TikTok ist für Millionen Jugendliche täglicher Begleiter. Längst ist die Plattform jedoch nicht mehr nur ein Ort für Tanzvideos, Lifehacks und Comedy-Clips, sondern auch zu einem Einfallstor für Extremisten geworden. Zwischen harmlosen Inhalten gibt es Botschaften, die brandgefährlich sind. Extremisten werben um Zustimmung, verbreiten ihre Ideologien und diffamieren unsere Demokratie. Sie säen Hass und versuchen, unsere Gesellschaft zu spalten. Sie präsentieren die Welt in Schwarz und Weiß, in Freund und Feind, in Gut und Böse.
Das besonders Gefährliche daran ist, dass sie ein Publikum in einem Alter erreichen, das verletzlich ist. Jugendliche, die noch nicht Auto fahren oder wählen dürfen, konsumieren Inhalte, die sie in eine digitale Echokammer für Grenzüberschreitendes zieht. Die Fähigkeit, Manipulation zu erkennen und Inhalte kritisch zu hinterfragen, ist oft noch nicht ausreichend vorhanden. Was früher Flugblätter und konspirative Treffen waren, ist heute ein perfektionierter Algorithmus, der Jugendliche mit maßgeschneiderten Kurzvideos rund um die Uhr bespielt.
Neuer Motor für alte Ideologien
Extremismus stellt auch heute noch die größte Bedrohung für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung dar. Ob religiös, politisch oder ideologisch motiviert – Extremisten eint das Ziel, unsere Demokratie zu schwächen und durch autoritäre oder totalitäre Systeme zu ersetzen. Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen beobachtet seit Jahren, dass sich extremistische Propaganda mehr und mehr in den digitalen Raum verlagert. TikTok spielt dabei eine besondere Rolle, indem es dafür sorgt, dass sich die Inhalte in Hochgeschwindigkeit verbreiten. Extremisten wissen das für sich zu nutzen. Islamistische Prediger inszenieren sich als kumpelhafte Ratgeber, geben Tipps für Styling oder Beziehungen, streuen zugleich ihre Botschaften.
Neonazistische Gruppen locken Jugendliche in Chatgruppen, wo zunächst Freizeitaktivitäten verabredet werden, ehe schrittweise die eigentliche Ideologie mitgegeben wird. An erster Stelle sind beispielsweise Gruppierungen wie „Jung & Stark“ oder „Deutsche Jugend voran“, die sich zunächst digital vernetzen und später in der realen Welt um die Häuser ziehen. TikTok selbst ist dabei kein neutraler Vermittler, sondern ein Verstärker. Der Algorithmus merkt sich jedes Klickverhalten. Wer ein Video etwas länger ansieht, erhält künftig Inhalte, die den vorherigen ähnlich sind. So entsteht eine Spirale, die Aufmerksamkeit bindet und zugleich einen perfekten Nährboden für Radikalisierung bietet. Der Weg von subtil gestreuter Ideologie bis zu offenen Gewaltaufrufen kann wenige Klicks entfernt sein.
In einer digitalen Welt, in der Meinungen und Fakten auf den ersten Blick gleichwertig nebeneinanderstehen, fällt es besonders Jugendlichen schwer, Propaganda von seriösen Informationen zu unterscheiden. Hinzu kommt, dass die mit Künstlicher Intelligenz erstellten Videos den Extremisten neue Möglichkeiten eröffnen. Ihre Propaganda lässt sich damit täuschend echt und massenwirksamer verbreiten. So verschwimmen auf TikTok immer stärker die Grenzen zwischen harmloser Unterhaltung und gefährlicher Manipulation. TikTok wird so zu einem neuen Motor für alte Ideologien.
TikTok ist jugendaffin Schätzungen zufolge sind über siebzig Prozent der Internetnutzerinnen und -nutzer im Alter von 16 bis 19 Jahren auf der Plattform unterwegs. Diese jungen Menschen befinden sich in einer Lebensphase, in der sie noch auf der Suche nach Orientierung, Zugehörigkeit und klaren Antworten sind. Sich auszutesten, sich vom Üblichen abzugrenzen und Grenzen zu überschreiten, gehört entwicklungspsychologisch dazu und ist so gesehen ganz normal. Fragen wie „Wo gehöre ich hin?“ oder „Was ist mir wichtig?“ prägen jede Teenagerzeit. Extremisten kennen diese Bedürfnisse. Mit einfachen Botschaften, emotionalen Triggern und dem Versprechen, Teil von etwas Besonderem zu sein, bauen sie Vertrauen auf.
