„Sprache ist nur im Gespräch“ – so lautet ein gedankenweckendes Paradox, das der Philosoph Hans-Georg Gadamer (1900–2002) zu einem festen Bestandteil seiner Reflexionen über das Menschheitsmerkmal Sprache gemacht hat. Natürlich wusste der Begründer der philosophischen Hermeneutik sehr genau, dass sich der modus essendi, die Seinsweise von Sprache und Sprachen –, des Deutschen etwa oder des Koreanischen – nicht auf ihren gesprächsweisen Vollzug, ihre soziale Aktualisierung in Rede oder Schrift reduzieren lässt. Als Vermögen des Menschen ebenso wie als dispositionale Struktur von je bestimmter Prägung – des Deutschen hier, des Koreanischen dort – ist Sprache vielmehr auch eine überaktuelle Realität: virtuell, abstrakt und von normativer Kraft – der Kraft des kollektiv Eingewöhnten und nach gemeinschaftlich geteilten Maßstäben Richtigen, wie es Grammatiken und Wörterbücher kodifizieren. Sprache hat ihr Sein nicht nur im Gespräch, sondern vielmehr auch als Kompetenz und als System.
Indessen sind die Regelsysteme natürlicher Sprachen ihrerseits nicht invariant starre, sondern wandelbare, geschichtlich sich entwickelnde Systeme. Und es ist eben das Gespräch im weitesten Sinne – der lebendige Sprachgebrauch der über die Welt und miteinander Sprechenden oder Schreibenden –, durch den sich der Wandel der Systeme vollzieht: in rieselnder Langsamkeit zumeist, bisweilen freilich auch in abrupten Schüben wie etwa beim Aufkommen neuer Wörter oder Wendungen, die sich in Windeseile massenhaft verbreiten. Gadamer hat also in wohlbestimmter Hinsicht recht: Auch als sprachgebrauchsorientierendes Regelsystem bleibt Sprache von ihrer faktischen Praxis umgriffen – und in diesem Sinne „im Gespräch“.
Die eigentliche Pointe der Gesprächsemphase Gadamers ist indessen keine historische oder meta-historische, sondern eine philosophische. Nicht die wesenhafte Geschichtlichkeit der Sprache(n) bildet den Fluchtpunkt des eingangs zitierten Diktums, sondern ihre Kommunikativität: die schwerlich zu überschätzende und allerdings fragile Funktion, Medium interpersonalen Verstehens und interpersonaler Verständigung zu sein. Es ist denn auch ein normativ gehaltvoller, an Wahrheitserkenntnis und vernünftiger Konsensbildung orientierter Begriff von Gespräch, den Gadamer in seinem 1960 erschienenen Hauptwerk Wahrheit und Methode und thematisch einschlägigen Arbeiten der Folgezeit entfaltet hat – so in den Aufsätzen Mensch und Sprache (1966), Sprache und Verstehen (1970) oder – schon vom Titel her problembewusst und mit Hindernissen, äußeren wie inneren, rechnend – Die Unfähigkeit zum Gespräch (1972).
Wie man das Sprechen verliert
In diesem letztgenannten Essay, der sich wie die anderen auch in Band II seiner Gesammelten Werke nachlesen lässt, identifiziert Gadamer viele Jahrzehnte vor den medientechnologisch induzierten Kalamitäten unserer Zeit „objektive gesellschaftliche Umstände“, „durch die man das Sprechen verlieren kann, das Sprechen nämlich, das Zu-jemandem-Sprechen ist und Auf-jemanden-Antworten ist und das wir ein Gespräch nennen“. Man könne sich, so schreibt er, einen „Fortschritt der Technik ausmalen, […] bei dem man sozusagen eine Brille aufhat, durch die man nicht mehr hindurchsieht, sondern Fernsehen sieht, etwa wie man manchmal jemanden durch den Odenwald wandern und dabei den wohlvertrauten Klängen und Schlagern lauschen sieht, die er in einem Transistorgerät mit sich spazieren trägt.“
Dass die so – unter den Vorstellungsbedingungen der frühen 1970er Jahre – noch gleichsam idyllisch eingehegte Dystopie des Mediensolipsismus inzwischen in Gestalt von VR-Brillen käufliche Wirklichkeit geworden ist und dass andere, weniger „immersive“, aber kaum weniger solipsistische Formen der Medien- und Gerätenutzung durchweg zur Schwächung und nicht etwa zur Stärkung unserer Gesprächsfähigkeit beitragen, wissen wir. Wir wissen ferner, dass die Abfackelung von Meinungen samt der hinzugehörigen Affektstöße auf X und anderen Plattformen in den allerwenigsten Fällen zu Initialzügen ernsthafter Wechselrede geschweige denn gründlicher Auseinandersetzung werden – und dass die kommunikationstechnische Dominanz der Emission und Konsumtion winziger Zeichenmengen nicht nur zur Schrumpfung von Aufmerksamkeitsspannen, zur oberflächlichen Textverarbeitung und zum progressiven Verlust von Lesekompetenz führt, sondern auch mit der Zementierung von Filterblasen und Echokammern einhergeht, in denen ja gerade nicht Gespräche geführt, sondern in eisernem Schon-verständigt-Sein kollektive Monologe exekutiert werden.
Verwilderte Redewelt
Auch zur sozioepistemischen und soziomoralischen Pathologie solcher Echokammern lässt sich aus Gadamers Text Die Unfähigkeit zum Gespräch Bedenkenswertes zitieren: „Nur der überhört oder hört falsch, der sich selbst ständig zuhört, dessen Ohr gleichsam so erfüllt ist von dem Zuspruch, den er sich selbst ständig zuspricht, indem er seine Antriebe und Interessen verfolgt, daß er den anderen nicht zu hören vermag.“ Als Verlautbarungen eines weisen Propheten gegenwärtiger Missstände sollte man Gadamers Beiträge zur Philosophie des Gesprächs indessen doch nur in zweiter Linie lesen. Wichtiger als die ihnen beigemischten Warnrufe, von denen sich inzwischen nicht wenige erfüllt oder sogar übererfüllt haben, sind gerade heute die positiven, konstruktiven Intuitionen, für die Gadamers Dialoghermeneutik in resilientem Optimismus wirbt: normativ unveräußerliche Erinnerungen, wie man sie wohl nennen darf, an die humane Möglichkeit des Gesprächs. In ihrem gesellschaftlichen Fortbestand und ihrer noch so bescheidenen, gewiss allemal vorläufigen und auf das immense Ganze der massenmedial überformten und sozialmedial verwilderten Rede- und Handlungswelt gesehen je und je inselhaft begrenzten Verwirklichung hat Gadamer – auch hierin Humanist – „die eigentliche Erhebung des Menschen zur Humanität“ gesehen.
Selbst an handfesten Verhandlungsgesprächen lasse sich das Prinzip dieser Erhebung begreifen: anhand der Gegenseitigkeit der Beteiligten nämlich und ihres zunächst rein formalen, durch den bloßen Eintritt in das Interaktionsformat selbst signalisierten Willens zur Erkundung von Ausgleichsund Einigungsmöglichkeiten. „Die Begegnung mit dem anderen erhebt selbst da über die eigene Begrenztheit, wo es nur um Dollars oder um Machtinteressen geht.“ Dass freilich die dialogische Transgression eigener Begrenztheit neben ihrer institutionellen oder quasi-institutionellen Außenseite – man setzt sich da und dort für die und die Zeit unter dieser oder jener Gesprächsagenda zusammen – eine epistemisch wie ethisch-praktisch anspruchsvolle Innenseite hat, dass Verhandlungsgespräche und mutatis mutandis alle Formen und Formate dialogischer Interaktion – vom wissenschaftlichen Fachgespräch bis zum politischen Streitgespräch – nur durch Personen, ihre Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen mit Sinn erfüllt und lebenspraktisch fruchtbar gemacht werden können, führt auf das vielleicht tiefste Thema der Gadamer’schen Philosophie des Gesprächs: auf das Erfordernis, sich im Umgang mit anderen allererst selbst gesprächsbereit und gesprächstauglich zu machen.
An der Spitze der ihrerseits mannigfachen Erfordernisse, die sich aus diesem basalen und gerade in seinem Subjektbezug objektiven Anspruch ergeben, steht nach Gadamer die Sachlichkeit: der elementare Sinn für das, was ist, was in Rede und auf dem Spiel steht. Im prosaischen Beispielfall wirtschaftlicher oder politischer Verhandlungen etwa „die wirklichen Interessen des anderen, die den eigenen Interessen entgegenstehen, und die doch, richtig wahrgenommen, vielleicht Möglichkeiten des Sich-Zusammenfindens enthalten“. An den Ergebnissen der Verhandlungskunst erfolgreicher Geschäftsleute und Politiker, die sogar „Barrikaden“ zu überwinden wussten, sei dies exemplarisch abzulesen.
Überwindung von Barrikaden und Blockierungen
Nun liegen allerdings Barrikaden, die dialogisch notwendiges Verstehen und ipso facto dialogische Verständigung verhindern, oft genug gar nicht in anderen, sondern in uns selbst. Ein universal taugliches Rezept für die Überwindung dieser inneren, sozusagen erstpersönlichen Barrikaden und Blockierungen gibt es bekanntlich nicht; und es findet sich auch bei Gadamer nicht. Vielmehr sind es durchaus altmodische, dabei gänzlich unveraltete Appelle an einschlägige Tugenden, die er an dieser Stelle in seine Überlegungen eintreten lässt: den Appell an Gerechtigkeit und Geduld, an Sympathie und Toleranz sowie an „das unbedingte Vertrauen auf die Vernunft, die unser aller Teil ist“.
Was dialogische Vernunft mindestens erheischt, hat Gadamer wiederum merksatzhaft bündig in die Kennzeichnung und Empfehlung einer metakommunikativen Haltung zusammengezogen, die man wohl ebenfalls als eine Tugend ansprechen darf, weil sie fallibilistisch und in diesem Sinne demütig mit der Möglichkeit rechnet, in Gesprächen gegen andere unrecht zu haben: „Wir müssen den Anderen und das Andere achten. Dazu gehört, wir müssen lernen, unrecht haben zu können.“
Damit wir gegen andere – ihre Wahrheits- und sonstigen Geltungsansprüche, ihre theoretischen Behauptungen oder praktischen Forderungen – unrecht haben können, müssen diese anderen freilich ihrerseits gegen uns recht haben und Recht erforderlichenfalls auch erlangen können. Dies wiederum heißt: Es müssen Verständigungsverhältnisse herrschen, in deren politischer Liberalität und intellektueller Solidität sie, die anderen, wirklich zu Wort (und nicht etwa nur zu Schlagworten oder digitalem Geschrei) kommen können; in denen sich die Artikulation ihrer Anliegen – ihre Argumente und weiter ausgreifenden Argumentationen – in Ruhe entfalten und alsdann auch in Ruhe von uns (oder dazu befugten Dritten) erwogen, sachgemäß geprüft und beurteilt werden kann; in denen Einwände oder Widerspruch, Ergänzung oder Zustimmung zum Zuge kommen können, um in geduldig fortgesetzten statt vorschnell abgebrochenen Gesprächen nach und nach zu einer gemeinsamen Sprache zu führen – und schließlich, wie Gadamer dies sehr schön mit einer juridisch getönten Metapher auszudrücken pflegte, auch zu einem gemeinsamen „Spruch“. Unter diesen heute alles andere als garantierten, von mancherlei technischen und sittlichen Faktoren bedrohten, doch noch immer erreichbaren Bedingungen können Gespräche, in denen Sprache belangvoll ist, humane Gespräche sein.
Carsten Dutt, geboren 1965 in Calw, Präsident der Hans-Georg-Gadamer-Gesellschaft für hermeneutische Philosophie, geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift „Archiv für Begriffsgeschichte“ und außerplanmäßiger Professor für Philosophie, Technische Universität Darmstadt.