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von Philipp Dienstbier

Deutschland benötigt eine neue (strategische) Kultur

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Manch einer mag sich verwundert die Augen gerieben haben, als Olaf Scholz in seiner Rede drei Tage nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine vor dem Deutschen Bundestag einen grundlegenden Kurswechsel in der deutschen Sicherheitspolitik verkündete und mit dem Versprechen aufwartete, eine „leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr“ aufbauen zu wollen. Der Bundeskanzler beendete im gleichen Atemzug die jahrelang schwelenden politischen Debatten um die Ausstattung der Bundeswehr, indem er umstrittene Richtungsentscheidungen ankündigte – etwa die Verteidigungsausgaben über zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu heben oder die nukleare Teilhabe durch die Beschaffung amerikanischer F-35-Kampfflugzeuge fortzuführen.

Fast konnte man den Eindruck gewinnen, die neue Bundesregierung, allen voran ihr Bundeskanzler mit dem avisierten 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögen, sei durch den Angriffskrieg Russlands mitten in Europa geläutert und entschlossen, endlich den großen Wurf in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu wagen. Doch nach der ersten Euphorie über die von Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“, den anfänglichen Vergleichen mit dem Erbe Helmut Schmidts und dem Staunen über einen scheinbaren strategischen Sinneswandel waren die folgenden Kriegsmonate durch Zögerlichkeit und Mutlosigkeit geprägt.

Während Bündnispartner, allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika, die Ukraine mit „schweren Waffen“ unterstützten, sträubte sich Deutschland so lange dagegen, bis es nicht mehr anders ging und auch Deutschland liefern musste. Vom Bundeskanzler bis zur Verteidigungsministerin weigerte sich die Bundesregierung zudem auf groteske Art und Weise, öffentlich zu sagen, die Ukraine müsse den Krieg gewinnen. Und schließlich blieb Berlin auch bei Absprachen zur Verstärkung der NATO-Ostflanke ein weiteres Mal am unteren Rand dessen, was Verbündete von einem gewichtigen Mitglied wie Deutschland erwarten. Es scheint mitunter, als gebe es seit dem 27. Februar 2022 zwar mehr Geld, aber nicht unbedingt mehr Willen in der deutschen Politik, um eine echte „Zeitenwende“ einzuläuten.

Der nötige Wandel in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird sich nur dann vollziehen, wenn auch eine „Zeitenwende“ in der grundlegenden Haltung und Denkweise, dem Mindset, gelingt. Deutschlands strategische Neuaufstellung ist keine finanzpolitische Verteilungsübung, die mit einem Schattenhaushalt abgegolten werden kann, sondern eine grundlegende Mentalitätsfrage. Wer eine „Zeitenwende“ proklamiert, muss zu einem umfassenden Umdenken bereit sein, das mit der Politik und deutschen Entscheidungsträgern in höchsten Ämtern beginnen und über die „Berliner Blase“ hinaus in die Gesellschaft ausstrahlen muss.

Nach Jahrzehnten einer gemütlich daherkommenden Strategielosigkeit, die sich auf das Einlösen einer Friedensdividende beschränkte und unbequeme Themen – von nuklearer Abschreckung bis hin zu Terrorismusbekämpfung – den USA überließ, benötigt Deutschland nun das, was für unsere Partner von Warschau über Paris bis Washington bereits eine Selbstverständlichkeit ist: eine strategische Kultur. Ohne sie wird die „Zeitenwende“ des Bundeskanzlers ins Leere laufen und außer enttäuschten Erwartungen kaum nachhaltige Veränderungen zurücklassen.

 

„Lebenslüge“ ausräumen

 

Ausgangspunkt einer strategischen Kultur muss erstens die Aufarbeitung der Versäumnisse der Vergangenheit sein. Wenn sogar grüne Politiker inzwischen verkünden, der radikale Pazifismus sei gescheitert, darf sich Deutschland nicht länger der Erkenntnis verweigern, dass die hierzulande zelebrierte Kultur der militärischen Zurückhaltung in ihrer Extremform Autokraten weltweit zu Gewalt und Aggression einlädt.

Die Lebenslüge, dass Deeskalation und Diplomatie allein geeignet seien, um Kriege zu verhindern und Frieden zu sichern, muss ein für alle Mal ausgeräumt werden. Anstatt die deutsche Geschichte als Feigenblatt für die eigene sicherheitspolitische Unwilligkeit zu missbrauchen, sollte der Blick in die eigene Vergangenheit lehren, dass Diktatoren durch Zurückhaltung und Konzessionen zur Aggression eingeladen und Angriffe auf freie und friedliche Gesellschaften meist nur mit militärischer Stärke zurückgeschlagen werden können.

 

Die Sprache der Macht

 

Zweites Kernelement einer strategischen Kultur ist es, die weltweite Bedrohungslage ernst zu nehmen und die realpolitischen Spielregeln der internationalen Beziehungen nicht zu legitimieren, aber als Realität anzuerkennen. Dass Wladimir Putins wahre Intentionen und die sukzessiven Schritte zur Kriegsvorbereitung trotz Warnungen nicht erkannt wurden, lag nicht zuletzt an der in Deutschland verbreiteten Illusion, dass nicht sein könne, was nicht sein dürfe. Die Wahrheit ist aber, dass militärische Gewalt und Krieg längst wieder auf die internationale Bühne zurückgekehrt sind. Machtpolitik, Abschreckung und Eindämmung prägen die Spielregeln der aufkeimenden globalen Großmachtrivalitäten. Statt dies weiterhin zu verkennen, müssen die deutsche Politik und Öffentlichkeit ihre angelernten Reflexe, hinter jeder Bedrohungsanalyse stets nur grundlose Panikmache zu erkennen und jedem, der für militärische Stärke plädiert, Kriegstreiberei zu unterstellen, ablegen.

Drittens sollte die daraus abgeleitete Schlussfolgerung sein, dass Deutschland und die internationale Gemeinschaft der Demokratien nur dann bestehen, wenn sie sich in Zeiten internationaler Systemkonkurrenz gegen die autokratische Bedrohung auch behaupten können. Unsere Freiheit und unser Wohlstand sind nicht möglich ohne Frieden, Stabilität und eine regelbasierte internationale Ordnung. Wenn das Fundament unserer liberalen, demokratischen Gesellschaft angegriffen und internationales Recht mit Füßen getreten wird, ist es in unserem ureigenen Interesse, dieses zu verteidigen. Dazu gehört, die Sprache der Macht zu sprechen, wenn dies gefordert ist, und denen, die mit Gewalt ihre Interessen durchsetzen, mit Härte – auch mit militärischer Härte – zu begegnen.

Eine strategische Kultur muss Abschreckung und Verteidigung als politische Grundaufgabe begreifen und auch wieder internalisieren. Das heißt, dass sich die deutsche Öffentlichkeit mental wieder auf Krieg einstellen muss, um abzuschrecken, frei nach dem Grundsatz Si vis pacem para bellum – nur wer auf den Krieg vorbereitet ist, kann den Frieden sichern.

 

Realistisches Soldatenbild

 

Nur wenn wir sämtlichen Potentaten weltweit glaubhaft machen können, dass wir im Zweifel auch bereit wären, den Kampf aufzunehmen, werden wir sie von dem Einsatz von Gewalt abschrecken und dafür sorgen, dass es tatsächlich nie zum Ernstfall kommt.

In dieser Überlegung liegt der Daseinszweck von Streitkräften in demokratischen Staaten begründet. Dies muss sich auch in einem realistischen Soldatenbild widerspiegeln. Dass die Bundeswehr in Stabilisierungsoperationen unterstützt, bei der Pandemiebekämpfung eingesetzt wird oder in Naturkatastrophen hilft, ist gut und wichtig. Dies darf jedoch nicht den Blick darauf verstellen, dass der Kernauftrag des Militärs darin besteht, sich im Gefecht zu behaupten und den Sieg zu erkämpfen. In letzter Konsequenz bedeutet das nichts Geringeres als legitime Gewalt auszuüben, auch unter Einsatz des eigenen Lebens. So unbequem diese Wahrheit auch sein mag – nur, wenn die Regierung dieses Verständnis wieder in Politik, Militär und Gesellschaft verankert, kann die Bundeswehr Landes- und Bündnisverteidigung angemessen gewährleisten.

Nach Jahrzehnten der sicherheitspolitischen Entfremdung wird sich eine neue strategische Kultur nicht einfach von selbst etablieren. Umfragen zeigen jedoch, dass seit dem Kriegsausbruch in der deutschen Öffentlichkeit ein, wenn auch teils zaghaftes, Umdenken stattgefunden hat. War die Unterstützung für amerikanische Atomwaffen in Deutschland beispielsweise vor nicht allzu langer Zeit kaum noch im zweistelligen Prozentbereich, steht heute etwa die Hälfte der Deutschen hinter deren Stationierung. Dies zeigt, dass viele Bürger ein gutes Einfühlungsvermögen in die sicherheitspolitischen Realitäten haben. Die deutsche Politik selbst hinkt hingegen in diesem Punkt hinterher. Doch letztendlich ist es gerade politischer Führungswille, der notwendig ist, um das bisher Dargestellte zu vermitteln und umzusetzen.

Im Nachgang des russischen Überfalls auf die Ukraine hat die Bereitschaft der Politik, sich der strategischen Debatte zu stellen, zwar in Teilen zugenommen. Dass die Außenministerin den Sommer über durch Deutschland reiste, um die im Entwurf befindliche Nationale Sicherheitsstrategie zu erklären und zu debattieren, ist ein guter Schritt. Tatsächlich kann eine Nationale Sicherheitsstrategie auch als Nukleus für die Etablierung einer strategischen Kultur fungieren. Sie bietet Chancen, mit der Gesellschaft über die Themen Sicherheit und Verteidigung ins Gespräch zu kommen und strategische Grundzüge zu erläutern.

 

Verantwortung für die kulturelle „Zeitenwende“

 

Und doch wird sich eine strategische Kultur nur dann etablieren, wenn diese auch zur Chefsache gemacht wird. Bereits bei den vergangenen Bundesregierungen scheiterte es oftmals an dem Desinteresse der politischen Spitze. Dass 2014 der „Münchner Konsens“, Deutschland müsse sich früher, entschiedener und substanzieller außen- und sicherheitspolitisch engagieren, vom Bundespräsidenten, von der Verteidigungsministerin und dem Außenminister, nicht aber der Bundeskanzlerin verkündet wurde, ist bezeichnend. Auch jetzt wäre Olaf Scholz persönlich gefordert, die „Zeitenwende“ im Mindset selbst anzuführen und auch sein persönliches Schicksal damit zu verknüpfen, statt seine Außenministerin vorzuschicken.

Politische Führung ist unabdingbar, um in Politik und Gesellschaft einen strategischen Wandel durchzusetzen, und nicht zuletzt Spitzenpersonal, das auch bereit ist, politisches Kapital für das Gelingen des Projektes einzusetzen. So banal es klingen mag – ohne dass die Politik an ihrer Spitze die Verantwortung für eine kulturelle „Zeitenwende“ übernimmt, wird Deutschland weiterhin in strategischer Kulturlosigkeit verharren.

 

Philipp Dienstbier, geboren 1990 in Bayreuth, Referent Transatlantische Beziehungen, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

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