Gefährdung der psychischen Gesundheit
Studien bestätigen diese Verwundbarkeit. Die Nationale Akademie der Wissenschaften veröffentlichte kürzlich ein Diskussionspapier zur Frage, wie soziale Medien die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen beeinflussen. Die Wissenschaftler warnen vor den Risiken sozialer Medien für Kinder und Jugendliche. Die immer jünger werdenden Nutzer verbrächten immer mehr Zeit in den sozialen Medien. Die Wissenschaftler empfehlen eine Altersgrenze: unter 13 Jahren keine eigenen Accounts, zwischen 13 und 15 Jahren nur mit Zustimmung der Eltern, bis 17 Jahre mit altersgerechten Einschränkungen. Suchterzeugende Funktionen wie endloses Scrollen, Push-Nachrichten oder personalisierte Werbung sollen verboten werden. Laut DAK Mediensucht-Studie 2024 verbringen 10- bis 17-Jährige unter der Woche im Durchschnitt etwa 157 Minuten am Tag in sozialen Medien, am Wochenende sind es 227 Minuten – fast vier Stunden. Mehr als ein Viertel der 10- bis 17-Jährigen zeigten einen riskanten oder sogar krankhaften Umgang mit digitalen Medien.
Dabei raubt ihnen doch gerade das Starren auf das Smartphone die Zeit, die für ihre Entwicklung so wertvoll ist: für Hobbys, Freundschaften und andere soziale Kontakte. Die Zeit fehlt aber auch dafür, Kompetenzen zu erlernen, die für das gesellschaftliche Leben so wichtig sind: sich von Angesicht zu Angesicht mit Gleichaltrigen zu streiten und Meinungen zuzulassen, die nicht die eigenen sind. Soziale Grundkompetenzen entstehen im Miteinander, nicht anonym mit dem Handy in der Hand. Wer in einer digitalen Echokammer ohne Grenzen sozialisiert wird, trägt das, was ihn dort prägt, ins Erwachsenenalter hinein – und das mit gravierenden Folgen für unsere Gesellschaft.
Die Konsequenzen sind real. Die Sicherheitsbehörden haben immer öfter mit Jugendlichen zu tun, die schon Erschreckendes im Kopf haben. Ende März 2024 planten ein 16-jähriges Mädchen aus Düsseldorf und ein 17-jähriges Mädchen aus Iserlohn zusammen mit einem 15-jährigen Jungen aus Lippstadt, Kirchen und Synagogen zu attackieren. Das Landgericht Düsseldorf hat die drei Jugendlichen wegen Terroranschlagsplänen zu jeweils drei Jahren Jugendhaft verurteilt. Die jungen Menschen haben sich durch Propaganda des Islamischen Staates über soziale Medien radikalisiert und sind dort in extremistische Kreise geraten. Daran sehen wir, dass das, was im Netz entsteht, offline weitergehen kann.
Altersgrenzen und wirksame Altersverifikation
Endlose Bildschirmzeit in sozialen Medien tut unseren Kindern nicht gut. Deshalb müssen wir sie schützen. Das heißt auch, dass wir nicht mit Denkverboten in diese Diskussion einsteigen dürfen. Wir müssen über den Umgang mit sozialen Medien und auch mit TikTok reden.
Kinder dürfen auch nicht jeden Film im Kino anschauen. Warum dürfen sie alle Clips auf TikTok sehen? Und warum darf sich dort jeder anmelden, der ein Smartphone hat? Wir sollten den Zugang für Kinder und Jugendliche zu den sozialen Medien stärker begrenzen und den Hinweisen aus der Forschung wie zum Beispiel der Leopoldina mehr Gehör schenken. Eine Altersgrenze und eine wirksame Altersverifikation für soziale Medien können Wege sein, den Einfluss dieser Plattformen auf unseren Nachwuchs zu reduzieren.
