Die 2020er-Jahre erleben einen doppelten, wenn nicht gar dreifachen Paradigmenwechsel – auf weltpolitischer wie auf politisch-kultureller Ebene. Der russische Krieg gegen die Ukraine ist Ausdruck eines neuen Ost-West-Konflikts zwischen einem revisionistischen globalen Osten, der auf die Aufteilung der Welt in Räume imperialer Vormacht setzt, und dem globalen Westen, der auf der liberalen Ordnung, der Integrität und der Gleichwertigkeit souveräner Staaten beruht. Dieser Paradigmenwechsel könnte eine neue Qualität erfahren, sollten sich die USA tatsächlich von der Norm der liberalen Ordnung verabschieden und sich als Vormacht der freien Welt zurückziehen. Dies wäre eine weltpolitische Wende, die nur mit dem amerikanischen Kriegseintritt von 1917 beziehungsweise dem Rückzug aus Europa nach 1920 vergleichbar wäre. Anstelle voreilig selbstgewisser Diagnosen empfiehlt sich allerdings, die Entwicklung in den USA zwar besorgt, aber vor allem differenziert zu verfolgen.
Zu diesem internationalen Paradigmenwechsel kommt ein politisch-kultureller hinzu, in dem die USA ebenfalls eine Schlüssel- und Vorreiterrolle spielen. Die Rede von J. D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 14. Februar 2025 hat keinen Zweifel gelassen, dass politisch-kulturelle Fragen kein Schaum auf der Welle sind, sondern die Tiefenströmung, auf der die Welle geht. Die 2010er-Jahre waren nicht nur in Deutschland von der kulturellen Hegemonie eines links-grünen Denkens geprägt, die sich vor allem auf den kontroversen Themenfeldern Klima und Energie, Migration und Integration, Gesellschaft und Diversität beziehungsweise Geschlecht und Sexualität niederschlug. Dem liegt die Überzeugung von Postkolonialisten, Klima- oder Queer-Aktivisten zugrunde, das freiheitlich-westliche Gesellschaftsmodell sei strukturell zerstörerisch und ungerecht, rassistisch und diskriminierend. Ihr Selbstverständnis als „Gemeinschaft der Vulnerablen“ setzt daher darauf, die bürgerliche Leistungsgesellschaft zu regulieren, einzuhegen und zu erziehen – vom Lieferkettengesetz über das Verbrennerverbot bis zur Gendersprache. Überhaupt spielt Sprache eine zentrale Rolle, indem sie als Instrument der Ausgrenzung kritisiert und zugleich praktiziert wird. Begriffe wie „Klimaleugner“ oder „Rassist“, „transphob“ oder „Schwurbler“ und allgemein: „Menschenfeind“ oder „rechts“ steckten den Rahmen des Sagbaren durch Ausschluss von Dissens ab.
Rechte Mitte oder rechts außen
2023 kippte die Hegemonie dieses Denkens. Mit dem Heizungsgesetz der Ampelregierung war die Grenze überschritten, an der die Zivilgesellschaft gegen staatliche Regulierung rebellierte. Nach dem Attentat der Hamas auf Israel am 7. Oktober und den Reaktionen unter Muslimen in Europa trat zudem das Problem des durch Migration importierten Antisemitismus an die Oberfläche. Und dann war es die Wiederwahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten im November 2024 unter der Devise „woke is broke“, die deutlich machte: Das Pendel in westlichen Gesellschaften schlägt nach rechts. Die entscheidende Frage ist nun, ob die rechte Mitte in der Lage ist, den Pendelschlag abzufangen, oder ob er nach rechts außen durchschlägt.
Vor diesem Hintergrund steht eine neue, unionsgeführte Bundesregierung vor drei geradezu historischen Herausforderungen. Die erste liegt in einem energischen Beitrag zu europäischer Handlungsfähigkeit durch deutsche Führung. Er fürchte deutsche Macht weniger als deutsche Untätigkeit, sagte der polnische Außenminister Radosław Sikorski bereits 2011. 2025 bedeutet dies, nach jahrelanger Vernachlässigung der Bundeswehr eine verlässliche deutsche Verteidigungskapazität herbeizuführen und europäische Führung im Benehmen mit Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Polen und Italien sowie der Europäischen Kommission zu leisten. Im Gegensatz zur Neigung der Europäischen Union, rhetorische Überambition mit tatsächlicher Unterperformanz zu verbinden, verlangt dies die Verbindung von selbstbewusstem Auftreten und der konsequenten Schaffung von – bislang nicht vorhandenen – Machtressourcen. Gegenüber den USA unter Donald Trump sollten Deutschland und Europa nicht mit pauschaler Zurückweisung und moralischer Überheblichkeit auftreten, sondern mit Offenheit für die Frage, wo die Regierung Trump einen Punkt hat und wie sie sich konstruktiv adressieren lässt.
Die zweite Herausforderung liegt in der Einlösung eines echten Politikwechsels. Dazu gehört eine konsequente Senkung der Energiekosten, die nur durch eine Wende der Energiewende herbeizuführen ist. Die deutsche Trias „alles elektrisch, alles aus Erneuerbaren, keine Kernenergie“ funktioniert nicht. Funktionieren würde eine marktwirtschaftliche, technologieoffene und international abgestimmte Klima- und Energiepolitik mit ambitionierten, aber realistischen Zielen, die auf eine Trias aus Mobilisierung von Ressourcen (einschließlich Kernenergie), Bezahlbarkeit von Energie und globaler Reduktion von Emissionen setzt. Der Emissionshandel steht als Alternative zu Subventionen und Verboten sowie dem Ziel einer nationalen Klimaneutralität zur Verfügung, das horrende Kosten erzeugt und nur unverhältnismäßigen Nutzen erbringt.
Verwirrung der Begriffe in der Migrationspolitik
Dies wäre ein ordnungspolitisches Vorgehen, wie es das deutsche Modell stark gemacht hat. Dabei war die Soziale Marktwirtschaft schon immer Gegenstand der Abwägung zwischen wirtschaftlicher Dynamik und sozialem Ausgleich. Jetzt verlangt die strukturelle Krise der Gegenwart Reformen, mit denen die Priorität auf das Erwirtschaften und seine nachhaltige Sicherung, nicht auf das Verteilen gelegt wird. Das „Bürgergeld“ bedeutete demgegenüber allein schon auf sprachlicher Ebene die Verkehrung des Bürgers zum Transferempfänger.
Auch in der Migrationspolitik bedeutet Ordnungspolitik, überhaupt Ordnung in die Verwirrung der Begriffe zu bringen, die Teil des Problems ist. Denn unklar ist stets: Ist „Migration“ der Oberbegriff für unterschiedliche Formen der Wanderung, oder ist „Migration“ als geplante Einwanderung das begriffliche Pendant zu „Flucht“? Beides folgt jedenfalls ganz unterschiedlichen Logiken: die Flucht dem Schutzanspruch des Flüchtenden, die Einwanderung dem Personalbedarf der Aufnahmegesellschaft. Statt beides dysfunktional zu vermischen, wie es seit über zehn Jahren der Fall ist, muss die Maßgabe in einer konsequenten Unterscheidung liegen: der Konzentration auf die wirklich Schutzbedürftigen auf der einen Seite, klaren und attraktiven Regeln für qualifizierte Einwanderung auf der anderen – möglichst auf europäischer Ebene, und wenn das nicht funktioniert, dann auf nationaler. Zugleich bedarf die Gesellschaft, gerade die Gesellschaft eines Einwanderungslandes, verbindlicher Grundlagen, die über Recht und Gesetz hinausgehen, um zu funktionieren. Sprachliche Verständigungsfähigkeit, Dialogbereitschaft statt Wahrheitsanmaßung, Faktentreue statt Fake News oder die Akzeptanz von Vielfalt – diese Erwartungen an Einstellungen und Verhalten der Bürger im Umgang miteinander benennen Spielregeln einer offenen Gesellschaft, die für alle gelten, statt zwischen „uns“ und „denen“ zu unterscheiden. Ronald Reagan brachte das ins Bild von der „leuchtenden Stadt auf dem Berg“, deren Tore allen offenstehen, die mit dem Willen und dem Herzen dazugehören wollen – die offene Gesellschaft mit klaren Grenzen.
Toleranz statt Bekenntniszwang
Hier liegen die große Chance und die dritte Herausforderung einer konservativen Gesellschaftspolitik: Kulturkämpfe anzuerkennen, um sie zu überwinden. Diskurs und Augenhöhe ohne Ausgrenzung sind die notwendigen Voraussetzungen einer konservativen Gesellschaftspolitik, die sich bewusst ist, wie sehr auch der Gegenschlag nach rechts weiter spaltet. Sie vermeidet eine Tyrannei der Mehrheit ebenso wie die Verachtung einer tonangebenden Minderheit für die Mehrheit. Sie setzt auf Toleranz, ohne Bekenntnisse zu erzwingen. Sie sichert Minderheitenrechte, ohne die Standards von Minderheiten zur Norm für die Mehrheit zu erheben. Und sie achtet die Traditionen und die Kultur der Mehrheitsgesellschaft, deren Grundlagen sie aktiv schützt.
Die offene Gesellschaft beruht auf den Qualifikationen, der Arbeit und dem freien Willen ihrer Bürger. Anstelle quotierender Diversität setzt eine reformkonservative Gesellschaftspolitik auf einen Pluralismus, der auf der Vielfalt der Individuen, ihrer Talente und ihrer freien Entscheidungen beruht und auf dieser Grundlage auch Ungleichheit begrüßt. Ihr Ziel ist nicht neuständische Gleichstellung, sondern Gleichberechtigung und Chancengerechtigkeit. Hier könnte eine umfassende gesellschaftspolitische Offensive ansetzen, die Bildungs- und Familienpolitik, Gesellschaft und Demografie zusammendenkt, wo alle Reformen der letzten Jahrzehnte in Teilbereiche zerfallen sind. Eine Offensive für Bildung und Qualifikation zielt auf „echte Chancen“ (Amartya Sen) für diejenigen, an denen die bestehenden formalen Chancen vorbeigehen. Eine proaktive staatliche Chancenpolitik müsste darauf zielen, systematisch Zugangsbarrieren zu überwinden und Selbstverantwortung zu ermöglichen, um die bundesdeutschen Bildungsreformen und die Erfolgsgeschichte vom Aufstieg durch Bildung in die Bedingungen der 2020erJahre zu übersetzen. Dazu gehört auch eine Familienpolitik, die sich an den Bedürfnissen der Familien zwischen Erwerbstätigkeit, Kindererziehung und Care-Arbeit orientiert und zugleich die Verantwortlichkeiten zwischen Staat und Familien wieder neu justiert.
Der amerikanische Diplomat George F. Kennan schrieb in seinem berühmten „Langen Telegramm“ vom Februar 1946 im Übergang zum ersten Ost-West-Konflikt aus Moskau nach Washington, der Westen könne diese Systemauseinandersetzung nur durch Stärke nach außen, nicht weniger aber auch durch Stärke von innen bestehen: ein „positives und konstruktives Leitbild“ sowie „Prosperität und Lebenskraft unserer eigenen Gesellschaft“. Jede selbstbewusste Maßnahme zur Lösung interner Probleme sei „ein diplomatischer Sieg über Moskau“. Kennans Analyse hat auch 2025 nichts von ihrer Aktualität verloren – mit der Ausnahme, dass die westlichen Gesellschaften ihr „positives und konstruktives Leitbild“ selbst infrage stellen.
Die Idee des Westens neu zu beleben, ist das Gebot der Stunde für Deutschland und Europa, gegen die Herausforderungen von links und rechts, im Innern und nach außen. Europa muss nach über dreißig Jahren fruchtloser Debatten endlich Verantwortung für sich selbst und die westlichen Werte übernehmen – durch Stärke nach außen und nicht minder durch Stärke von innen. Das ist eine Aufgabe von historischen Dimensionen, zumal es um beides nicht gut steht. Aber Geschichte vollzieht sich nicht einfach, sondern sie wird gemacht. Wie hatte Radosław Sikorski gesagt: Er fürchte deutsche Macht weniger als deutsche Untätigkeit. Eine konservative Reformpolitik, die Kulturkämpfe überwindet, die offene Gesellschaft selbstbewusst mit neuem Leben erfüllt und die kraftvoll Führungsverantwortung in Europa übernimmt, könnte die Antwort sein.
Andreas Rödder, geboren 1967 in Wissen (Sieg), Professor für Neueste Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mitglied des Vorstands der Konrad-Adenauer-Stiftung, Leiter der „Denkfabrik Republik 21 für neue bürgerliche Politik“ und Mitglied der CDU.