zurückschlagenden Krieges und nach der Katastrophe totalitärer Diktatur, die von außen niedergekämpft und besiegt wer- den musste, eine Nation, die ihren moralischen Kredit restlos verspielt zu haben schien, gerade- zu geächtet von den Opfern des Nationalsozialismus, den Überlebenden des Holocaust, von denen, die von deutscher Besatzung und Vernichtungskrieg heimgesucht worden waren. In diese Zeit hinein ragt die Orientierungskraft Adenauers als das unverzichtbare Momentum des beinah unglaublichen Erfolgs der Bundesrepublik.
Adenauers Andernacher Rede ist so bemerkenswert, weil sie eine der strittigsten seiner Weichenstellungen dokumentiert, die Wiederbewaffnung, verbunden mit der Einbindung in das westliche Bündnis. Die Bundesrepublik ist über diese und andere große Streitfragen ihrer Gründungszeit nicht zerbrochen, sie ist daran gewachsen. Woran liegt das?
Das Ringen um die richtige Position
Demokratie braucht den Streit, sie braucht aber nicht minder eine politische Kultur, die sich im Ringen um die richtige Position bewusst bleibt, dass die freiheitliche Ordnung alle Bürgerinnen und Bürger verbindet. Auf unsere Fähigkeit, „wir“ zu sagen, wenn wir streiten, können wir nicht verzichten. Die Verlegung des bundespräsidialen Amtssitzes aus Berlin in kleinere Städte unseres Landes dient einer Wiederbelebung demokratischer Streitkultur. In Andernach habe ich die sieben Jahrzehnte nach Adenauers Rede heute erneut hoch umstrittene Frage der Wehrpflicht und einer allgemeinen Pflichtzeit diskutiert. Dabei war eine Frau in Uniform ebenso wie eine Friedensaktivistin. Diskutiert haben sowohl politisch engagierte junge Leute, die keine Wehrpflicht mehr kennen, als auch ältere Jahrgänge, die noch selbst- verständlich den Wehrdienst absolviert haben. Wenn wir in solchen Richtungsentscheidungen wie der Dienstpflicht unseren Weg suchen, spielen die politischen Brüche, Krisen und Bedrohungen unserer Zeit eine herausragende Rolle. Dennoch helfen uns Erfahrungen, die wir Deutschen nach 1945 gemacht haben. Die Erinnerung an Konrad Adenauer gehört dazu.
„Einziges Ziel der deutschen Wiederbewaffnung ist es, zur Erhaltung des Friedens beizutragen“, sagte er in Andernach im Januar 1956. Die Abwehrkraft der Verbündeten müsse ein zu großes Risiko für jeden Angreifer dar- stellen. „In einer solchen militärischen Stärke, die lediglich für unsere Verteidigung aus- reicht, kann niemand eine Bedrohung erblicken.“ Adenauer, der kurz zuvor seinen acht- zigsten Geburtstag begangen hatte, stand im Zenit seiner Kanzlerschaft, als er die Aufstellung westdeutscher Streitkräfte durchsetzte. Er bewies auch hier seine Führungsstärke angesichts harter Kritik, seine Unbeirrbarkeit, wo er ein Ziel vor Augen hatte. Doch nicht nur das muss uns interessieren. Ihn bewegte vor allem die Zäsur, die dieser Moment in der deutschen Geschichte herbeiführte. Es waren „neue“ Streitkräfte, nicht die alten in neuer Uniform, wie die Kritiker argwöhnten. Mit Adenauer endete die unselige Geschichte des deutschen Militarismus. Und obwohl ehemalige Wehrmachtsangehörige beim Aufbau der Bundeswehr mitwirkten, bleibt es eine Tatsache: Mit Adenauer beginnt die Tradition der Armee einer Demokratie, die sich, so sagte er es, gleichberechtigt im Bündnis „freier Völker“ weiß.
Adenauer hielt eine kurze und gewiss keine pathetische Rede. Es ist bekannt, wie sehr er den aufgeheizten Massenemotionen misstraute, für wie propagandaanfällig er die Deutschen hielt. Zu viele hatten unter Hitler mitgeschrien, mitgetan, waren in vielfältiger Weise Komplizen und Zuträger des Regimes gewesen. Jedem neuen Nationalismus galt es die nüchterne Vernunft realistischer Politik entgegenzusetzen, für die als Lehre aus der deutschen Vergangenheit die Bundesrepublik fortan stehen sollte. Das bedeutete: Westbindung, NATO-Mitgliedschaft und europäische Integration anstelle von territorialem Revanchismus oder deutscher Einheit ohne Recht und Freiheit. Die Einheit erlebte Adenauer tatsächlich nicht, aber seine Vorhersage, sie werde, wenn man standhaft im Bündnis der Demokratien bleibe, in Freiheit kommen, hat sich bewahrheitet.
Wachsame Bewahrung der Freiheit
Je weniger selbstverständlich in unserer Zeit die politischen Errungenschaften der Ära Adenauer werden, desto mehr Gewicht hat die Erinnerung an ihn. Zu Recht, denke ich, denn je ernster die Bewährungsprobe der Bundesrepublik, desto wichtiger Adenauers Beispiel. Manche Konstanten, von denen er sicher ausgehen konnte, wie das Wohlwollen und der Beistand der Vereinigten Staaten, sind heute gebrochen oder ungewiss. Deshalb sprechen wir vom politischen Westen inzwischen mit Fragezeichen. Doch die Gemeinschaft der freiheitlichen Demokratien, die Einheit und die Friedensordnung Europas, nicht zuletzt, Schritt für Schritt, die innere Befreiung der Deutschen von antidemokratischer Tradition nach 1949 und 1989 sind ein Erbe, das in unseren Händen liegt.
Adenauer war sicherlich ein illusionsloser Antikommunist, aber er hat auch zu den Rechtsextremisten eine unzweideutige Haltung eingenommen. Anpassungswillige unter den vormaligen Funktionären des Dritten Reiches wusste er zu integrieren, in manchen Fällen zum bitteren Schmerz der Opfer des Nationalsozialismus. Die Unverbesserlichen aber fanden in ihm einen harten Gegner. Er hatte eine so klare historische Orientierung, dass er Verfassungsfeinden der extremen Rechten, die sich gegen die Bundesrepublik stellten, dem Neonationalismus und der Verherrlichung des NS-Regimes in Gestalt der „Sozialistischen Reichspartei“ erfolgreich den Kampf ansagte.
„Die wachsame Bewahrung der Freiheit ist eine gemeinsame Aufgabe aller Staatsbürger“, mahnte Konrad Adenauer in seiner Andernacher Rede, die ich gerne wieder gelesen habe. Wenn wir in diesen Wochen an seinen 150. Geburtstag erinnern, kann uns dieser einfache Satz, der so großes Gewicht hat, die Richtung anzeigen.
Frank-Walter Steinmeier, geboren 1956 in Detmold, seit 2017 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland. Aus Anlass von 75 Jahren Bundesrepublik erschien 2024 sein Essay „Wir“ im Suhrkamp Verlag.