Freiwillige Selbstverpflichtungen der Plattformen reichen nicht aus. Wer behauptet, dass man dies ohne Regulierung erreichen könne, irrt. Und dass Regulierung nicht im Sinne der Betreiber ist, leuchtet ein. Denn diese profitieren mehr von Werbeeinnahmen als vom Schutz junger Menschen. Natürlich existieren auch auf TikTok Regeln. Die Plattform hat Community-Guidelines, setzt durch Künstliche Intelligenz gestützte Moderation ein und sperrt bei Verstößen Accounts. In Deutschland greifen das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und das Jugendschutzgesetz. Doch die Praxis zeigt: Inhalte bleiben oft lange online, werden unterhalb der Strafbarkeitsgrenze formuliert oder tauchen in leicht veränderter Form sofort wieder auf. Wichtig ist, dass wir die Betreiber stärker in die Pflicht nehmen. Extremistische Inhalte müssen konsequent gelöscht und Accounts, die Radikalisierung befördern, gesperrt werden.
Wir müssen aber auch die Rahmenbedingungen nachschärfen, in denen sich soziale Medien bewegen. So selbstverständlich wie Alterskontrollen beim Kauf von Alkohol oder beim Glücksspiel sollte auch eine Altersverifikation bei der Anmeldung zu sozialen Medien sein. Wir sollten ernsthafter über ein Social-Media-Mindestalter diskutieren.
Nicht weniger wichtig ist Prävention. Wir müssen unsere Kinder und Jugendlichen frühzeitig medienstark machen. Und zwar genauso früh, wie wir ihnen erlauben, ein Smartphone zu besitzen. Das heißt: Wir müssen Medienkompetenz fördern, zu Hause und in der Schule. Wir dürfen Kinder von Anfang an nicht unbeobachtet lassen, sondern müssen ihnen über die Schulter schauen. Wem folgt mein Kind bei TikTok? Mit wem chattet es noch spät in der Nacht?
Demokratie unter Druck
Wer heute in der Gunst der nachfolgenden Generation steht und die Aufmerksamkeit junger Menschen kontrolliert, prägt die politischen Grundhaltungen von morgen. Deshalb ist der Umgang mit TikTok und sozialen Medien heute nicht nur eine Frage des Jugendschutzes, sondern auch eine Frage von Resilienz und Wehrhaftigkeit unserer Demokratie. Der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen dokumentiert, wie in sozialen Medien gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung Stimmung gemacht wird. Wenn solche Haltungen Millionen junger Menschen ungestört erreichen, gefährdet das das Fundament unserer Gesellschaft.
Unsere Sicherheitsbehörden versuchen alles, was in ihrer Macht steht, um Extremismus zu bekämpfen. Dazu gehört Aufklärung genauso wie Prävention. Aber digitale Radikalisierung ist nicht nur allein ein Thema der Sicherheitsbehörden, sondern aller gesellschaftlichen Akteure. Auch im Netz müssen wir unsere demokratischen Werte verteidigen und dafür sorgen, dass Extremisten dort nicht ungefilterten Zugang zu den Köpfen unseres Nachwuchses haben. Passiv zu bleiben, die Meinungsbildung einer ganzen Generation jenen zu überlassen, die auf unsere Demokratie schimpfen, ist für uns alle gefährlich. Jugendschutz ist unsere ist demokratische Pflicht.
Ebenso, wie wir Minderjährige vor Alkohol, Glücksspiel oder Pornographie schützen, müssen wir sie vor digitalen Gefahren bewahren, die ihre psychische Gesundheit und ihre demokratische Haltung bedrohen. Der Schutz von Kindern und Jugendlichen im Netz ist keine parteipolitische Frage, sondern eine gesamtgesellschaftliche Pflicht.
Herbert Reul, geboren 1952 in Langenfeld (Rheinland), 1991 bis 2003 Generalsekretär der CDU Nordrhein-Westfalen, 2004 bis 2017 Mitglied des Europäischen Parlaments, 2012 bis 2017 Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Europäischen Parlament, Mitglied des Landtags Nordrhein-Westfalen, seit 2017 Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen.